Dossier Generalstreik: Was kostet uns die Friedenspflicht?

Mit dem Friedensabkommen von 1937 machte die Gewerkschaft Smuv auf dem Weg zur Sozialpartnerschaft einst Geschichte. Vorteile und Nachteile aus heutiger Sicht.

Dass sich die Einstellungen geändert haben, zeigt der Umgang mit dem Friedensabkommen in jüngster Zeit: Noch 1987 luden der Arbeitgeberverband ASM und die Gewerkschaft Smuv in Zürich gemeinsam zu einer grossen Veranstaltung ein, um die historische Vereinbarung von 1937 zu feiern. Es war der fünfzigste Jahrestag. Zehn Jahre später: keine gemeinsamen Feiern, keine gemeinsamen Verlautbarungen. Niemand wäre auf die Idee gekommen. Im Gegenteil: Die Gewerkschaft Smuv beklagte anlässlich des sechzigsten Jahrestages die zunehmende Aushöhlung der Gesamtarbeitsverträge und der Sozialpartnerschaft durch die Arbeitgeber. Kein Wunder: Zwischen diesen zwei Jubiläen liegt eine Flut neoliberaler Deregulierungsmassnahmen, Betriebsschliessungen und Massenentlassungen. In diesen zehn Jahren ist der «Shareholder-Value» immer mehr zum Diktat für die Politik der Betriebe geworden.

Wohlstand dank Arbeitsfrieden?

Nachhaltig geprägt hat die Schweizer Wirtschaft der Nachkriegszeit die 1937 vom Smuv eingegangene Friedenspflicht in der Maschinenindustrie. Sie ist zum vorherrschenden Modell für die Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmerorganisationen überhaupt geworden. Aber die Frage stellt sich: Hat der Arbeitsfrieden wirklich mehr Wohlstand gebracht, an dem immer mehr Beschäftigte in den Zeiten der Hochkonjunktur beteiligt waren – mit besseren Löhnen, mehr Ferien, besseren Arbeitsbedingungen und kürzeren Arbeitszeiten?

Die Analyse ist nicht sehr einfach. Auch die Schweiz der Nachkriegszeit erlebte periodisch Arbeitskonflikte. Und über die Jahrzehnte gemessen steht die Schweiz mit dem Wachstum des Bruttoinlandprodukts im OECD-Vergleich nicht etwa an der Spitze. Auch die Arbeitslosenrate wurde in den Krisen der siebziger und achtziger Jahre nur über die Vertreibung ausländischer Arbeitskräfte verhältnismässig tief gehalten. Die Lohnentwicklung hinkte ständig weit hinter der Produktivitätsentwicklung her, und in Sachen Arbeitszeit ist das Land mit durchschnittlich 41 bis 42 Stunden pro Woche europäische Spitzenreiterin. Es scheint also, dass die Lohnabhängigen in den letzten fünfzig Jahren nur beschränkt vom hohen Produktions- und Produktivitätsniveau profitierten.

Die gesamtarbeitsvertraglichen Regelungen seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges haben allerdings entscheidend zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen beigetragen. Diese gehen weit über die gesetzlichen Regelungen hinaus und haben sich umgekehrt auch positiv auf die gesetzlichen Normen ausgewirkt: Senkung der Arbeitszeiten, Regelung des Teuerungsausgleichs und des 13. Monatslohns, Festlegung von Mindest- oder Durchschnittslöhnen, vertraglich geregelte Zuschläge bei Nacht- und Sonntagsarbeit, Ferienanspruch über das rechtliche Minimum hinaus, verbesserter Versicherungsschutz und so weiter – die Gesamtarbeitsverträge haben eine bedeutende Schrittmacherfunktion ausgeübt. Aber das ist ein Erfolg von kollektivvertraglichen Regelungen und nicht einfach der Friedenspflicht an sich.

Den gesellschaftlichen Widerspruch hat die Krise der neunziger Jahre nun erheblich verschärft und den Graben zwischen Verlierern und Profiteuren weit aufgerissen. Die Umverteilung von unten nach oben ist in den letzten zehn Jahren in einem enormen Tempo vorangetrieben worden. Dass 1997 die Einkommen aus Kapitalgewinnen in der Schweiz das gesamte Lohnvolumen erstmals übersteigen, verdeutlicht diese Einschätzung.

Arbeitgeber und politische Rechte haben die «Globalisierung der Wirtschaft» dazu benutzt, um eine Deregulierungspolitik durchzusetzen und die Arbeit einseitig zulasten der Beschäftigten zu flexibilisieren, die Arbeitskosten zu senken – kurz, das Verhältnis zwischen Arbeit und Kapital zugunsten der Aktionäre zu verändern. Die Erfahrungen mit der siebenjährigen Krise der neunziger Jahre belegen dies: Die Exportwirtschaft hat in den Rezessionsjahren zugelegt, und zwar trotz hohem Frankenkurs. Während die Löhne in der Krise stagnierten, haben sich die Gewinne der über hundert grössten börsenkotierten Unternehmen innert weniger Jahre verdoppelt. Die Arbeitsproduktivität hat in der Maschinen- und Metallindustrie in den Krisenjahren um mehr als 20 Prozent zugenommen. Gleichzeitig wurden rund 80000 Arbeitsplätze abgebaut, bei durchschnittlich gleichbleibendem Produktionsniveau.

Die Schweiz gehört weltweit zu den konkurrenzfähigsten Wirtschaften. Dass die Arbeitgeber vom relativ guten Klima zwischen ihnen und den Gewerkschaften profitiert haben, darüber besteht kein Zweifel. Zusammen mit den zurückhaltenden Forderungen der Gewerkschaften in den Jahren der Hochkonjunktur trug die Friedenspflicht wesentlich zum Erfolg der Schweizer Wirtschaft bei.

Doch Deregulierung und die Krise der neunziger Jahre stellen jetzt auch die Sozialpartnerschaft in Frage. Der Angriff auf die Sozialpartnerschaft erfolgte von Arbeitgebern, die das sozialpartnerschaftliche Terrain mit radikaler Restrukturierung, Beschäftigungsabbau und Massenentlassungen umgepflügt haben und so auch den Arbeitsfrieden zur Disposition stellen. Entsprechend läuft der Trend in Richtung Aushöhlung der Gesamtarbeitsverträge: zum Beispiel mit dem Austritt von Arbeitgebern aus den branchenspezifischen Gesamtarbeitsverträgen, mit der Reduktion der GAV auf allgemeine Rahmenbedingungen, mit der Zunahme von GAV-Verletzungen oder mit der Kündigung von Branchenverträgen und der Schaffung eines vertragslosen Zustandes wie etwa im Gast- oder im Druckereigewerbe.

Offensive Unternehmen, schwache Gewerkschaften?

Friedensklauseln, kollektiv vereinbarte Schlichtungsverfahren und alle übrigen gesamtarbeitsvertraglichen Regelungen haben die Einflussmöglichkeiten der Gewerkschaften auf die Arbeitsbedingungen und den Schutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer während Jahrzehnten nicht nur gestärkt:

• Die vertragliche Friedenspflicht, vor allem die in der Mehrheit der GAV verankerte absolute Friedenspflicht, haben den Kampfgeist der Gewerkschaften und der Beschäftigten in den Betrieben geschwächt. Die aktuelle Mobilisierungsschwäche der Gewerkschaften hängt eng mit dem Vertragsmechanismus zusammen.

• Die jahrzehntealte Tradition der Sozialpartnerschaft und der Friedenspflicht hat auch das Streikrecht als verfassungsmässiges Grundrecht aus dem Bewusstsein breiter Schichten von Lohnabhängigen verdrängt.

• Mit der vertraglichen Friedenspflicht verzichtet die Gewerkschaft auf ein wirksames Instrument, mit spontanen und raschen Kampfmassnahmen auf Arbeitgeber zu antworten, die betriebliche Schwierigkeiten oder Restrukturierungen einseitig und oft sogar vertragswidrig zulasten der Lohnabhängigen lösen.

• In der öffentlichen Wahrnehmung hat der Verzicht auf Kampfmassnahmen die Gewerkschaften mehr geschwächt als gestärkt. Ihr realer Einfluss auf die Verbesserung der Arbeitsbedingungen der Lohnabhängigen wird oft gar nicht wahrgenommen. So ist es schwierig, den ohnehin tiefen gewerkschaftlichen Organisationsgrad und die Mobilisierungsfähigkeit zu erhöhen.

Für viele Arbeitgeber und deren Verbände sind Gewerkschaften nur noch überflüssige Störfaktoren. Die harten Auseinandersetzungen um die Erneuerung des GAV in der Schweizer Maschinenindustrie belegen diese Tendenz. Die Aushöhlung und die Abwertung der Gesamtarbeitsverträge in Richtung minimaler Rahmenverträge – ohne verbindliche normative Wirkung für die Vertragsfirmen, ohne durchsetzbare materielle Ansprüche für die Lohnabhängigen und ohne griffige schuldrechtliche Bestimmungen – stellt die Friedenspflicht grundlegend in Frage.

Frieden ohne Konfliktfähigkeit?

Arbeitsfrieden und Sozialpartnerschaft sind für die Gewerkschaft nicht ein Ziel an sich, sondern ein Instrument in den Beziehungen zu den Arbeitgebern. Der Arbeitsfrieden hat nur Sinn, wenn die Gewerkschaften wieder Mobilisierungs- und Konfliktfähigkeit zurückgewinnen. Dazu bedarf es einer grundlegenden Reform der Gewerkschaftsbewegung.

Reformfreude ist allerdings traditionell nicht die Stärke der Gewerkschaften insgesamt, auch wenn mit dem «Gewerkschaftshaus» von Smuv und GBI sowie mit weiteren Reformprojekten (z. B. Komminikationsgewerkschaft) bereits einiges in Bewegung geraten ist. Die gewerkschaftlichen Abstimmungserfolge über die erste Arbeitsgesetzrevision und die Arbeitslosenversicherung sind zwar Zeichen einer verstärkten Remobilisierung, aber sie reichen nicht aus. Die Gewerkschaften verlieren nach wie vor an Terrain: Die gesamtarbeitsvertragliche Abdeckung der Beschäftigten ist rückläufig und liegt heute bereits unter 50 Prozent. Die Mitgliederzahlen nehmen weiter ab.

Die Gewerkschaften stehen vor der grössten Herausforderung ihrer Geschichte. Sie haben nicht nur das Tempo des Strukturwandels und der Öffnung der internationalen Märkte weit unterschätzt, sondern mit den notwendigen Anpassungen von Aufgaben und Strukturen zu lange gezögert: Der Wandel von der industriell-gewerblichen Wirtschaft in Richtung Dienstleistungsgesellschaft, aber auch der Wandel vom traditionellen Industriearbeiter in Richtung neuer Angestelltenschichten ist nicht genügend rasch aufgenommen und der rasant wachsende Dienstleistungsbereich nicht rechtzeitig organisiert worden. Die globale Öffnung der Märkte und die wachsende Verlagerung von wirtschaftlichen Entscheidungszentren in einen internationalen Rahmen haben den Einfluss der national und branchenorientierten Gewerkschaften zusätzlich eingeschränkt.

Der diskrete Kampf hinter Türen allein macht heute keine Gewerkschaft fit. Die Gewerkschaft muss entschiedener und offensiver im öffentlichen Raum agieren. Ohne Öffentlichkeit ist die Gewerkschaft auch für Arbeitgeber und Arbeitgeberverbände kein ernst zu nehmender Faktor. Wer erfolgreich verhandeln will, muss klare Positionen abstecken und zu deren Durchsetzung eine Position der Stärke einnehmen können. Die Gewerkschaft muss gleichzeitig mit Verhandlungen und möglichen Konflikten operieren. Sie darf nicht zögern, die Regeln der Sozialpartnerschaft selbständig und selbstbewusster zu interpretieren. Die Friedenspflicht darf keine einseitige Selbsteinschränkung sein. Sie darf die Gewerkschaften nicht daran hindern, die Rechte der Beschäftigten und die Erhaltung von Arbeitsplätzen notfalls mit Kampfmassnahmen durchzusetzen. Der Arbeitsfrieden ist relativ.