Werkstattbesuch: Ägyptische Chemie
Seit Jahren ist Ursula Biemann mit ihrer Kamera auf verschiedenen Kontinenten unterwegs: Derzeit befasst sich die Videokünstlerin mit Ressourcenökologie und Landpolitik.
Das Haus ragt einem Schiffsbug gleich in den Röntgenplatz im Zürcher Kreis 5 hinein. Das Wohnatelier von Ursula Biemann wird gleich von zwei Seiten mit viel Licht versorgt. Hohe Räume und weite Flächen sorgen für ein Gefühl der Losgelöstheit, als wenn man sich hoch über dem Meer auf einem Dampfer befinden würde. Hier findet Biemann die Ruhe, die sie braucht, um das Material, das sie von ihren Reisen mitbringt, in Videoessays zu verwandeln.
Vor zwei Jahren hat Biemann mit ihrem Projekt «Egyptian Chemistry» begonnen. Im Zentrum steht das Wasser. Und die Frage, wie der Umgang mit dem lebensnotwendigen Element mit dazu beigetragen hatte, dass im Frühjahr 2011 in Ägypten die Revolution ausbrach. Eine «vertiefte Analyse» nennt Ursula Biemann ihre Arbeit, für die sie seit letztem November Wasseringenieure aufgesucht, Hydrauliker, Ökonomen und Aktivistinnen interviewt und futuristische Projekte am Roten Meer besichtigt hat. Die Gespräche über Landnutzung, Landgewinnungsprojekte und Bewässerungssysteme hält Biemann mit ihrer Kamera fest; eine der Aktivistinnen ist bereits siebzig Jahre alt; sie war schon in den sechziger Jahren unter der Regierung von Gamal Abd en-Nasser tätig, der Landreformen eingeführt hatte, die den BäuerInnen grosse Vorteile brachten und dann von Husni Mubarak wieder abgeschafft wurden.
Ein hochsensibler Austausch
Die Ursachen für die heutigen Probleme begreift Biemann als Zusammenspiel vieler Faktoren. So wurde der Begriff «Chemistry» zum Titel des Projekts – und auch zur Bezeichnung ihrer künstlerischen Strategie: Chemie bedeutet Interaktion, zwei Elemente treffen aufeinander – und verändern dadurch ihre Eigenschaften.
Ursula Biemann untersucht, wie die Wasserchemie die Erdkonsistenz und somit die Fruchtbarkeit des Landes verändert. Was wiederum einen nachhaltigen Einfluss auf die Siedlungs- und die Subventionspolitik ausübt: «Zweimal im Jahr wurden die Felder mit dem nährstoffreichen Nilschlamm überflutet», erzählt die Videokünstlerin, «doch seit dem Bau des Assuanstaudamms fällt das weg. Dafür wurde eine Chemiefabrik errichtet, die das Land künstlich düngt, was der ägyptischen Regierung die Möglichkeit gibt, die Subventionspolitik zu kontrollieren. Auch wurde weniger Weizen für den Eigengebrauch, dafür umso mehr für den Export angebaut. Husni Mubarak hatte diese Entwicklung vorangetrieben, was mit ein Grund für die Unruhen war.» Nun müsse die Subsistenz wieder aufgebaut werden. Nicht wenige AuslandsägypterInnen würden heute bereits im grossen Stil investieren: eigener Weizen für eigenes Brot. Doch ohne Wasser geht überhaupt nichts.
Gezielt sucht sich die Künstlerin bereits im Vorfeld ihrer Reisen die Leute aus, die sie an die interessanten Orte führen. Dann lässt sie sich von den Ereignissen und Dynamiken leiten: Oft wird ein entscheidendes Ereignis ausgelöst, gerade weil sich Ursula Biemann vor Ort befindet. Und so entwickelt sich ein hochsensibler Austausch. Das Wesentliche dabei sei, wach zu sein und so intuitiv auf Unerwartetes reagieren zu können: «Auf dem Weg zu einer Zementfabrik entlang dem Nil sahen wir plötzlich, wie die riesigen, mit Sand gefüllten Schiffe am Ufer festmachten. Das ermöglichte mir wunderschöne Aufnahmen. Eine halbe Stunde vorher oder nachher hätten wir das verpasst. Es geht darum, die Landschaft zu entdecken, zu sehen und zu lesen, was die Menschen darin tun.»
Das Wohnatelier in Zürich ist der Ort der Verarbeitung. Die Wohnung hat Biemann eigens für die Kombination von Wohnen und Arbeiten eingerichtet; zwischen Leben und künstlerischer Tätigkeit macht sie keine Trennung: «Es beginnt beim Aufwachen. Noch im Halbschlaf kommen die ersten Ideen. Danach gibt es Frühstück, und dann gehe ich gleich an den Arbeitstisch. Nach fünf oder sechs Uhr höre ich auf, lese, kopiere CDs – in der Nacht arbeite ich nicht.»
Drei Wochen Dreharbeiten entsprechen einem Jahr Montage. Zurück von den Reisen beginnt sie, das Rohmaterial zu sichten, und langsam entwickelt sich eine lose Versuchsanordnung. Die Erfahrung im Feld tritt immer mehr in den Hintergrund, die intellektuelle Arbeit übernimmt die Regie. So konstruiert Biemann das, was sie als ihre «eigene Vorstellung von Realität» bezeichnet.
Mediale Landschaften
Biemann arbeitet aber auch in einer virtuellen Werkstatt: Gemeinsam mit VideokünstlerInnen und KunsttheoretikerInnen in England, Österreich, Ecuador, Brasilien, Holland und den USA arbeitet sie an einer Erweiterung des «Egyptian Chemistry»-Projekts. Es entsteht eine Internetplattform, die Reiskulturen in Indonesien, Baumwollkulturen am Amazonas, Fischerei und Landtransformation in Holland künstlerisch und theoretisch aufarbeitet. Ziel ist es, eine Website zu bauen, auf der Videoclips miteinander verlinkt und erläutert werden. Auf diese Weise entsteht ein kollektives Filenetz, und das Wasser in Ägypten verbindet sich mit dem Wasser im Aralsee oder mit der Baumwolle im Amazonasgebiet: «Diese medialen Landschaften sind für Leute gedacht, die sie für Bildung, Wissensproduktion, Aktivismus oder eigene Recherchen nutzen wollen.» Grundsätzlich geht es jedoch immer um Ressourcen, Ökologie und Landpolitik.
Neue Denkformen
Das war nicht immer so. Ursula Biemann schenkt die letzten Schlucke Wein ein und zieht ein Buch aus dem Regal. Die Monografie «Mission Reports. Künstlerische Praxis im Feld» (2012) dokumentiert Biemanns Videoarbeiten, die zwischen 1999 und 2011 entstanden und sich meist mit Migration und Mobilität befassten: «Performing the Border» ist in einer Grenzstadt in der mexikanischen Wüste angesiedelt, «Europlex» reflektiert die Situation der MigrantInnen an der Grenze zwischen Nordafrika und Südeuropa, «Contained Mobility» erzählt die Geschichte des Flüchtlings Anatol K. Zimmermann, und «X-Mission» beschäftigt sich mit palästinensischen Flüchtlingslagern als einem Ort extremer Extraterritorialität. Eines ihrer wohl eindrücklichsten Essays, «Black Sea Files», dokumentiert die Reise entlang der Ölpipeline, die vom Kaspischen Meer quer durch den Kaukasus und die Osttürkei nach Europa führt.
Nach zwölf Jahren der Beschäftigung mit der Frage nach den Bedingungen der Migration braucht die Künstlerin eine Veränderung: «Während mehrerer Monate war ich nicht in der Lage, etwas zu tun. Ich kaufte mir Zeitungen, ging wandern, fühlte mich kraftlos. Ich brauchte eine Pause. Ich musste mir neue Denkformen erarbeiten. Nun kommt etwas Neues: der Planet, die Ressourcen.»
Ursula Biemann: «Mission Reports. Künstlerische Praxis im Feld». Herausgegeben von Marius Babia, Simon Maurer und Stella Rollig. Mit Texten von Ursula Biemann, T. J. Demos, Brian Holmes und Jörg Huber. Verlag für moderne Kunst. Wien 2012. 208 Seiten. 35 Franken.
Mit dieser Reportage setzen wir die WOZ-Serie «Werkstatt- und Atelierbesuche» fort. In loser Folge werden Künstlerinnen, Handwerker, Tüftlerinnen, Erfinder, Bastlerinnen und Büezer an ihrem Arbeitsplatz porträtiert. Es geht dabei ums Entdecken von Menschen, von Handwerken, von Arbeitsweisen.