Wir wollen alles und zwar subito. Teil X: Im Widder machten alle alles

Gabi Kopp. Geb. 1958 in Luzern. Kindergärtnerin. Heute tätig als freischaffende Comiczeichnerin.

Gabi Kopp: Die Hauptfiguren in meinen Comics sind häufig Frauen. Was mich immer wieder interessiert, sind Alltagsthemen.

Aufgewachsen bin ich in einer achtköpfigen Familie in Luzern. Mein Vater war Arzt. Wir hatten also keine finanziellen Sorgen. Ich komme aus einem christlich-konservativen Elternhaus. Der Kirchgang war noch wichtig. Ich war jene in unserer Familie, die immer gern zeichnete.

Die Schulen machte ich alle in Luzern. Während der Pubertät war ich eine Zeit lang in Gefahr, in eine Sekte abzudriften, weil ich mich einsam und unverstanden fühlte. Ich hatte Sehnsucht nach anderen Lebensformen, nach einer Gruppe, in der ich mich aufgehoben fühlte. Ich konnte stundenlang die gleichen Songs von Joan Baez, Leonard Cohen und Bob Dylan hören. Es war auch die Zeit, als wir heimlich rauchten und pafften. Ich las Bücher von Hermann Hesse. Da ging es um Traum und Wirklichkeit, um Flucht aus der Realität und das Erlangen von Erkenntnis.

Mit sechzehn wurde ich in den Vorkurs der Kunstgewerbeschule aufgenommen. Die Achtzehn- und Zwanzigjährigen wirkten auf mich unglaublich erwachsen. Alles war für mich neu, spannend und interessant. Ich führte ein lockereres Leben als meine Schwestern, die im Gymmasium waren.

Wie wurdest du politisiert?

Meine ersten Kontakte zur Politik fanden in Zürich statt, wo eine meiner Schwestern studierte und einen Freund hatte, der Kommunist war. Da erlebte ich die ersten linken Diskussionen. Man redete davon, dass alle die gleichen Chancen haben und gleich viel verdienen sollten. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, da ich aus einer gut situierten Familie kam. Es wurde damals in linken Kreisen noch nicht akzeptiert, dass es neben der materiellen Armut auch ein emotionales Manko geben kann. Es hiess immer: Ihr seid unglaublich privilegiert. Zu Hause gab es jeweils an Weihnachten grossen Krach wegen politischer Diskussionen.

Nach dem Vorkurs machte ich das Kindergärtnerinnenseminar. Dann hatte ich genug von Schulen und wollte mich beweisen. Ich arbeitete im Kinderhort der Viskosefabrik und stiess mit meinen Ideen für eine freiheitliche Erziehung überall auf Beton. Dann arbeitete ich mit mehrfachbehinderten Kindern. Ich war voller Elan, wollte Lager machen mit diesen Kindern, mit ihnen einen Gemüsegarten anstelle von Zierbeeten anpflanzen und sie in den Malunterricht schicken. Auch da stiess ich überall auf Grenzen. Ich wusste nicht, wer ich bin und wozu ich überhaupt fähig war. Das war für mich der entscheidende Grund, zusammen mit anderen eine Alternativbeiz aufzubauen. Dort würde es keinen Chef geben, und es käme auf alle an, also auch auf mich.

So habt ihr den «Widder» gegründet?

Ein paar Leute kamen zusammen und sprachen darüber, dass in Luzern immer mehr Beizen geschlossen würden, wo wir Jungen uns treffen könnten. Es war schon schwierig, überhaupt einen Restaurantsaal für eine politische Veranstaltung zu mieten. Einer rief zu einer Sitzung auf, an der beschlossen wurde, eine Alternativbeiz zu gründen. Das «Rössli» in Stäfa und das «Kreuz» in Solothurn waren die Vorbilder. Es existierte eine Studie der Stadt Luzern, die aufzeigte, dass ein grosser Nachholbedarf im Jugendbereich vorhanden war. Es gab zum Beispiel immer noch kein Jugendhaus. In diesem Papier wurde unter anderem auch die Förderung einer Alternativbeiz vorgeschlagen.

Auf diese Studie konnten wir uns abstützen, als wir mit der Stadt zu verhandeln begannen. Für die Behörden kam in dieser Zeit eigentlich nur ein Wirteehepaar für die Übernahme eines Restaurants in Frage. Wir Jungen hatten null Vertrauensbonus.

Nach langem Suchen und langwierigen Abklärungen konnten wir dann verdeckt über einen Treuhänder eine private Liegenschaft mit dem Restaurant «Widder» kaufen. Wir gründeten eine Stiftung, die steuerfrei war, und erwarben das Haus mit einem Eigenkapital von 20 000 Franken, das Luzerner Künstlerinnen und Künstler durch eine Auktion ihrer Werke zusammengebracht hatten und uns schenkten.

Wie habt ihr euch auf dieses Experiment vorbereitet?

Den Kern der Alternativbeiz bildete eine Gruppe von 22- bis 29-Jährigen. Zuerst wollten wir in bereits bestehenden Alternativbeizen Erfahrungen sammeln. Wir schwärmten aus. Einer von uns machte das Wirtepatent, andere absolvierten ein Praktikum im «Rössli» und im «Kreuz». Ich ging ins «Hirscheneck» nach Basel. Da war 1980 politisch einiges mehr los als in Luzern. Ich erinnere mich an eine Walpurgisnacht, wo wir Frauen loszogen, um in Stripteaselokalen Radau zu machen. Wir überraschten die verdutzten Männer, als wir auf die Bühne stürmten, eine Frau ihren Rock hob und direkt auf die Bühne urinierte. Die Polizei wurde geholt, ein paar Frauen wurden hereingenommen. Wir gingen zum Polizeiposten und forderten deren Freilassung. In Basel existierte zu dieser Zeit auch bereits ein Frauencafé. Diese Idee nahmen wir später im «Widder» auf, indem wir an einzelnen Abenden – gegen den Widerstand einiger Männer – Frauenbeiz machten. Vor allem die emanzipierten Männer konnten nicht verstehen, wie wichtig es damals für die Entwicklung des Selbstvertrauens der Frauen war, nur unter sich zu sein.

Als wir im März 1981 unsere eigene Beiz in Luzern eröffneten, hatten wir noch naive Vorstellungen davon, wie wir das Restaurant führen wollten: kein Konsumationszwang, ein möglich durchmischtes Publikum von Jung und Alt, Reich und Arm. Für alle musste es Platz haben. Im Alltag sah es dann etwas anders aus. Im Quartier hatte es Leute, die gegen uns waren. Es gab Probleme wegen unserem Saal, wo wir Konzerte und Discos veranstalteten. Die Polizei und die Lebensmittelkontrolle rückten uns auf die Pelle.

Die Gründung des «Widders» fällt in die unruhigen achtziger Jahre. Welchen Bezug hattet ihr zur achtziger Bewegung?

Ich pflegte weiterhin meine Kontakte zu den Leuten vom «Hirscheneck» in Basel. Die traf ich dann wieder an den Zusammenkünften des Netzwerks für selbst verwaltete Betriebe aus der ganzen Schweiz. Dort gab es spannende Auseinandersetzungen zwischen 68er-VeteranInnen und 80er-Bewegten. Ich ging mehrmals nach Zürich ins AJZ an Vollversammlungen. Mich beeindruckte die Untergrundzeitschrift «Stilett», wo alle starren Strukturen im Layout aufgebrochen wurden. Alles kam wild daher, mit Aufrasterungen, Vergrösserungen, mit Text-im-Bild-Darstellungen. Alles war erlaubt. Das interessierte mich als Zeichnerin. Wir hatten ja im «Widder» auch unsere eigenen Werbebroschüren, die ich mitgestaltete. Die Zürcher Szene übte auf meine Grafik und Typografie einen direkten Einfluss aus.

Aber ich fühlte mich in Zürich immer als Beobachterin. Ich kam nie in den Zürcher Kuchen hinein. Da liefen so viele Sachen nonverbal ab, über die ich gar nicht Bescheid wusste. Und wenn du nicht den richtigen Slang draufhattest, gehörtest du von vornherein nicht dazu.

Was geschah denn in der Zeit der Bewegung in Luzern?

Bei den so genannten «Strassenkultur-Tagen» forderten wir die Aufhebung des Verbots von Strassenmusik. Auch Forderungen nach einem Jugendhaus wurden laut. Eine Gruppe von Leuten besetzte das Restaurant «Einhorn», und in Luzern entwickelte sich eine eigentliche Häuserbesetzerszene. In den besetzten Häusern gab es auch Vollversammlungen.

In Luzern nahm die achtziger Bewegung aber nicht weiter an Militanz zu, weil die Behörden geschickt einlenkten. Schon bald stellte die Stadt den «Werkhof» als Jugendhaus zur Verfügung. Das ehemalige Gefängnis «Sedel» wurde als Probelokal für Musikgruppen freigegeben. Niemand konnte also sagen, dass die Stadt nichts für die Jugendkultur tat. Es entstand die Gassenküche, und in späteren Jahren kamen neue kulturelle Einrichtungen hinzu, zum Beispiel die Kulturzentren BOA und Schüür.

Von den alternativen Kulturangeboten machten ja auch immer Jüngere Gebrauch. Wie war bei euch im «Widder» das Verhältnis zu den ganz jungen Gästen?

Wir hatten vor allem die Beiz zu führen und krampften uns ab. Wenn es zu Besäufnissen kam oder es im Saal Rabatz gab, mussten wir zur Ordnung rufen. Wir waren plötzlich in der Rolle von Eltern. Wir wollten nicht etabliert sein, und gleichwohl mussten wir schauen, dass es rund lief. Wir handelten also immer Kompromisslösungen aus – mit der Polizei, mit den Nachbarn und mit unbequemen Gästen. Das war mit ein Grund, warum ich mich zu den ganz Jungen nicht mehr so richtig dazugehörig fühlte.

Welches waren für dich die wichtigsten Erfahrungen im «Widder»?

Die Verbundenheit unter uns im Kollektiv und die langen Freundschaften. Auch hatte ich das Gefühl, am Puls der Zeit zu sein. Wichtig waren zudem die kulturellen Anlässe, die wir mit unserem Kulturverein «Schwarzes Schaf» im Saal organisierten. Obwohl wir nur wenig zahlen konnten, gelang es uns immer wieder, namhafte Leute einzuladen, zum Beispiel Schriftsteller wie Guido Bachmann oder Niklaus Meienberg. Die junge Politaktivistin Christine Goll berichtete darüber, wie in Zürich gerade ein Wyberrat gegründet worden war, damit Frauen ihre eigenen Sachen besser durchziehen konnten. Der Historiker Jakob Tanner hielt einen Vortrag über die Schweiz der fünfziger Jahre, als noch ernsthaft die Entwicklung einer eigenen Atombombe erwogen wurde. Da gab es immer wieder solch spannende Auseinandersetzungen mit Politik und Zeitgeschichte. Der Saal war uns genauso ein zentrales Anliegen wie die Beiz. Alle möglichen Gruppierungen konnten ihn mieten – für Sitzungen, Workshops, Konzerte usw.

Das Projekt Genossenschaftsbeiz verlief nirgendwo ganz konfliktfrei. Mit welchen Schwierigkeiten wurdet ihr konfrontiert?

Wir merkten schnell, dass unser System von «alle machen alles» – von der Küchenarbeit über den Service bis zur Buchhaltung – auf die Dauer nicht funktionierte. Nicht alle waren gleich geeignet oder machten alle Arbeiten gleich gern. In den Sitzungen, wo alle mitreden konnten, verpufften wir unnötig viel Energie. Auch hatten wir das Problem, dass immer wieder Leute ausstiegen und neue dazukamen. Wegen unseres Demokratieverständnisses mussten die immer gleichen Diskussionen geführt werden. Wir machten unglaubliche Fehler: Fähige Leute in unserem Kollektiv haben wir blockiert, weil wir Angst hatten, sie könnten zu mächtig werden. Wir haben eher Leute akzeptiert, die nicht so viel zu bieten hatten und sich im Hintergrund hielten. Heute wird viel professioneller gearbeitet.

Den alten «Widder» gibt es nicht mehr, die Genossenschaft ist stillgelegt. Das Restaurant ist in neue Hände gegangen. Was ist vom alten «Widder» geblieben?

Die Einsicht, dass ein Kollektiv am besten funktioniert, wenn möglichst viele Leute Eigenverantwortung übernehmen und neben ihren fachlichen Qualifikationen soziale Kompetenz mitbringen. Auch machten wir gute Erfahrungen mit Supervision und Weekends, wo wir uns aussprechen konnten.

Die alternativen Beizen waren in verschiedenen Bereichen Pionierprojekte: Wir arbeiteten mit Bauern zusammen, die eigens für uns biologisch anbauten. Nach Möglichkeit kochten wir saisonal. Wenn du heute siehst, wie gross der Biomarkt geworden ist, wird unsere Bedeutung als Vorreiter offensichtlich. Dann hatten wir die Idee, immer wieder Gastköche einzuladen. Das war damals noch wenig bekannt. Wir übten einen direkten Einfluss aufs Gastgewerbe aus, indem Leute, die bei uns einmal gearbeitet hatten, eigene Restaurants eröffneten. Zwar nicht mehr selbst verwaltet, aber mit einem Bewusstsein für eine gute saisonale Küche und einem weniger hierarchischen Arbeitsstil. Wir waren also eigentliche Trendsetter, so wie heute die Jungen mit ihren Events an speziellen Orten.

Wie lange bist du im «Widder» geblieben, und wo stehst du heute?

Ich kochte im «Widder» vier Jahre und machte gleichzeitig im Kulturverein «Schwarzes Schaf» mit. Schon damals begann ich in meiner Freizeit regelmässig Comics für eine regionale Wochenzeitung zu zeichnen. Nach der Zeit beim «Widder» habe ich mich als Zeichnerin selbständig gemacht. Was mich immer wieder interessiert, sind Alltagsthemen: das, was ich auf der Strasse beobachte und höre. Als Selbständigerwerbende bin ich strenger mit mir geworden und habe ein viel grösseres Arbeitspensum, mache viel weniger Urlaub. Ich muss weiterhin aufs Geld schauen, weil ich nicht einfach etabliert bin.

Ein stark ausgeprägtes Unrechtsbewusstsein ist mir geblieben. Das soziale Gefälle, das heute entsteht, ist völlig ungesund. Unsere Demokratie wird unterhöhlt. Wir müssten in der Schweiz die Steuern harmonisieren und den Börsengewinn besteuern!