Zeit zum Bingen*: Der Wahnsinn in den Augen

Nr. 51 –

Wenn die Zeit zwischen den Jahren zu lang wird vor lauter Besinnlichkeit: Die besten Bücher, Games, Songs und Serien, um sich tagelang abzumelden – allein oder gemeinsam.

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Foto einer Installation: Papierobjekte mit Augen, Nase, Mund und Ohren
Foto: Attila Janes, 13 Photo

* Begriffsklärung:

Bin|gen (1) [ˈbɪnʃən]: Kurzform von z.B. «Binge-Watching», engl. für exzessives Schauen mehrerer Folgen einer Serie, ugs. auch «Komaglotzen» genannt.

Bin|gen (2) [ˈbɪŋən]: Hildegard von Bingen (1098–1179), Benediktinerin und Mystikerin. Ihre Schriften und Lieder eignen sich gut zum → Bingen (1).

Gamen: Im Paralleluniversum

Viele Videospiele eignen sich dazu, das Hirn in den Sparbetrieb zu versetzen, einige jedoch erfordern einen intellektuellen Ehrgeiz, der auch Doktorand:innen schmücken würde. Als «Forever Game» hat die Onlineplattform «Rock Paper Shotgun» das gerade veröffentliche «Europa Universalis 5» bezeichnet – als ein «Für-immer-Spiel» also, weil schon eine Partie sehr viel Zeit in Anspruch nimmt. Vor allem aber, weil es so komplex ist, dass man sich die nächsten Jahre mit nichts anderem beschäftigen könnte.

Entwickelt wurde das Game vom schwedischen Studio Paradox, das sich auf eine spezielle Marktnische spezialisiert hat: ultraverschachtelte Strategiespiele. Der Katalog deckt dabei fast die ganze Menschheitsgeschichte ab, inklusive der fernen Zukunft im All. Nicht alles ist gleich gut, aber «Europa Universalis 5» soll nun das neue Paradox-Flaggschiff werden, das fortlaufend mit Zusatzinhalten erweitert werden wird.

Das Game ist ein Geschichtssimulator, in dem man die Kontrolle über ein beliebiges Land im Jahr 1337 übernimmt und dieses bis ins Jahr 1837 managt. Man kann sich etwa für das spätmittelalterliche Frankreich entscheiden, für den Oman oder auch die Khmer. Dann gilt es, in einem geschichtlichen Paralleluniversum herauszufinden, was passiert wäre, hätte man selbst als Staatenlenker mitgemischt.

Wegen des Umfangs – das Geschehen erstreckt sich über den ganzen, in unzählige Regionen unterteilten Globus – und sehr vieler Spielmechaniken zeugt das Game von Grössenwahn. Beworben wird es mit dem Slogan «Be ambitious!» – und den haben sich offensichtlich auch die Entwickler:innen zu Herzen genommen. Politisch bewegt man sich auf heiklem Terrain, da in die besagten Jahrhunderte die Ära des Kolonialismus fällt und man hier keine geschönte Variante der Wirklichkeit vorgesetzt bekommt. Da gilt es etwa auch, Aufstände niederzuschlagen, selbst wenn man es eigentlich viel sympathischer fände, würden umgekehrt die Herrschenden füsiliert.

Vielleicht wird es bald ähnlich Ambitioniertes aus der Perspektive der unteren Klassen geben. Bis dahin darf man wohl auch an Paradox-Spielen Spass haben. 

«Europa Universalis 5». Paradox Interactive. Für PC.

Schauen: Im goldenen Käfig

Nur wer einen Text zum zweiten Mal liest, beginnt, ihn zu verstehen. Wer ihn einmal liest, konsumiert ihn bloss. Das wusste der französische Zeichenleser Roland Barthes schon vor 55 Jahren, knapp nach der Zeit also, in der die US-Serie «Mad Men» spielt. Sie handelt von den «ad men», den Werbefachleuten an der New Yorker Madison Avenue in einer Blütezeit der Branche: von ihrem riesigen Alkohol- und Zigarettenkonsum, ihren Kampagnen für Kodak, Lucky Strike und Richard Nixon, von ihrem wie selbstverständlichen rassistischen und sexistischen Überlegenheitsgefühl.

Was erst beim zweiten Durchschauen richtig auffällt, ist die Präzision, mit der «Mad Men» die Marginalisierten dieser weiss gestärkten Männerwelt in den Blick nimmt: die Schwarzen, die Homosexuellen, die Jüdinnen und Juden – und vor allem die Frauen: die unterforderte Sekretärin Joan Holloway; Peggy Olson, die zur ersten weiblichen Texterin befördert wird und sich dabei keinen Fehler erlauben darf; die betrogene und herabgesetzte Ehefrau Betty Draper mit ihren Tics, die dem goldenen Käfig ihrer vorstädtischen Familienfantasie nie ganz entkommen kann. Emanzipationsgeschichten, beschwert mit bleiernen Ketten und keineswegs nur erhabenen Resultaten.

Wer noch mehr Überbau mitdenken mag: Auch Hannah Arendt hat im Aufsatz «Die Lüge in der Politik» (1971) die Werber im Visier – weil diese als Public Relations Manager in die Politik einfielen und sie umpflügten. Das Problem sei, so Arendt, dass sie sich bloss mit «Meinungen», «Goodwill» und einer «Bereitschaft zum Kaufen» befassten: mit lauter «Ungreifbarem» fast ohne konkreten Realitätsgehalt. So verliere die Politik jedes Gefühl für die Grenzen der Macht.

Doch kann man mit den «Mad Men» auch gedankenloser durch die 1960er reisen und bei monumentalen Folgen zu monumentalen Ereignissen hängen bleiben: der Mondlandung, der Ermordung John F. Kennedys, dem Tag, an dem Chefwerber Don Draper von seiner neuen Frau das Album «Revolver» geschenkt bekommt und spätestens bei «Tomorrow Never Knows» die Beatles und die Welt nicht mehr versteht.

«Mad Men» (2007–2015). Idee: Matthew Weiner. Alle sieben Staffeln sind noch bis Ende März 2026 frei verfügbar in der Arte-Mediathek.

Hören und sehen: Elektrisierend für immer

In den neun Folgen von «The Beatles Anthology», die dreissig Jahre nach ihrer Erstausstrahlung frisch geputzt zu streamen sind, ist das KI-Zeitalter scheinbar noch weit weg. Wenn in dieser Dokumentation, von Paul, Ringo und George damals selbst angeschoben, ungefähr 1963 eine junge Frau auf der Strasse weint und sagt, dass die Beatles wegen des Erfolgs ihr Liverpool verlassen und nach London ziehen werden, zerreisst es einem zum ersten Mal das Herz. Die Leute wirken so unpoliert vor der Kamera, ihre Körper sind so stark durchwirkt von neuartigem Begehren, dass sie an die Regeln der elektronischen Verbreitung noch keine Konzessionen machen.

Aber es gibt kein Entkommen vor der KI: Die Neuauflage der Doku zeigt alte Bilder, auf denen einzelne Personen plötzlich scharf hervortreten. Das wenige Material aus dem Cavern Club in Liverpool, der letzten Station vor dem Durchbruch, hat man noch nie so gut gesehen. Und wer seit Jahren auf Youtube immer mal wieder über das erste Stadionkonzert der Popgeschichte stolpert – die Beatles im August 1965 vor 56 000 Leuten im New Yorker Shea Stadium –, erkennt mit der neuen Bildschärfe den Wahnsinn in den Augen der Fans. Das war so vor dreissig Jahren noch nicht möglich.

Weihnachten sind ja immer auch Beatles-Festspiele (keine Angst, niemand sagt, die Beatles seien berühmter als Jesus, also bitte keine Poster verbrennen wie 1966 in den USA). Es kann nicht jedes Jahr ein Knaller sein wie Peter Jacksons «Get Back»-Dokumentation aus Archivaufnahmen. Und der neunte und letzte Teil der «Anthology», eine Art Making-of von 1995 mit Paul McCartney, Ringo Starr und dem damals noch lebenden George Harrison, nervt mit Hintergrundgesäusel, einer unbedeutenden Jamsession und sogar langweiligen Interviews. Letzteres ein Kunststück für sich, denn die ersten acht Folgen punkten bis heute mit dem Humor, der Schlagfertigkeit und manchmal der schnörkellosen Offenheit aller Beatles. Das gilt für die historischen Aufnahmen aus den sechziger Jahren wie für die Gespräche aus den Neunzigern, die eigens für die Doku geführt wurden. Auch historisch: eine Musikdoku, die regelmässig ganze Songs ausspielt.

Das seit einem halben Jahrhundert andauernde Gespräch darüber, warum die Beatles diese Freakerfolge hatten und bis heute haben und warum die Band auseinanderbrach, aber 1969 mit «Abbey Road» ein fantastisches letztes Album zustande brachte, kann auch die neue «Anthology» nicht abschliessen. Gerade weil so viel ungesagt bleibt, Heroin zum Beispiel. Hier rächt sich die Innensicht. Aber dieser ausserirdischen Dynamik zuzusehen, wie aus einer sehr guten englischen Coverband eine Band nicht von dieser Welt entsteht, ist für immer elektrisierend. Am Ende meint man es ein wenig zu wissen: Es sind vier durchweg sympathische Freunde, und sie bleiben in der ganzen Craziness erstaunlich lange bei und unter sich. Ohne Freundschaft wäre das alles nie möglich gewesen. Und die vielen Songs über die Liebe, mit Liebe gemacht, erzählen davon bis heute. 

«The Beatles Anthology» (1995). Neun Folgen auf Disney plus.

Hören: Zigaretten im Garten Eden

Selten kommt das Sterben so lustvoll daher wie auf dem neuen Kraftklub-Album. Im gewohnten Sound widmet sich die Band aus Chemnitz dem Tod, mit einer Mischung aus Ernsthaftigkeit und Ironie. Irgendwo zwischen risikofreudigem Yolo und Melancholie ob der begrenzten Lebenszeit singt Felix Kummer über das Damoklesschwert des Todes. Es geht um den Wunsch nach mehr Zeit für all «die schönen Worte», für die es plötzlich zu spät ist; «vielleicht fall ich in den Bergen, oder ich versink im Treibsand». In einem Exkurs mit Deichkind feiert die Band dann die genussvolle Zeitverschwendung; planen lasse sich ja eh nichts.

Der Tod ist bei Kraftklub trotzdem weniger disruptiv als befürchtet, die Erlösung erfolgt im umcodierten biblischen Paradies. Statt des Gartens Eden erwartet einen die ewige Clubnacht mit all den Liebsten, auf die man halt warten muss: «Nur weil man verreckt, muss man nicht leben wie ein Hund / Wenn ich tot bin, fang ich wieder an mit Rauchen» – so klingt das Jenseits vergnüglich.

Phasenweise appelliert das Album auch ans Durchhaltevermögen angesichts aller Vergänglichkeit: Der Track über den Marlboro-Mann changiert zwischen ironischer Kritik an Männlichkeitsidealen, zwiespältigem Liebeslied ans Rauchen und Hymne aufs Dranbleiben. Das zeigt sich auch in den klar politischen Songs. Solange noch jemand «schief in jedem Chor singt», also Gegensteuer gibt, ist der Widerstand nicht tot.

Und wenn es ums Sterben geht, muss es auch um die Ewigkeit gehen. Die Unsterblichkeit, die Kraftklub «nur mit dir» will, läuft gleich zweimal auf dem Album: am Anfang und am Schluss, einmal energetisch-rockig und einmal melancholisch-reduziert, beide Male zusammen mit Domiziana. So ist das Album geradezu dafür konzipiert, es auf Dauerschleife zu hören und über die Ambivalenz des Todes nachzudenken.

Kraftklub: «Sterben in Karl-Marx-Stadt». Eklat/Universal Music 2025.

Schauen und lachen: Unschuldiger Piranha

Für alle, die wissen wollen, wo Elvis wirklich lebt oder wie Aliens lachen, gibts nur eine Quelle gesicherter Erkenntnis: «Die andere Seite» oder im Original: «The Far Side» von Gary Larson. Die Zeichnungen sind ursprünglich zwischen 1980 und 1995 in täglichen Einzeldosen auf den Comicseiten diverser US-Zeitungen erschienen, das gewichtige Gesamtwerk (8,8 Kilo) umfasst 4337 Bilder. Was schon damals für Furore wie Verwirrung sorgte: Der Witz erschliesst sich oft erst im zweiten oder dritten Anlauf. Taucht man ins Gesamtwerk ein, fühlt sich das mitunter an, als zerbreche man sich den Kopf über dem KreuzWOZ. Und dann: Tränen lachen.

Wobei es ja nicht immer so kompliziert, sondern einfach nerdig ist. Larsons Nerds im weissen Kittel jedenfalls geben sich recht einfältig. Sie liefern sich Radiergummi- statt Formelschlachten oder verwechseln im Labor Urinprobe und Apfelsaft. Letzteres führte zu einem empörten Leserbrief («Im Labor ist Essen und Trinken strikt verboten!»). Auch Tierfreund:innen beschwerten sich ob all der Gewalt, die Larson ihren Lieblingen antat. Aber was kann der Piranha dafür, wenn die Katze ihre Pfoten ins Aquarium taucht? Nun schmollt sie halt mit zwei Holzbeinen in der Ecke.

Letztlich ist in Larsons Universum eh der Homo sapiens die kuriose Spezies, betrachtet aus der Perspektive von (nur allzu menschlichen) Tieren. Da tummeln sich Amöben, Insekten, Schlangen, Bären, Elefanten, Haifische und Oktopoden in den Kinosälen zu artspezifischen Horrorfilmen oder lümmeln in Wohnzimmersesseln (ja, auch die Haie) und üben sich in gepflegter Konversation. Paarhufer vor der Glotze ärgern sich über den fehlenden Daumen zum Kanalwechseln. Sie, die Kühe, sind die heimlichen Haupt-, vielleicht sogar die Lieblingsfiguren von Larson, kommen sie doch in allen sozialen Schattierungen vor, von der Obdach-, Pardon, Stalllosen bis zu Mitgliedern der Muhfia. Auch Himmel und Hölle fehlen nicht, am meisten Spass hat überhaupt der Teufel, während Noah ein armer Teufel ist, oft gescholten von Gottes Stimme im Off.

Knifflig wird das Entschlüsseln vor allem aufgrund der verdichteten Wortspiele, an denen Larson seine diebische Freude hatte: Im Vorwort findet sich die Skizze einer Frau, die vor der aufgeschlagenen Zeitung sitzt und aus Verzweiflung wiederholt den Kopf auf den Tisch knallt: «Wump! Wump! Whap!» – Autsch.

«The Complete Far Side» ist 2003 im Verlag Andrews McMeel erschienen (zwei Bände, nur Englisch). Für Einsteiger:innen: www.thefarside.com – «the daily dose».

Lesen: Pinochet, der Nazi und die Krabben

Es ist gegen 23 Uhr, als die Beamten von Scotland Yard in einem Londoner Spital auftauchen und ihre Dolmetscherin Jean Pateras auf Spanisch sagt: «Sie sind wegen Mordes verhaftet.» Der Mann, der ihnen im Pyjama gegenübersitzt, flankiert von zwei Leibwächtern, ist kein Geringerer als der frühere chilenische Diktator Augusto Pinochet. Nach dem Militärputsch 1973 gegen die sozialistische Regierung von Salvador Allende verantwortete Pinochet die unrechtmässige Inhaftierung und Folterung von mindestens 40 000 politischen Gegner:innen, mehr als 3000 wurden ermordet oder verschwanden. Geschützt von Amnestie- und Immunitätsgesetzen, wurde er in seiner Heimat nie für diese Verbrechen belangt. «Ich bin ein Engel», pflegte Pinochet zu sagen. Als er sich 1998 gar traute, nach London zu reisen, angeblich um Waffen für sein Land zu kaufen, schlug der spanische Ermittlungsrichter Baltasar Garzón zu und stellte einen internationalen Haftbefehl aus.

In seinem neuen Buch zeichnet der Jurist und Schriftsteller Philippe Sands nach, welche Bedeutung die Verhaftung von Pinochet für die Entwicklung des Weltrechtsprinzips hatte, nach dem schwerste Völkerstraftaten von allen Staaten rund um den Globus geahndet werden können, auch wenn sie keinen direkten Bezug zur Tat haben. «Die Verschwundenen von Londres 38» ist eine dichte Spurensuche, in der die Angehörigen der Opfer, die Unterstützer von Pinochet und Beteiligte am Prozess wie Dolmetscherin Pateras allesamt zu Wort kommen (Rückgriff aufs Namensregister bisweilen unausweichlich).

Trotzdem entfaltet das 600 Seiten starke Buch bis zum Schluss enorme Spannung, ist also auch geeignet für die ausgedehnte Zeit zwischen den Jahren. Der Grund liegt darin, dass Sands nicht nur den Fall von Pinochet erzählt, sondern als Parallelgeschichte auch die des Nazis Walther Rauff. Nachdem er für die SS mobile Gaswagen entwickelt hatte, mit denen Hunderttausende Menschen getötet wurden, hatte er sich nach dem Zweiten Weltkrieg nach Patagonien abgesetzt. In Punta Arenas an der Südspitze Chiles betrieb er, stets begleitet von seinem Schäferhund, eine Konservenfabrik für Krabbenfleisch. Alle Versuche, ihn nach Deutschland auszuliefern, scheiterten. «Ich stehe unter Denkmalschutz», sagte er einmal.

Hat dies auch damit zu tun, dass der mythenumrankte Rauff Pinochets Geheimpolizei bei Foltertechniken beraten hatte? Das Buch entwickelt sich zu einer historischen Verfolgungsjagd, die angesichts der gegenwärtigen Erosion des Völkerrechts aktueller nicht sein könnte.

Philippe Sands: «Die Verschwundenen von Londres 38. Über Pinochet in England und einen Nazi in Patagonien». S. Fischer Verlag. Frankfurt am Main 2025. 624 Seiten.

Lesen: Verschwestert euch!

Weihnachtszeit ist Care-Arbeitszeit. Während den kleinen Kindern weisgemacht wird, dass der Samichlaus oder der Weihnachtsmann Süssigkeiten und Geschenke bringt, sind es zum grössten Teil immer noch die Mütter, die diese Arbeit völlig selbstverständlich verrichten. Von Care-Arbeit, erschöpften Frauen und weiblicher Solidarität erzählt die österreichische Autorin Mareike Fallwickl in ihrem Roman «Die Wut, die bleibt» (2022). Das Buch spielt während des Coronalockdowns und beginnt mit der vermeintlich harmlosen Frage: «Haben wir kein Salz?» Helene, Mutter von drei Kindern, erhebt sich nach diesem Satz ihres Mannes vom Tisch und stürzt sich vom Balkon des zwölften Stocks. Zurück bleiben zwei kleine Jungs, der Vater und die fünfzehnjährige Lola.

Was diese Lücke, die Helene hinterlässt, mit sich bringt, erzählt Fallwickl abwechselnd aus der Perspektive von Lola und Helenes bester Freundin Sarah, die für die Verstorbene einspringt. Die kinderlose erfolgreiche Autorin kocht, putzt, hütet und wickelt den Kleinen, während der mit der Situation völlig überforderte Vater wie gehabt seiner Erwerbsarbeit nachgeht. Lola wird über diesen Zustand immer wütender und beginnt, handfest gegen das Patriarchat aufzubegehren: Mit ihren Freundinnen verprügelt sie nachts gewalttätige Männer. Das vierköpfige Rächerinnenteam erinnert an die Frauenfiguren aus den Romanen von Virginie Despentes – doch anders als Despentes gibt Fallwickl zusätzlich einen zärtlichen und vielschichtigen Einblick in einen Familienalltag, der ohne die Arbeit von Sarah und Lola auf der Stelle kollabieren würde.

Was, wenn Frauen gar nichts mehr täten, nicht kochen, nicht bügeln, nicht putzen? Sie würden einen umfassenden Stillstand erzwingen, sinniert Lola gegen Ende in «Die Wut, die bleibt». In ihrem Folgeroman «Und alle so still» (2024) denkt Fallwickl diese Idee weiter. Eine Gruppe Frauen legt sich vor einem Spital auf den Boden – mit weitreichenden Folgen. Und selbst wenn sich dieses Buch nicht so ganz aus einem Guss liest wie das grandiose «Die Wut, die bleibt», macht auch «Und alle so still» grosse Lust, sich der Care-Arbeit zu verweigern, sich mit anderen Frauen zu verschwestern – und einfach weiterzulesen. Soll der Weihnachtsmann doch selber schauen.

Mareike Fallwickl: «Die Wut, die bleibt» (2022) und «Und alle so still» (2024). Beide Romane sind bei Rowohlt erschienen.

Lesen: Abtauchen im Schloss aus Eis

Das ist mir lange nicht mehr passiert: Anfang Jahr habe ich einen Autor und eine Autorin sehr spät für mich entdeckt – und bin dann bei beiden gleich mit dem ersten Buch süchtig geworden nach mehr von ihnen. Vom ersten habe ich in diesem Jahr noch drei weitere Bücher gelesen, von der zweiten gleich sieben (bis jetzt). Beide sind keine Geheimtipps, sie heissen Tarjei Vesaas und Ali Smith.

Der Norweger Vesaas ist seit einigen Jahren in neuen Übersetzungen zu entdecken. Von ihm stammt «Das Eis-Schloss» (1963), einer der schönsten Romane, die ich je gelesen habe. An einem einzigen Abend finden zwei Mädchen zusammen und entdecken gemeinsam die Schwelle, an der kindliche Freundschaft – vielleicht – in eine andere Form von Liebe übergeht. Aber draussen ist Winter, und so kommen sie einander auch gleich wieder abhanden. Eine unfassbar zarte Geschichte vom Finden und Verschwinden, und jeder Satz darin glitzert wie ein Eiskristall in der Sonne. (Wer es lieber weniger verträumt hat: Sein Roman «Der Keim», bereits 1940 erschienen, ist ein atemloses Panorama über eine ländliche Gesellschaft zwischen Schuld und Wahn.)

Die Schottin Ali Smith hat mich mit ihren beglückend frei drehenden Erzählschlaufen durch alle Jahreszeiten und weit darüber hinaus begleitet. Von ihr wird im nächsten Frühling wieder zu reden sein, wenn ihr neustes Buch, «Gliff», auf Deutsch erscheint. In einem früheren Roman, auf Deutsch unter dem Titel «Es hätte mir genauso» (2012) erschienen, hat sie einst den verlockendsten Plot für die Festtage entworfen. Bei einer Abendgesellschaft erhebt sich einer der Gäste wortlos vom Tisch, schliesst sich im oberen Stock in einem Zimmer ein und kommt einfach nicht mehr raus. Zur Nachahmung nicht empfohlen, aber … 

«Das Eis-Schloss» und drei weitere Romane von Tarjei Vesaas sind im Guggolz-Verlag erschienen. Die Bücher von Ali Smith erscheinen auf Deutsch bei Luchterhand.