Prolog Ein Flug aus Mazedonien

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Screenshot eines Sendebeitrag der SRF-«Tagesschau» vom 8. 4. 1999
Screenshot: SRF-«Tagesschau» vom 8. 4. 1999.

Ziemlich ruppig sei der Flug verlaufen, erinnert sich Naile Dema. «Wir sassen im Schneidersitz im Laderaum und haben uns an den Tragriemen festgehalten, damit es uns nicht herumschleudert.» Gestört habe sie das in dem Moment nicht. «Die Situation vorher war ja viel schlimmer gewesen, der Krieg, die Flucht, das Camp.»

Dema ist damals fünfzehn, ein Flugzeug besteigt sie zum ersten Mal in ihrem Leben. Wenige Stunden zuvor hat sie im von der Nato in Mazedonien eingerichteten Auffanglager Stankovac erfahren, dass sie mit Ruth Dreifuss in die Schweiz reisen darf.

Die Bundespräsidentin war an diesem 8. April 1999 frühmorgens mit dem Frachtjet in Skopje gelandet. Mit an Bord: Walter Fust, Chef der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza), und ihr persönlicher Mitarbeiter Rolf Zimmermann. «Wir waren nur drei Passagiere vorne – und hinten Tonnen von Hilfsgütern», erinnert sich dieser. In Mazedonien will sich Dreifuss – als erstes europäisches Staatsoberhaupt – ein eigenes Bild von der Situation der Geflüchteten aus dem Kosovo machen, die sich jenseits der Grenze vor der serbischen Armee in Sicherheit bringen mussten. Und entscheidet sich, zwanzig von ihnen die Ausreise in die Schweiz zu ermöglichen.

Ein Beitrag in der «Tagesschau» zeigt die Bundespräsidentin, wie sie vor dem Rückflug im roten Mantel und mit dreckigen Schuhen auf dem Rollfeld steht und eine Unschuldsmiene aufsetzt. «Was ich hier tue, ist bloss Ausdruck des Schweizer Pragmatismus», sagt sie in die Fernsehkamera, «ich bin mit einem vollen Flugzeug hergekommen, und es wäre doch traurig, nur mit zwei oder drei Personen zurückzufliegen.»

Die bürgerlichen Parteien toben. «Das ist ja unglaublich! Ich bin sprachlos», empört sich SVP-Präsident Ueli Maurer. Die FDP spricht von einem «überstürzten Propagandacoup». Medien und Bevölkerung aber begegnen der bundesrätlichen Fluchthelferin mit Wohlwollen. «Dreifuss hat mit ihrem Handeln ein Zeichen gesetzt. Nicht nur für sich. Für uns alle», schreibt der «Blick», der am Anfang ihrer Amtszeit noch schmutzige Kampagnen gegen die Sozialdemokratin geritten hat.

Bis heute steht die Aktion beispielhaft für die Courage von Ruth Dreifuss, die ihre Politik auch als gewähltes Regierungsmitglied immer wieder mit unkonventionellen Ideen durchsetzte. Noch nie allerdings wurde die Geschichte aus Sicht der Geflüchteten erzählt. Weder Dreifuss noch Zimmermann verfügen über eine Liste mit deren Namen. Das Staatssekretariat für Migration gibt sie aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht heraus. Erst eine Umfrage in der kosovarischen Community führt schliesslich zu Naile Dema. Die Fünfzehnjährige von damals ist heute Fernsehjournalistin und lebt seit langem wieder in Prishtina.

Im Videocall erinnert sie sich noch genau, wie die Gefahr damals immer näher rückte – mit den Nachrichten über Massaker der serbischen Armee, mit der Polizei, die an die Türen klopfte: «Der Kosovo gehört euch nicht mehr, ihr müsst gehen!» Dema, ihre Mutter und die sechs Geschwister sehen sich gezwungen, den Weg über die Grenze auf sich zu nehmen. In Mazedonien wartet der Vater, der zu der Zeit in Lausanne als Saisonnier arbeitet. Mehrere Nächte müssen die Flüchtenden eng zusammengepfercht im Auto übernachten. Dann kommen sie nach Stankovac.

Was anschliessend passiert, bezeichnet Dema heute als «Wunder»: Ihr älterer Bruder, der Französisch spricht, weil er ein paar Jahre beim Vater in Lausanne gelebt hat, trifft auf Schweizer Journalist:innen, denen er anschliessend beim Übersetzen hilft. «Plötzlich kommt einer von ihnen zu uns ins Zelt gerannt», erinnert sie sich. «Die Bundespräsidentin sei da und würde ein paar Leute mitnehmen.» Demas Familie und eine weitere aus dem Zelt nebenan werden ausgesucht, weil sie Verwandte in der Schweiz haben, was damals ein Kriterium für die Aufnahme ist. Mit einem Helikopter werden sie nach Skopje und mit dem Frachtjet weiter nach Basel-Mulhouse geflogen.

Als sich Dema den «Tagesschau»-Beitrag von damals ansieht, erkennt sie sich selbst wieder, wie sie an jenem Apriltag ins Flugzeug steigt: «Die da im gestreiften Pulli, das bin ich!» In Basel habe eine Schar von Reporter:innen sie erwartet. «Heute ist mir klar, dass die Aktion etwas Aussergewöhnliches war. Aber damals waren wir einfach müde und glücklich, dass wir in einem Land ankamen, das wir mit Sicherheit verbunden haben.» In der Schweiz muss die Familie erst im Heim für Geflüchtete wohnen, darf schliesslich zum Vater ziehen und wird vorläufig aufgenommen. Sechs Monate später, als der Krieg vorbei ist, kehren sie nach Prishtina zurück. «Für uns war immer klar: Ist der Kosovo frei, gibt es keinen Grund, in der Schweiz zu bleiben. Wir hatten gute Ausbildungen, wollten unsere Laufbahn fortsetzen, in die alte Normalität zurück.»

Mit Ruth Dreifuss hat Naile Dema damals nicht gesprochen, sie habe bloss rudimentäre Fremdsprachenkenntnisse gehabt. «Heute würde ich sie sehr gerne einmal treffen und ihr Danke sagen. Sie mag sich für ihre Aktion Kritik eingehandelt haben, aber sie hat Menschen wie uns in der Not geholfen. Das war eine gute Tat.»