Nationalratswahlen 2015: Wenn das Wahlsystem die Politik bestimmt
Wahlresultate werden meist als Ausdruck der Volksmeinung gelesen. Ebenso entscheidend ist aber das Wahlrecht, wie die Beispiele Britannien, Chile und Griechenland zeigen – und die ihnen entsprechenden Systeme in Schweizer Kantonen.
Britannien: Jahrzehnt ohne Mehrheit
Britannien hat ein Mehrheitswahlrecht (Majorzsystem) mit Wahlkreisen, in denen jeweils nur ein Sitz zu vergeben ist. Wer am meisten Stimmen bekommt, kriegt auch den Sitz. Dasselbe System kennen in der Schweiz die kleinen Kantone Uri, Nidwalden, Obwalden, Glarus und die beiden Appenzell, da dort jeweils nur ein Nationalratssitz zu vergeben ist.
Auf den ersten Blick erscheint das Majorzsystem gerecht. Doch hat es zur Folge, dass eine Minderheit über Jahre ein Land mit einer Parlamentsmehrheit regieren kann, ohne je eine absolute Mehrheit bei den Stimmberechtigten erlangt zu haben.
In Britannien erreichte 1979 Margaret Thatcher (Konservative) mit lediglich 43,9 Prozent der Stimmen eine Parlamentsmehrheit, die sie 1983 und 1987 mit ähnlichem Stimmenanteil verteidigen konnte. Konsequenz: Sie konnte Britannien umfassend neoliberal umbauen.
Die Oppositionellen von Labour und den Liberalen, die sich beide links der Mitte positioniert hatten, erreichten zusammen 50,7 (1979), 53,0 (1983) und 53,4 Prozent (1987) der Stimmen. Eine Mehrheit der BritInnen stimmte also dreimal gegen Thatcher und die Konservativen – und trotzdem regierten diese über ein Jahrzehnt das Land. Hätte Britannien im Verhältniswahlsystem (Proporz) gewählt, so hätte Thatcher nie eine Parlamentsmehrheit erlangt. Auch mit einem anderen Majorzwahlsystem, in dem zweite Wahlgänge möglich sind, hätte der neoliberale Umbau nicht stattgefunden.
Ein solches Majorzwahlsystem mit bis zu zwei Wahlgängen kennt etwa Frankreich. Wenn im ersten Wahlgang keine Partei fünfzig Prozent der Stimmen erreicht, findet ein zweiter Wahlgang zwischen den beiden KandidatInnen mit den meisten Stimmen aus dem ersten Wahlgang statt. Damit hätten in Britannien die Konservativen pro Wahlkreis jeweils nur noch eine Gegenkandidatin beziehungsweise einen Gegenkandidaten gehabt, die – egal ob Labour oder Liberale – wohl mehrheitlich die konservativen KandidatInnen besiegt hätten. Thatcher verdankt ihre Regierungszeit somit nur zum Teil den WählerInnen – zum grösseren Teil aber dem Wahlsystem.
Übrigens: Der Konservative David Cameron bekam dieses Jahr sogar mit nur 36,9 Prozent der Stimmen eine Parlamentsmehrheit.
Chile: binominales Patt
1990 hat General Augusto Pinochet vor seinem durch das Volk erzwungenen Abtritt ein Wahlsystem verfügt, das zwar demokratisch aufgebaut war, aber zwangsläufig zu einem Patt zwischen zwei grossen Blöcken führte. Gleichzeitig hatte er in der Verfassung verankert, dass es ein qualifiziertes Mehr (drei Fünftel beziehungsweise zwei Drittel der Stimmen in beiden Kammern) braucht, um die Verfassung und damit wiederum dieses Wahlsystem zu ändern. Das System konnte so während eines Vierteljahrhunderts nicht geändert werden – und produzierte während all dieser Jahre die von Pinochet gewünschten (zu) knappen Wahlergebnisse, die einen grundlegenden Umbau des Landes verunmöglichten.
Pinochets Wahlsystem schrieb vor, dass alle Wahlkreise sowohl für das Abgeordnetenhaus wie auch für den Senat jeweils zwei Sitze bestimmen konnten. Das entspricht dem schweizerischen Nationalratsproporz, wie er in den Kantonen Schaffhausen und Jura mit je zwei Nationalratssitzen praktiziert wird (vgl. «Wahlgymnastik (1)» ). In dieser Konstellation erhält jede Partei einen Sitz, die mehr als ein Drittel der Stimmen erreicht. Eine Partei muss also zwei Drittel der Stimmen erreichen (oder zumindest doppelt so viele wie die zweitgrösste Partei), um beide Sitze in einem Wahlkreis zu erhalten.
In Chile mussten die Pinochet-nahen Kreise also in jedem Wahlkreis nur ein Drittel der Stimmen erreichen, um die Hälfte aller Mandate zu gewinnen. Dem Block der Pinochet-GegnerInnen nützte dieses System wenig, obwohl sie meist die Mehrheit in den Wahlkreisen erreichten: Da sie nur in ganz wenigen Wahlkreisen mehr als zwei Drittel der Stimmen erreichten, ergab sich für sie höchstens eine knappe Mehrheit im Parlament. Damit konnten die Verfassung, das privatisierte Schulsystem, das ungerechte Steuersystem oder das binominale Wahlsystem selbst über Jahrzehnte nicht reformiert werden.
Erst 2015 gelang dem Parlament eine Änderung des Wahlsystems, weil die Mitte-links-Parteien neben der (wiederum zu knappen) Mehrheit im Parlament erstmalig auf AbweichlerInnen aus dem Rechtslager zählen konnten, die das qualifizierte Mehr für die Änderung möglich machten.
Griechenland: geschenkte Sitze
Hat die linke Partei Syriza die Wahlen in Griechenland 2015 gewonnen? Nicht wirklich. Sie gewann 36,3 Prozent der Stimmen, was im Proporzsystem für 99 von 250 Sitzen reichte. Für eine Parlamentsmehrheit von 126 Sitzen fehlten ihr 27. Der einzige mögliche Koalitionspartner, die rechtspopulistische Anel, erreichte 13 Sitze – zu wenig, um mit Syriza eine Regierung zu bilden. Nun hat das griechische Wahlsystem jedoch die Eigenheit, dass es der grössten Partei 50 zusätzliche Parlamentssitze «schenkt». Flugs bescherte das Syriza nicht nur 99, sondern neu 149 Sitze in einem Parlament von – inklusive der geschenkten Sitze – nun 300 Sitzen. Die 13 Sitze der Anel reichten Syriza jetzt spielend, um eine Mehrheit zu erreichen und damit die Regierung zu bilden, die sich dieser Tage erneut mit Brüssel anlegt.
Auftakt zur «Wahlgymnastik»
Wer gewinnt im Herbst wo welchen Nationalratssitz? Der WOZ-Verlagsmitarbeiter und Wahlarithmetiker Stephan Müller kennt bereits Antworten zu dieser Frage. Seine Kurzprognosen zu sämtlichen 26 Kantonen erscheinen ab sofort wöchentlich, beginnend mit den Kantonen Schaffhausen und Jura (vgl. «Wahlgymnastik (1)» ). In der nächsten Ausgabe wird Müller dann erklären, weshalb die FDP in den Kantonen Uri und Neuenburg sicher je einen Sitz verlieren wird.
Ab nächster Woche werden sich zudem junge und jüngere GastautorInnen in Essays Gedanken zur politischen Gegenwart und Zukunft der Schweiz machen. Den Anfang macht der Historiker Kijan Espahangizi. Seine Ausgangsthese: «Ausländerstimmrecht, nein danke!»