Le Monde diplomatique: 26 Texte aus 25 Jahren (2000): Die zwei Gesichter des Hugo Chávez
Bei Einbruch der Dämmerung stieg Carlos Andrés Pérez aus dem Flugzeug, mit dem er gerade von Davos nach Caracas zurückgekehrt war, und sah zu seiner Verwunderung General Fernando Ochoa Antich, seinen Verteidigungsminister, auf der Gangway stehen. „Was ist los?“, fragte er misstrauisch. Der Minister beruhigte ihn mit so überzeugenden Worten, dass der Präsident sich nicht in den Regierungspalast Miraflores im Herzen von Caracas fahren ließ, sondern in seine Residenz in La Casona. Er war gerade eingeschlafen, als er durch einen Telefonanruf des nämlichen Ministers geweckt wurde, der ihn von einem Militäraufstand in Maracay unterrichtete. Kaum war er in Miraflores eingetroffen, donnerten die ersten Artilleriesalven los.
Man schrieb den 4. Februar 1992. Mit der ihm eigenen sakramentalen Verehrung für geschichtsträchtige Daten gab Oberst Hugo Chávez Frías den Angriffsbefehl in seiner improvisierten Kommandozentrale im Historischen Museum von La Planicie. Der Präsident erkannte bald, dass nur die Unterstützung des Volkes ihm noch helfen konnte, und begab sich in die Fernsehstudios von Venevisión, um sich an die Bevölkerung zu wenden. Zwei Stunden später war der Militärputsch gescheitert. Chávez kapitulierte unter der Bedingung, dass man auch ihn eine Rede im Fernsehen halten ließe.
Der junge kreolische Oberst, in Fallschirmjägermütze und mit bewundernswerter Sprachbegabung, übernahm die volle Verantwortung für den Aufstand. Aber die Ansprache wurde ein politischer Erfolg. Chávez saß zwei Jahre im Gefängnis, bis er von Präsident Rafael Caldera begnadigt wurde. Viele seiner Anhänger und nicht wenige seiner Feinde waren jedoch der Ansicht, dass er mit dem beredten Eingeständnis seines Scheiterns bereits die Wahlkampagne eröffnet hatte, die ihm 1999 schließlich die Präsidentschaft einbrachte.
Diese Geschichte erzählte mir Präsident Hugo Chávez, als wir vor einiger Zeit an Bord einer venezolanischen Militärmaschine von Havanna nach Caracas flogen. Wir hatten uns drei Tage zuvor bei einem Treffen in Havanna mit den Präsidenten Fidel Castro und Andrés Pastrana kennen gelernt, und was mich auf Anhieb beeindruckte, war die Kraft seines stählernen Körpers. Er besaß die spontane Herzlichkeit und kreolische Anmut eines waschechten Venezolaners. Wir hätten uns gern ein weiteres Mal getroffen, fanden aber beide nicht die Zeit dazu, weshalb wir gemeinsam nach Caracas flogen, um uns im Flugzeug über sein wechselvolles Leben und seine Zukunftspläne zu unterhalten.
Für einen Reporter im Ruhestand war es eine spannende Erfahrung. Während er mir sein Leben erzählte, sollte ich eine Persönlichkeit kennen lernen, die nicht das Geringste mit dem Bild des Despoten Chávez gemein hatte, wie es die Medien vermittelten. Neben mir saß ein anderer Chávez. Welcher von beiden war der echte?
Der schwerste Vorbehalt gegen seine Person während des Wahlkampfs bezog sich auf seine Vergangenheit als Verschwörer und Putschist. Doch die Geschichte Venezuelas hat davon schon einige verkraftet. Es begann mit Rómulo Betancourt, der – ob zu Recht oder nicht – als Vater der venezolanischen Demokratie gilt und Isaías Medina Angarita gestürzt hatte, einen alten demokratischen Militär, der sich vorgenommen hatte, das Land von 36 Jahren Juan Vicente Gómez zu reinigen. Gegen Betancourts Nachfolger, den Schriftsteller Rómulo Gallegos, putschte General Marcos Pérez Jiménez, der elf Jahre an der Macht blieb, bevor er sich von einer Generation junger Demokraten entthronen lassen musste. Mit ihnen begann die längste Phase, in der Venezuela gewählte Präsidenten hatte.
Der Putsch vom Februar 1992 scheint die einzige Sache zu sein, die Oberst Chávez je misslungen ist. Er selbst sieht die Sache von ihrer positiven Seite, als einen Rückschlag, den er der Vorsehung verdankt. Das ist seine Art, sich Glück oder Intelligenz oder Intuition oder Cleverness zu erklären – oder wie immer man das magische Etwas nennen soll, das sein Handeln beflügelt, seit er in Sabaneta, Provinz Barinas, am 28. Juli 1954 geboren wurde. Der überzeugte Katholik Chávez schreibt sein gütiges Geschick einem mehr als hundert Jahre alten Amulett zu, das er seit seiner Jugend trägt und das er von einem Urgroßvater mütterlicherseits geerbt hat, von Oberst Pedro Pérez Delgado, den er sich zum Schutzhelden erkor.
Das Grundschullehrergehalt seiner Eltern reichte nur knapp zum Leben, und von seinem neunten Lebensjahr an musste der Junge ihnen helfen, indem er Früchte und Süßigkeiten von einem Karren verkaufte. Hin und wieder besuchte er auf einem Esel seine Großmutter mütterlicherseits im Nachbardorf Los Rastrojos, das ihm wie eine Stadt vorkam, weil es einen Stromgenerator hatte, der in den ersten Nachtstunden für Licht sorgte, und eine Hebamme, die ihn und seine vier Geschwister zur Welt gebracht hatte.
Nach dem Willen seiner Mutter hätte er Priester werden sollen, brachte es aber nur zum Messdiener, der die Glocken so zartfühlend läutete, dass man ihn daran erkannte. „Hört, das ist wieder Hugo, der läutet“, hieß es dann. Unter den Büchern seiner Mutter fand er eine schicksalhafte Enzyklopädie, deren erstes Kapitel ihn gleich in Bann schlug: „Wie man im Leben Erfolg hat“. In Wirklichkeit war das Buch ein Ratgeber für alle möglichen Berufskarrieren, und er hat sie praktisch alle ausprobiert. Als Maler, der Michelangelo und seinen David bewunderte, gewann er im Alter von zwölf Jahren den ersten Preis bei einem Wettbewerb. Als Musiker wurde er mit seinen Gitarrenkünsten und seiner Stimme für Geburtstage und abendliche Darbietungen unentbehrlich. Im Baseball war er ein vorzüglicher Catcher. Die militärische Laufbahn stand nicht auf der Liste und wäre ihm selbst auch gar nicht in den Sinn gekommen, hätte ihm nicht eines Tages jemand erzählt, der kürzeste Weg in eines der großen Baseballteams führe über die Militärakademie von Barinas.
Traum von der Karriere als Baseballprofi
Und wieder muss dabei sein Amulett im Spiel gewesen sein, denn an genau diesem Tage trat der sogenannte Andrés-Bello-Plan in Kraft, der den Absolventen der Militärschulen den Zugang zur höchsten Universitätslaufbahn eröffnete. Chávez studierte Politikwissenschaft, Geschichte und Marxismus-Leninismus. Seine große Leidenschaft galt dem Studium von Leben und Werk des Simón Bolívar, dessen Proklamationen er auswendig lernte.
Dann kam sein erster bewusster Konflikt mit der aktuellen Politik: der Tod von Salvador Allende im September 1973. Chávez war fassungslos. Warum nur putscht das chilenische Militär gegen Allende, wo das chilenische Volk ihn doch gewählt hat? Kurz darauf erhielt er vom Hauptmann seiner Kompanie den Auftrag, einen Sohn von José Vicente Rangel zu überwachen, der als Kommunist galt. „Du glaubst nicht, wie das Leben so spielt“, erzählte mir Chávez unter schallendem Gelächter. „Sein Vater ist heute mein Außenminister.“
Damit nicht genug. Zum Abschluss seiner Ausbildung bekam er – Ironie des Schicksals – seinen Säbel ausgerechnet von dem Präsidenten überreicht, den er 20 Jahre später stürzen wollte: Carlos Andrés Pérez. „Sie waren ja sogar drauf und dran, ihn umzubringen“, meinte ich, aber Chávez protestierte: „Keineswegs. Wir hatten vor, eine verfassunggebende Versammlung einzuberufen und dann in die Kasernen zurückzukehren.“
Vom ersten Moment an fiel mir auf, dass er ein begnadeter Erzähler war. Ein echtes Produkt der turbulenten und schöpferischen Volkskultur Venezuelas. Er hat ein ausgezeichnetes Zeitgefühl und ein geradezu übernatürliches Gedächtnis, das es ihm erlaubt, Gedichte von Neruda oder Whitman und ganze Seiten von Rómulo Gallegos auswendig zu zitieren.
In früher Jugend hatte er durch Zufall entdeckt, dass sein Urgroßvater nicht, wie seine Mutter gern behauptete, ein gefährlicher Mordgeselle war, sondern ein bemerkenswerter Militär aus der Zeit von Juan Vicente Gómez. Chávez war von seinem Vorfahren so begeistert, dass er beschloss, ein Buch über ihn zu schreiben und sein Andenken reinzuwaschen. Er stöberte in Archiven und Militärbibliotheken und zog mit dem Rucksack des Forschungsreisenden von Dorf zu Dorf, um die Marschrouten seines Urgroßvaters mittels Überlebenden und Zeitzeugen zu rekonstruieren. Seit damals hat der Urgroßvater einen Platz auf seinem Heldenaltar, seit damals trägt Chávez das schützende Amulett seines Vorfahren.
Damals überschritt er einmal, ohne es zu merken, die Grenze auf der Brücke von Arauca. Der kolumbianische Hauptmann, der seinen Rucksack durchsuchte, fand handfeste Gründe, ihn der Spionage zu verdächtigen: Er hatte einen Fotoapparat dabei, ein Aufnahmegerät, diverse Geheimdokumente, Fotos von der Region, eine Militärkarte mit Markierungen und zwei Dienstpistolen. Die Ausweispapiere konnten, wie es sich für einen Spion gehört, durchaus gefälscht sein.
Die Vernehmung in einem Büro, in dem das einzige Bild an der Wand Simón Bolívar hoch zu Ross zeigte, zog sich über mehrere Stunden hin. „Ich war mit meinen Kräften fast am Ende“, erläuterte mir Chávez, „denn je mehr ich erklärte, desto weniger verstand er mich.“ Bis ihm der rettende Satz einfiel: „Ist das Leben nicht seltsam, Herr Hauptmann? Vor kaum hundert Jahren hätten wir in derselben Armee gedient, und der Mann, der uns von diesem Bild herabanschaut, wäre unser beider Chef gewesen. Wie könnte ich da ein Spion sein?“ Der Hauptmann war bewegt; er begann überschwänglich von Großkolumbien zu erzählen, und sie beendeten die Nacht in einer Bar von Arauca, wo sie Bier aus beiden Ländern tranken. Am nächsten Morgen hatten sie beide einen ordentlichen Kater, der Hauptmann übergab Chávez seine Forscherausrüstung und umarmte ihn zum Abschied mitten auf der Brücke im Niemandsland.
„Zu jener Zeit gewann ich die feste Überzeugung, dass in Venezuela etwas nicht in Ordnung war“, erinnert sich Chávez. Man hatte ihn zum Kommandanten einer 13-köpfigen Militäreinheit und einer Fernmeldetruppe ernannt, die in der Provinz Oriente die letzten Bastionen der Guerilleros zerschlagen sollten. In einer regengepeitschten Nacht bat ein Oberst des Geheimdienstes mit einer Patrouille Soldaten und einigen bleichen, abgezehrten Gefangenen, angeblichen Guerilleros, um Unterschlupf in seinem Lager. Gegen zehn Uhr, als Chávez gerade am Einschlafen war, hörte er im Nachbarzimmer erstickte Schreie. „Es stellte sich raus, dass die Soldaten die Gefangenen mit Baseballschlägern traktierten, die sie mit Stoff umwickelt hatten, um keine Spuren zu hinterlassen“, erzählte Chávez. Wütend forderte er den Oberst auf, ihm die Gefangenen auszuliefern oder zu verschwinden, weil er es nicht akzeptieren konnte, dass in seinem Kommando jemand gefoltert wurde. „Am folgenden Tag drohten sie mir wegen Befehlsverweigerung mit einem Militärgericht“, erzählte Chávez weiter, „aber sie beschränkten sich dann darauf, mich nur eine Zeit lang unter Sonderaufsicht zu stellen.“
Wenige Tage später hatte er noch ein wichtigeres Schlüsselerlebnis. Auf dem Vorplatz des Lagers landete ein Hubschrauber mit mehreren schwer verletzten Soldaten, die in einen Hinterhalt der Guerilleros geraten waren. Chávez trug einen Soldaten mit mehreren Schussverletzungen in den Armen, der ihn angsterfüllt anflehte: „Lassen Sie mich nicht sterben, Herr Leutnant ...“ Er schaffte es gerade noch, ihn in einen Wagen zu legen. Dann starb der Mann, und mit ihm sieben andere. Als Chávez in dieser Nacht schlaflos in seiner Hängematte lag, fragte er sich: „Was tue ich hier? Auf der einen Seite sind Bauern in Uniform, die bäuerliche Guerilleros foltern, auf der anderen Seite bäuerliche Guerilleros, die Bauern in Uniform töten. Jetzt, da der Krieg beendet war, hatte es doch keinen Sinn mehr, noch auf jemanden zu schießen.“ Und Chávez beendete die Geschichte mit den Worten: „In dem Moment hatte ich meine erste existenzielle Krise.“
Am nächsten Tag erwachte er mit der Überzeugung, dass er dazu bestimmt sei, eine Bewegung zu gründen. Und das tat er auch, im Alter von 23 Jahren. Ihr Name: Venezolanische Volksarmee Simón Bolívar. Die Gründungsmitglieder: fünf Soldaten und er selbst, ein Unterleutnant. „Mit welchem Ziel?“, fragte ich. „Mit dem Ziel“, sagte er freimütig, „uns vorzubereiten für den Fall eines Falles.“ Ein Jahr später – er war inzwischen Fallschirmjägeroffizier in einem Panzerbataillon in Maracay – begann er die Verschwörung auszuweiten. Er erklärte mir allerdings, er meine das Wort Verschwörung lediglich im übertragenen Sinne, als Zusammenschluss von Gleichgesinnten.
Das war der Stand der Dinge, als am 17. Dezember 1982 etwas Unerwartetes geschah, das für Chávez einen wichtigen Einschnitt in seinem Leben markiert. Er war mittlerweile Hauptmann im zweiten Fallschirmjägerregiment und Offiziersadjutant des Geheimdienstes. Aus heiterem Himmel beauftragte ihn der Regimentskommandant, Àngel Manrique, vor 1 200 Soldaten und Offizieren eine Rede zu halten. Um ein Uhr nachmittags, das Bataillon war bereits auf dem Sportplatz angetreten, erteilte ihm der Zeremonienmeister das Wort. „Und Ihre Rede?“, fragte ihn der Regimentskommandant, als er ihn ohne ein Blatt Papier aufs Podium steigen sah. „Ich habe sie nicht aufgeschrieben“, erwiderte Chávez. Und begann zu improvisieren. Es war ein kurze, von Bolívar und Martí inspirierte Rede, mit einem Exkurs über die ungerechte und beklemmende Situation Lateinamerikas, noch 200 Jahre nach der Unabhängigkeit.
Die Offiziere hörten ihm mit unbewegter Miene zu. Unter ihnen waren auch die mit seiner Bewegung sympathisierenden Hauptleute Felipe Acosta Carle und Jesús Urdaneta Hernández. Wutentbrannt, und so, dass es alle hören konnten, empfing ihn der Garnisonskommandant mit den Worten: „Chávez, man könnte Sie für einen Politiker halten.“ – „Zu Befehl“, antwortete Chávez. Da baute sich Felipe Acosta, ein Zweimetermann, vor dem Kommandanten auf und sagte: „Sie irren sich, Herr Kommandant, Chávez ist durchaus kein Politiker. Er ist ein Hauptmann der heutigen Generation, und wenn Leute wie Sie hören, was er zu sagen hat, dann kriegen sie es mit der Angst zu tun.“
Machtinstinkt in unübersichtlichen Zeiten
Daraufhin ließ der Kommandant die Truppe strammstehen und sagte: „Ich möchte, dass Sie wissen, dass Hauptmann Chávez’ Rede von mir autorisiert war. Ich habe ihm den Befehl gegeben, sie zu halten. Und alles, was er gesagt hat, obwohl es nicht schriftlich vorlag, hat er mir gestern mitgeteilt.“ Er legte eine effektvolle Pause ein und fügte im Befehlston hinzu: „Und dass mir die Sache nicht nach außen dringt!“
Nach der Veranstaltung ritt Chávez mit den Hauptleuten Félipe Acosta und Jesús Urdaneta zum zehn Kilometer entfernten Samán del Guere, wo sie den feierlichen Schwur Simón Bolívars auf dem Monte Aventino erneuerten. „Den Schluss habe ich natürlich geändert“, sagte Chávez. Anstatt „wenn wir die Ketten gesprengt haben, die uns nach dem Willen der spanischen Krone gefangen halten“, sagten sie: „Bis dass wir die Ketten sprengen, die uns und das Volk nach dem Willen der Mächtigen gefangen halten.“
Seither mussten alle Offiziere, die sich der geheimen Bewegung anschlossen, diesen Schwur leisten. Jahrelang veranstalteten sie heimliche Kongresse mit einer immer größeren Zahl von Armeeangehörigen aus dem ganzen Land. „Über zwei Tage hinweg organisierten wir Treffen an verborgenen Orten, diskutierten und analysierten die Situation des Landes, knüpften Kontakte zu bürgerlichen Gruppierungen und Freunden. In zehn Jahren gelang es uns, fünf Kongresse zu veranstalten, ohne entdeckt zu werden.“
An diesem Punkt des Gesprächs konnte sich der Präsident ein Grinsen nicht verkneifen und verriet mir mit maliziösem Lächeln: „Nun, wir haben immer gesagt, dass wir anfangs zu dritt waren. Inzwischen können wir zugeben, dass es einen vierten Mann gegeben hat, dessen Identität wir stets geheim gehalten haben, um ihn zu schützen. Denn er war an jenem 4. Februar nicht aufgeflogen und diente weiter in der Armee. Heute aber können wir verraten, dass sich dieser vierte Mann zusammen mit uns hier in der Maschine befindet.“ Er wies mit dem Finger auf einen Mann in einer entfernten Sitzreihe und sagte: „Oberst Badull!“
Das wichtigste Ereignis im Leben von Kommandant Chávez jedoch war El Caracazo, der Volksaufstand, der sich im Februar 1989 in Caracas ausbreitete. Er betonte mehrfach: „Wissen Sie, Napoleon hat behauptet, dass für den Ausgang einer Schlacht eine momentane Eingebung des Strategen entscheidend ist.“ Aus diesem Gedanken entwickelte Chávez drei Begriffe: die historische Stunde, die strategische Minute und schließlich die taktische Sekunde.
Dann war der historische Moment da, und sie waren nicht darauf vorbereitet. „Wir wurden von der strategischen Minute überrascht“, räumte Chávez ein. Er spielte natürlich auf den Volksaufstand vom 27. Februar 1989 an: El Caracazo. Gerade hatte Carlos Andrés Pérez mit komfortablem Vorsprung die Präsidentschaftswahlen gewonnen, umso unbegreiflicher war, wie zwanzig Tage später eine so gewaltsame Revolte ausbrechen konnte.
„Am Abend des 27. war ich auf dem Weg zu einem Doktorandenkolloquium an der Universität und fuhr noch vorher bei der Tiuna-Kaserne vorbei, um mir von einem Freund etwas Benzin für den Rückweg geben zu lassen“, erzählte mir Chávez wenige Minuten vor unserer Landung in Caracas. „Da sehe ich, dass Truppen in Marsch gesetzt werden, und frage einen Oberst: Wohin gehen diese ganzen Soldaten? Weil sie nämlich Leute von den Versorgungstruppen losschickten, die für den Kampf gar nicht ausgebildet waren, erst recht nicht für den Straßenkampf; einfache Rekruten waren das, denen schon das Gewehr in ihrer Hand Angst machte. Deshalb fragte ich den Oberst: Wohin geht dieses Häufchen Leute? Darauf der Oberst: Auf die Straße. Ich habe Befehl, dem Aufruhr mit allen Mitteln Einhalt zu gebieten. – Mein Gott, Herr Oberst, sage ich zu ihm, ist Ihnen denn klar, was da passieren kann? Und er: Hören Sie, Chávez, Befehl ist Befehl, da ist nichts zu machen.“
Chávez weiß noch, dass er die Röteln hatte und hohes Fieber an jenem Abend. Als er losfuhr, sah er einen jungen Soldaten mit verrutschtem Helm, herabhängendem Gewehr und loser Munition angelaufen kommen. „Ich sprach ihn an. Er steigt ein, völlig nervös und schweißgebadet, ein Junge von 18 Jahren. Na, wo willst du denn hin, so schnell? – Ich habe meine Einheit verloren, sagt er, dort vorne in dem Lastwagen fährt mein Leutnant. Bringen Sie mich hin, Herr Major, bitte. Ich hole also den Lastwagen ein und frage den Fahrer: Wo soll’s denn hingehen? Worauf er zur Antwort gibt: Keine Ahnung. Wer, zum Teufel, soll das wissen?“
Chávez holt tief Luft, schreit fast, weil ihn die Angst jener Nacht noch einmal packt: „Weißt du, da schicken sie die Soldaten auf die Straße, mit ihrer Furcht, jeder bekommt ein Gewehr und fünfhundert Patronen. Und sie schießen natürlich einfach drauflos. Sie haben mit Gewehrfeuer die Straßen freigefegt, die Anhöhen und die Armenviertel. Es war eine Katastrophe! Es gab tausende Tote, unter ihnen Felipe Acosta. Mein Instinkt sagt mir, dass sie ihn in den Tod geschickt hatten“, meint Chávez. „Das war die Minute, auf die wir gewartet hatten.“ Gesagt, getan: am nächsten Tag begannen die Vorbereitungen für den Putsch, der drei Jahre später scheitern sollte.
Gegen drei Uhr morgens landete unsere Maschine in Caracas. Durch das Fensterchen sah ich auf das Lichtermeer dieser unvergesslichen Stadt, in der ich drei für Venezuela, aber auch für mich entscheidende Jahre gelebt hatte. Der Präsident verabschiedete sich von mir mit karibischer Herzlichkeit. Während er sich mit seiner Eskorte von hochdekorierten Militärs entfernte, fröstelte mich bei dem Gedanken, dass es zwei grundverschiedene Männer waren, mit denen ich mich auf einer gemeinsamen Reise so angenehm unterhalten hatte: Der eine, dem sein unverwüstliches Glück die Chance präsentiert hatte, sein Land zu retten; der andere ein Traumtänzer, der sehr wohl einmal als ein weiterer Despot in die Geschichte eingehen könnte.
Aus dem Spanischen von Christian Hansen
Gabriel García Márquez (1927-2014) war kolumbianischer Schriftsteller und Journalist, 1982 erhielt er den Literaturnobelpreis; Kiepenheuer & Witsch (Köln) hat seine Bücher auf Deutsch verlegt: „Der Oberst hat niemand, der ihm schreibt“ (1961), „Hundert Jahre Einsamkeit“ (1967), „Der Herbst des Patriarchen“ (1975), „Chronik eines angekündigten Todes“ (1981), „Die Liebe in den Zeiten der Cholera“ (1985). Dieser Text erschien im August 2000 in LMd.