Werkstattbesuch: «Horchend und nicht schnell»

Nr. 44 –

Die Dichterin Eva Maria Ott lebt sehr einfach auf einer abgeschiedenen Tessiner Alp. Das Leben in und mit der Natur inspiriert sie seit Jahrzehnten, den «Ausstieg» aus dem bürgerlichen Leben hat sie nie bereut.

«Ich war ein sinnierendes Kind. Ich habe schon damals nach den Zusammenhängen gesucht und tue das noch heute.» Eva Maria Ott in ihrem Reich oberhalb des Verzascatals.

Hoch über dem Verzascatal, mit Sicht auf Stausee und Lago Maggiore, wohnen seit rund dreissig Jahren Eva Maria Ott und ihr Lebenspartner Michi Schaub auf einer Alp. Zu ihrem abgelegenen kleinen Paradies führt uns ein mit Marroni übersäter Weg. Eine gute halbe Stunde brauchen wir zu Fuss bis zur Wegverzweigung, von der ein Pfad zur terrassierten Lichtung mit den Steinhäusern führt. Es ist ein prächtiger, warmer Tag Ende September. Unter der Pergola mit den noch nicht ganz ausgereiften Trauben werden wir herzlich empfangen und mit Getränken, frischen Früchten und regionalen Backwaren bewirtet. Kiwisträucher ranken sich um die steinernen Mauern und verflechten sich mancherorts mit den Reben. Frisches Gemüse liefert der Garten, das Wasser kommt von der Quelle, die Energie von der Sonne. Wir befinden uns auf einem Kleinst-Biobergbauernbetrieb mit Kühen und Schafen.

An den Mauern der ausgebauten Rustici hängen eingerahmte Gedichte von Eva Maria Ott. Sehr feine und schöne Gebilde seien ihr gelungen, schrieb der Verleger Egon Ammann einst in einem Brief. Den Ammann-Verlag gibt es nicht mehr, und Lyrik wird heute in der Schweiz kaum mehr in Buchform publiziert. Entgegen dem Zeitgeist, so könnte man sagen, hat Michi Schaub nun einen Band mit Otts Gedichten herausgegeben.

Wie arbeitet Eva Maria Ott, wie entsteht aus einem Gedanken ein Gedicht? «Ich merke mir den Rhythmus und den Gegenstand, schreibe den Anfang – manchmal ist es auch nur ein Wort – auf ein Blatt Papier und lege es neben mein Bett.» Dann, so sagt sie, lasse sie es ruhen, denke darüber nach, manchmal mehrere Tage oder sogar Wochen. «Ich arbeite horchend und nicht schnell, die Worte sollen kommen dürfen.» Oft schlichen sie sich ein, mitten in der Nacht. «Ich erwache morgens um drei und kann nicht weiterschlafen, weil ein Gedanke mich irgendwie unterirdisch umtreibt.» In solchen ruhigen Momenten überlege sie sich, wie sie dem, was sie sagen wolle, eine Form geben könne. «Dann kommen die Wörter oft wie von alleine, und ich brauche sie nur noch aufzuschreiben. Die Sprache muss ich hören, sie erklingt in meinem Innern.»

In einem weiteren Schritt kämmt Eva Maria Ott ihre Konstrukte nach rein sprachlichen und stilistischen Kriterien durch: Sind es die treffenden Worte, ist es gutes Deutsch? «Da bin ich dann sehr streng mit mir.»

Die zierliche Autorin mit dem zerbrechlich wirkenden Körper ist 83 Jahre alt, trotz ihrer gebückten Haltung und den Falten im Gesicht blitzt immer wieder der Schalk in ihren Augen auf. Ott strahlt Gelassenheit aus und zufriedene Ruhe. «Die Kulisse hier, mitten in der Natur, stimmt mich fröhlich. Ich habe so viel Zeit zum Denken. Und dann das Beobachten des Wetters, das ist für mich Physik, hautnah erlebt.»

Im Gespräch braucht es Geduld, manchmal verliert die betagte Frau den Faden oder wiederholt sich. Doch wer sich die Zeit nimmt, ihr zuzuhören, erfährt viel von ihrer Arbeitsweise und aus ihrem Leben. «Meine Mutter starb an Krebs, als ich dreizehn Jahre alt war. Es war ein Schock für mich, ich hatte plötzlich niemanden mehr zum Erzählen, zum Anlehnen.» Ihr Vater habe danach zu Hause kaum mehr ein Wort gesagt. «Ich habe die Mutter vermisst, hatte niemanden mehr zum Reden. Ich glaube, das war der Grund, warum ich so lange mit mir selber sprach.» Sie, die sich schon als Kind oft zurückgezogen habe, fand in der Sprache ihren Ausdruck, schrieb Gedichte, ganz für sich allein. «Ich war ein sinnierendes Kind. Ich habe schon damals nach den Zusammenhängen gesucht und tue das noch heute.»

Eva Maria Ott arbeitete als Lehrerin, Hausfrau, Kindertherapeutin und Sozialpädagogin. «Ich arbeitete mit sogenannt schwierigen Kindern. Was für ein Ausdruck, als ob nicht unsere ganze Gesellschaft schwierig wäre.» Sie heiratete, zog vier Töchter gross und liess sich 1974 scheiden.

Sie habe allmählich aufgehört, die Ausbeutung unserer Erde ahnungslos mitzumachen, schreibt sie im Anhang ihres Buchs «Ein Wort, ein Schritt, ein Ton». «Ich dachte nach und zog die Konsequenzen.» Seit 1981 führt sie zusammen mit ihrem 22 Jahre jüngeren Lebenspartner ein einfaches Leben mit hohem Anteil an Selbstversorgung, inmitten der Verzasca-Natur. Die beiden würde man wohl gemeinhin als AussteigerInnen bezeichnen, weltabgewandte Hippies sind sie aber nicht. Sie sind informiert, lesen Zeitungen und Bücher, nutzen Radio, TV, Internet.

Im kleinen Zimmer von Eva Maria Ott finden sich Hunderte von Büchern. Auf den Ablageflächen stapeln sich diejenigen Werke, die sie gerade liest oder demnächst lesen will. «Ich lese auch gerne Neuerscheinungen, will wissen, wie sich die deutsche Sprache entwickelt.»

«Zeitrebellin» hat vor vielen Jahren eine Journalistin Eva Maria Ott genannt. Tatsächlich ist die Zeit ein wiederkehrendes Thema ihrer Gedichte. Hat sich ihr Verhältnis zur Zeit im hohen Alter geändert?

«Es ist, wie ich es in meinem neusten Gedicht geschrieben habe: ‹… sie, die Allgegenwärtige, wird mich nicht mehr schützen, sie wird mich verlassen.› Ich glaube, niemand stirbt gerne.» Aber sich dagegen zu stemmen, zu wehren, das habe einfach keinen Wert. «Man muss den Tod akzeptieren, wie man auch das Leben akzeptiert hat.»

Sie habe auch nicht das Gefühl, sie müsse jetzt noch «was weiss ich was» nachholen, hineindrücken ins restliche Leben. Aber sie sei neugierig geblieben und hoffe, das bis zum Lebensende zu bleiben. Und sie wünscht sich, an diesem Ort zu bleiben, an dem sie schon so viel Zeit verbracht hat. «Das Leben hier oben stimmt für mich, andere gehen ins Altersheim, aber das wäre nichts für mich. Zudem wäre das, glaub ich, viel zu teuer. Das würde ich gar nicht vermögen.»

Eva Maria Ott: «Ein Wort, ein Schritt, ein Ton. Gedichte aus sechs Jahrzehnten und eine 
Parabel.» Books on Demand. Norderstedt 2008. 
216 Seiten. Fr. 23.50.


Die Zeit,

der nagende tragende
Strom –
das ordnend fragende
Prinzip.

Das Glück
Zeit zu haben –
sie zu verschenken

Verschwistert sind wir
meine Zeit und ich
ich bin so stetig
beschützt

sie – die Allgegenwärtige
wird mich
nicht mehr schützen.
Sie wird mich verlassen.


Eva Maria Ott, 2011


Fast am Ende eines Jahres

Das Jahr bricht wie Seide.
Beschlagen durch uraltes Nichtverstehn
trübt sich sein Glanz im eingestürzten Wort,

und es reitet
mein Hoffen im hurtigen Schlage
der treibenden Pulse fort.

Halb traumher wischen
mit weichen Pinseln die Tage.
Sie malen und mischen
aus meiner Ohnmacht Sternfiguren.
Verlassenheit bereitet sich zum Sprung.

Und unter zarten Schmerzlasuren,
gebannt ins keimende Rissfeld der Klage,
wohnt, tiefer lächelnd, die Erinnerung.


Eva Maria Ott, 1965


Mit dieser Reportage setzen wir die WOZ-Serie «Werkstatt- und Atelierbesuche» fort. In loser Folge werden Künstler, Handwerkerinnen, Tüftler, Erfinderinnen, Bastler und Büezerinnen an ihrem Arbeitsplatz porträtiert. Es geht dabei ums Entdecken von Menschen, von Handwerken, von Arbeitsweisen.