Le Monde diplomatique: 26 Texte aus 25 Jahren (2002): Afrikanische Nachhaltigkeit

Nr. 41 –

Im Verhältnis zu Gegenwart und Zukunft herrschte in Afrika bis vor Kurzem die Einstellung vor, dass der Tod zwar unvermeidlich, aber doch in dem Maße erträglich sei, als eine neue Generation an die Stelle der vorhergehenden tritt. Diese Möglichkeit des Weiterlebens über die eigene Person hinaus verstand man als „Nachhaltigkeit“.

Kein Mensch wurde für arm gehalten, solange es jemanden gab, auf den er sich verlassen konnte. Deshalb ist in unseren Gesellschaften die Fortpflanzung von so entscheidender Bedeutung; und dies im Sinne nicht nur der Zeugung einer großen Zahl von Kindern, sondern auch von männlichen oder weiblichen Nachkommen mit sozialen und moralischen Qualitäten und körperlicher und geistiger Gesundheit, die gewährleisten, dass das Leben fortdauert.

Entsprechend wurden alle Vorkehrungen getroffen, um das Feuer niemals erlöschen zu lassen. Die Verbundenheit mit der Natur, die verschiedenen Formen von Solidarität waren die Garanten dieses Fortbestehens, das nachhaltiger war als eine lange Lebensdauer. Mit einer Opfergabe, die aus Kolanuss, Milch oder Getreide bestand, bat man den Baum, den man fällen, oder die Erde, die man vor dem Bestellen aufbrechen wollte, um Verzeihung.

Die ersten Ernten waren Anlass zu kulturellen Zeremonien, die die Menschen zusammenführten und an die dringende Notwendigkeit gemahnten, im Einklang mit der Umwelt zu leben und sie zu schonen. Über derartige Formen der Erfahrung und der Lebensweisheit können manche Technokraten selbstverständlich nur lächeln. Die postkolonialen Staaten haben sich zu deren neuer Religion bekehrt; und seit der Unabhängigkeit erwarten wir vergeblich, dass diese Religion ihre Versprechen einlöst.

Es trifft sich gut, dass in Johannesburg zehn Jahre nach dem Gipfel von Rio der afrikanische Kontinent als Gastgeber der Weltkonferenz über nachhaltige Entwicklung auftritt. Aber Entwicklung – auch nachhaltige Entwicklung – ist nur ein weiteres Schlüssel- und Schlagwort. Dieses Wort ist insofern fragwürdig, als es den ehemaligen Kolonialmächten die Fortsetzung ihrer „zivilisatorischen“ Mission ermöglicht, diesmal allerdings mit komplizenhafter Unterstützung der lokalen Eliten, die nun ihrerseits die eigenen Völker hinters Licht führen und unterjochen.

Der konzeptionelle Rahmen dieses Betrugs ist die liberal(istisch)e Globalisierung. Doch deren Fehlschläge und verheerende Folgen entmutigen uns nicht, zumal sich eine Autorität wie Joseph Stiglitz, der ehemalige Chefökonom der Weltbank und Träger des Nobelpreises für Wirtschaft, zu Wort meldet und sagt: „Die heutige Globalisierung funktioniert nicht für die Armen auf der Welt. Sie funktioniert nicht für die Umwelt. Und sie funktioniert nicht für die Stabilität der Weltwirtschaft.“ Im Lichte dessen, was wir über das herrschende ökonomische System und die Schuldbekenntnisse der Institutionen von Bretton Woods wissen, hätte Afrika mehr als jede andere Region der Welt bestrebt sein müssen, sein Schicksal wieder in die eigene Hand zu nehmen. Doch nichts geschieht.

Unsere führenden Politiker täuschen sich lieber über die Art der Herausforderung hinweg und sahnen die Dividenden der Unterwerfung ab. Für die meisten von ihnen kommen an erster Stelle immer noch satte Investitionen in kostspielige Infrastrukturen, die bei Weitem nicht immer notwendig sind und nur die laufenden Auslandsschulden in die Höhe treiben.

Lokale Eliten als Komplizen

Das beweist ihre jüngste Erfindung: die „Neue Partnerschaft für die Entwicklung Afrikas“ (Nepad). Die Väter dieses neoliberalen Projekts, des ehrgeizigsten, das sich führende afrikanische Politiker jemals ausgedacht haben, sind zuversichtlich und heiter entspannt. Und sie sind es trotz aller Warnungen vieler Organisationen innerhalb der afrikanischen Gesellschaft.

Die Partner, die sie sich ausgesucht haben und die ihnen wichtiger sind als ihr eigenes Volk – in diesem Fall die G8-Staaten, der Internationale Währungsfonds (IWF), die Weltbank und die Welthandelsorganisation (WTO) – meinen es mit ihren Resolutionen zur Armutsbekämpfung und zum Umweltschutz nicht ehrlich. Die sintflutartigen Regenfälle im Norden des Planeten, die Dürren und Hungersnöte in Ostafrika – die man auch für Westafrika befürchtet – reichen nicht aus, um die Verfechter des „totalen Marktes“, allen voran die mächtige US-amerikanische Regierung, zum Nachgeben zu bewegen.

Deren Arroganz kennt keine Grenzen, ob es sich um die Entschädigung für die Nachkommen von Afrikanern handelt, die als Sklaven deportiert wurden (Konferenz in Durban 2001), oder um Subventionen für den Agrarexport (Gipfel der Welternährungsorganisation FAO in Rom 2002), um die Finanzierung der Entwicklung (Konferenz in Monterrey 2002), die Emission von Treibhausgasen (Protokoll von Kioto 1997) oder den Internationalen Strafgerichtshof (ICC).

Doch über vier Jahrzehnte Entwicklungspolitik haben klaffende, schmerzhafte Wunden hinterlassen. Die Afrikaner und Afrikanerinnen, die unwissentlich in diese Strategien hineingezogen wurden, leben in ihrer großen Mehrheit unter äußerst prekären Bedingungen. Analphabetismus, Arbeitslosigkeit, Unterernährung, Hungersnöte und Krankheiten entfalten weiterhin ihre zerstörerische Kraft.

Geschwächt ist die Bevölkerung in der einzelnen Länder auch dadurch, dass ihre kulturellen Orientierungspunkte verschwommen sind und ihre Bedeutung verloren haben. Natürlich erfinden sich die Menschen neue Bezüge auf allen Gebieten, und sie setzen sich nach Kräften zur Wehr, mit mehr oder weniger Erfolg. Als Möglichkeiten der Flucht bieten sich für die Opfer der Entwicklung und der kommerziellen Globalisierung in Afrika der Rückzug auf die eigene Identität an, aber auch Individualismus, Fanatismus, Exil, Gewalt und Wahnsinn.

Die Migrationsbewegungen, die den Entscheidungsträgern in den reichen Ländern so viel Kopfzerbrechen bereiten, müssen im Licht dieser Tragödie neu betrachtet werden. Ungesicherte Verhältnisse sind zuallererst das Los von Frauen und Kindern, von Arbeitern und Bauern, von Alten und Behinderten, die weiterhin im Namen der Entwicklung getäuscht und in die Verarmung getrieben werden. Sie ziehen fort, weil sie im Leben auf ihrem eigenen Land und nach ihren eigenen Normen keinen Sinn mehr erkennen können.

In den Gebieten mit verstärkter Abwanderung (ob Städte, Stadtviertel oder Dörfer) leben die Afrikaner(innen), die über keine Einkommensquellen und Subsistenzmittel verfügen, in der Angst vor physischer Auslöschung – infolge der steigenden Lebensmittelpreise und der Privatisierung der öffentlichen Dienstleistungen und insbesondere der gesundheitlichen Versorgung. Zahlungsunfähige Kranke sind tatsächlich zum Sterben verurteilt. Und das Überleben nimmt die unterschiedlichsten Formen an: des sich Durchlavierens, von Kinderarbeit oder zusätzlicher Arbeit für die Frauen, von Betteln oder Prostitution (trotz Aids), von Diebstahl und Gewaltverbrechen.

Während sich die sozialen Bindungen auflösen und die kulturellen Bezugspunkte verschwinden, vollzieht sich gleichzeitig in erschreckendem Tempo eine Verknappung der natürlichen Ressourcen. Die Wälder werden abgeholzt, von den multinationalen Konzernen zur Nutzholzgewinnung, von den armen Leuten für Brennholz und als Einkommensquelle. Der Druck der demografischen Entwicklung, den die herrschende Theorie für diese Situation verantwortlich macht, ist sicher ein wichtiger Sachzwang, aber dafür hätte eine Lösung gefunden werden können und gefunden werden müssen, etwa mittels Erziehung und Ausbildung vor allem der der Frauen.

Wenn es um ihre Interessen geht, erklären die Mächtigen der Welt die Ursachen unserer Not zu deren Lösung, blockieren finanzielle Ressourcen und betrügen, indem sie die Spielregeln untereinander festlegen. Der Hunger – von dem 800 Millionen in der Welt betroffen sind, in der Mehrheit Afrikaner(innen) – stellt für die Verfechter der Theorie von der nachhaltigen Entwicklung mehr denn je eine Herausforderung dar. Auch die Aidsseuche, die die Bevölkerung des Kontinents dezimiert, obwohl sie eingedämmt werden könnte, ist eine Herausforderung für die afrikanischen Eliten, die weiterhin auf die falsche Partnerschaft setzen.

Wie sollte man von dem Johannesburger Gipfel viel erwarten, wo sich doch im internationalen Umfeld unbehelligt der Unilateralismus der USA breit macht, die Doppelzüngigkeit, die Zögerlichkeit und der Verrat der europäischen Länder, die allgegenwärtige Einmischung von IWF und Weltbank in Afrika, deren Aktivitäten völlig straflos bleiben, die Korruption und der Mangel an Visionen bei den afrikanischen Führern, wie auch die Instrumentalisierung aller Versuche einer gesellschaftlichen Organisierung.

Es ist wenig wahrscheinlich, dass die Industriestaaten nach der Erschütterung im Gefolge des 11. September und nach der Lawine von Finanzskandalen während der vergangenen Monate (Enron, Worldcom, Xeros, Vivendi Universal usw.) größere Aufmerksamkeit für die Not auf unserem Kontinent aufbringen als in der Vergangenheit.

Wie soll man die legitime Hoffnung auf Wiedererlangung unserer ökonomischen, politischen, sozialen und kulturellen Rechte verbalisieren, wenn die Wörter nicht nur falsch klingen, sondern ein Teil der Not der Menschen sind? Warum werden wir nicht kreativ und schöpfen aus dem reichen sprachlichen Erbe unseres Kontinents Begriffe, die vom Menschen und von seiner Umwelt sprechen und die für die Völker eine wirkliche Bedeutung haben?

Das Konzept der Entwicklung und das der neoliberalen Globalisierung entspringen der gleichen entmenschlichten Logik. Für Afrika kommt es darauf an, diesen Begriffen Prinzipien des Lebens und Wertvorstellungen entgegenzusetzen, die den Menschen in den Vordergrund rücken: Demut gegen Arroganz, Respekt vor und Sorge für die anderen Menschen, insbesondere für die künftigen Generationen, gegen die Haltung des Alles-für-sich-selbst und Nur-für-sich-selbst.

Dieses kreative Bemühen müssen vor allem die politischen Akteure und Organisationen in den afrikanischen Gesellschaften zu ihrer Sache machen. Sie müssen eine kritische Masse von Bürgerinnen und Bürgern zusammenbringen, die den wahren Charakter des Weltsystems einzuschätzen wissen und die der politischen Öffnung Afrikas einen anderen Sinn geben als den, vermarktet zu werden.

Aus dem Französischen von Sigrid Vagt

Aminata Traoré ist Autorin und politische Aktivistin. Sie war von 1997 bis 2000 Ministerin für Kultur und Tourismus in Mali und Koordinatorin des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen. Dieser Text erschien im September 2002 in LMd.