6. Wieder unterwegs Gegen Todesstrafe, für Drogenregularisierung

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Ruth Dreifuss bei der Gründung der Internationalen Kommission gegen die Todesstrafe in Madrid, 2010
«Eine gute Gruppe»: Ruth Dreifuss bei der Gründung der Internationalen Kommission gegen die Todesstrafe in Madrid, 2010. Foto: Edouard Rieben

Über zwanzig Jahre ist es her, dass Ruth Dreifuss aus dem Bundesrat ausschied. Von der Bildfläche verschwunden ist sie in dieser Zeit keineswegs – «Mission Unruhestand» nannte das SRF ihr Engagement einmal. Und so, wie ihr Amt als Innenministerin sie mit den sozialen Problemen der Schweiz konfrontierte, widmet sie sich seither wieder jenen der Welt. Von einem Tag auf den anderen habe sie nach ihrem Rücktritt aus dem Bundesrat 2002 den Modus gewechselt: «Als hätte ich meine alten Hausschuhe wiedergefunden.» Zwischendurch Bundesrätin, anschliessend weitermachen wie gehabt. Historiker Tanner formuliert es so: «Dreifuss hat ihre Bundesratstätigkeit kulturell kapitalisiert: Mit der Haltung von damals mischt sie sich weiter ein, gibt wichtige Voten ab, bezieht Position.»

In den nuller Jahren wird an einem Kongress in Genf die Idee einer internationalen Kommission für die Abschaffung der Todesstrafe geboren. Aussenministerin Micheline Calmy-Rey schlägt Dreifuss als Mitglied im Gremium vor, das sich 2010 konstituiert und in dem Dreifuss bis heute als Vizepräsidentin amtet. «Ich habe einen Ort gefunden, wo ich mich weiter gegen die Todesstrafe einsetzen kann, diesmal nicht mit meinem Briefpapier, sondern mit meinem Namen.» Gemeinsam mit ihr leisten achtzehn prominente Persönlichkeiten diesen Einsatz – von Michelle Bachelet, der ehemaligen chilenischen Uno-Menschenrechtskommissarin, über den indonesischen Generalstaatsanwalt Marzuki Darusman bis zu Dannel Malloy, dem ehemaligen Gouverneur des US-Bundesstaats Connecticut. Ein grosser Teil der Mitglieder hat in seiner politischen Zuständigkeit die Todesstrafe abgeschafft. «Wir sind eine gute Gruppe», sagt Dreifuss.

Ihre Kommissionstätigkeit beschreibt sie in diplomatischen Tönen: «Es geht darum, Ländern zu helfen, nötige Schritte in Richtung einer Abschaffung der Todesstrafe zu unternehmen. Aber auch darum, Brücken zu bauen zwischen Staat und Zivilgesellschaft.» Eine ihrer ersten Reisen führt Dreifuss in die ehemalige niederländische Kolonie Suriname. Dabei gelingt es ihr, eine Audienz beim Justizminister zu erhalten. Auf ihren Besuch folgen Seminare mit Richterinnen, Anwälten und Parlamentarier:innen. 2015 schafft Suriname die Todesstrafe ab, auch viele andere Länder gehen diesen Weg: 113 Länder haben sie komplett abgeschafft, 32 weitere zumindest in der Praxis. «Es ist eine kleine, blutrünstige Minderheit, die weiter hinrichtet», sagt Dreifuss. «Es gibt noch viel zu tun.»

Gemäss Amnesty International wurden 2024 insgesamt 1500 Menschen in fünfzehn Ländern hingerichtet. China ist nach wie vor das Land mit den meisten Vollstreckungen, gefolgt vom Iran, Saudi-Arabien, dem Irak und dem Jemen. Aber auch in den USA wird wieder mehr hingerichtet. Oft werde die Todesstrafe dazu verwendet, Proteste zu unterdrücken und dissidente Stimmen zum Schweigen zu bringen, schreibt die NGO in ihrem Jahresbericht. Mehr als vierzig Prozent der Hinrichtungen ständen mit Drogendelikten in Zusammenhang.

Es sind ganz grundsätzliche Überlegungen, die Ruth Dreifuss zur Kämpferin gegen die Todesstrafe machen: dass der Staat keine Rache ausüben darf, sondern Gerechtigkeit für Opfer und Täter garantieren muss. Dass das Leben das höchste Gut, das erste Menschenrecht jenes auf Leben ist. «Dass der Staat Leben nehmen kann, ist eine Idee, die ich seit meiner Kindheit, seit der Beschäftigung mit dem Holocaust verabscheue», sagt Dreifuss.

Während der Kampf gegen die Todesstrafe ihren Idealen folgt, ist ihr zweites grosses Betätigungsfeld heute eines, in das sie einst qua ihres Amtes hineingerutscht ist: Als Innenministerin ist sie auch für die Drogenpolitik der Schweiz zuständig. Damals, zu Beginn der neunziger Jahre, bevor Dreifuss ihr Amt antritt, gibt es in Zürich die wohl grösste Drogenszene Europas – Hunderte Tote, Tausende Süchtige, ein unvorstellbares Elend. Oder, wie sich der Zürcher Arzt David Winizki erinnert: «Es war ein Horror damals, ‹Aids› noch ein Panikwort. Immer umwehte eine Todesgefahr die Szenerie.»

Aus diesem Elend heraus entsteht unter Dreifuss die «Vier-Säulen-Politik». Sie vereint Prävention, Therapie, Schadensminderung und Repression und gilt bis heute international als pionierhaft. Die treibende Kraft sei aber eine «Bewegung von unten» gewesen, von Ärztinnen, Sozialarbeitern und Verwandten der Süchtigen, ist es Dreifuss wichtig zu betonen. Diese Bewegung habe sie vom Bund aus unterstützt – indem sie die Kantone dazu brachte, den Städten Freiraum im Umgang mit dem Problem zu lassen, und den Austausch zwischen den Staatsebenen organisierte. Die grosse Innovation damals ist die Einrichtung überwachter Konsumräume, der sogenannten Fixerstübli, in denen saubere Spritzen verteilt werden, dazu die kontrollierte Heroinabgabe und Stellen, bei denen Konsument:innen ihre Drogen testen können. «Sie hat uns den Rücken freigehalten, ohne dass wir das gemerkt haben», sagt Winizki, der Arzt.

Gegen die progressive Politik regt sich auch Widerstand. Medien bezeichnen Dreifuss wegen der Heroinabgabe als «Dealerin der Nation». Gleichzeitig sei die Schadensminderung ein Kompromiss zwischen «den Verbietern und den Totalerlaubern» geblieben, sagt Winizki im Rückblick kritisch. Er wäre lieber viel weiter gegangen, mit einer Initiative zur Legalisierung aller Drogen, die von SP und Grünen unterstützt wurde. 1998 verwirft die Stimmbevölkerung die «DroLeg» mit nur 26 Prozent Ja-Stimmen-Anteil.

Ruth Dreifuss bleibt dem Thema auch nach dem Rücktritt aus der Regierung treu, gründet die Global Commission on Drug Policy mit, die jener gegen die Todesstrafe ähnelt: Sie schreibt Berichte und bringt ihre Erfahrungen als Architektin der Schweizer Drogenpolitik international ein. Weil viele Todesstrafen noch immer wegen Drogendelikten verhängt werden, sitzen teils dieselben Leute im Gremium – so finden die beiden heutigen Tätigkeiten der ehemaligen Bundesrätin praktisch zusammen.

Ideologisch aber unterscheiden sich die beiden Kämpfe, wie Ruth Dreifuss in ihrer Genfer Wohnung ausführt. Die Ächtung der Todesstrafe basiere auf klaren internationalen Prinzipien. Die Drogenproblematik dagegen sei durch eine schlechte internationale Gesetzgebung erst geschaffen worden. Zu den zentralen Forderungen der Kommission gehört die Regulierung von Produktion und Verkauf aller psychoaktiven Substanzen – mit dem Ziel, die Drogenpolitik auf Gesundheit und Menschenrechte auszurichten.

Für ihre Tätigkeiten reist Dreifuss bis heute um die Welt, wann immer man sie trifft, hat sie gerade wieder ein anderes Land besucht. Und sie ist auch noch vor der Haustür in Genf aktiv: Dort präsidiert sie eines von mehreren Pilotprojekten in der Schweiz, in denen Cannabis legal verkauft wird. Der Weg zur Legalisierung des Suchtmittels ist ein Beispiel für Dreifuss’ pragmatische Haltung in der Drogenpolitik. «Die Schweiz hat etwas, was ich sehr schätze: Wir sind ein gesetzestreues Volk. Aber unser Pragmatismus führt uns dazu, von Zeit zu Zeit etwas auszuprobieren, bevor wir ein Gesetz schreiben – wir nehmen uns die Zeit, herauszufinden, ob etwas funktioniert, bevor man es in Marmor meisselt.»

Und wie hält es Ruth Dreifuss selbst mit den Drogen? Während der Gespräche mit der WOZ schnorrt sie immer wieder mal gerne eine Zigarette. Und Cannabis? «Habe ich nie ausprobiert. Und als Präsidentin des Vereins kann ich ja nicht auch Probandin sein.»