Wahlprognose: SVP nur viertstärkste Kraft
Die üblichen Prognosen vernachlässigen den Einfluss des Ständerats auf die Parlamentsstärke. Im Oktober wird es keinen Erdrutsch geben. Die SozialdemokratInnen bleiben stärkste Parlamentskraft.
Jede Prognose setzt eine genaue Analyse voraus. Um die Veränderungen in der Parteienlandschaft für diesen Wahlherbst zu prognostizieren, muss zuerst Einigkeit darüber herrschen, wie sich die bisherigen Parteistärken überhaupt präsentieren. Erstaunlicherweise wird in einer weiten Öffentlichkeit meist von parlamentarischen Stärkenverhältnissen ausgegangen, die nicht dem Wahlergebnis entsprechen. So werden häufig die schweizweiten Prozentstärken der Parteien bei den Nationalratswahlen beigezogen; diese statistisch meist ungenau erhobenen Werte – es werden etwa Majorz- und Proporzwahlen vermischt – sind für die Parlamentssitzverteilung und das Gewicht einer Partei im Bundeshaus jedoch weitgehend unerheblich.
Analyse der bisherigen Stärke
Nationalrat und Ständerat sind verfassungsgemäss gleichberechtigt. Berücksichtigt man also, dass diese Parlamente jeweils zu fünfzig Prozent für die Stärke der Parteien im Gesamtparlament verantwortlich sind, haben die Wahlen 2011 zu einer anderen Machtverteilung geführt als gemeinhin angenommen (vgl. Grafik «Parlamentsstärke 2011–2015»).
Mit den Wahlen vor vier Jahren wurde die SP vor der CVP zur stärksten Parlamentskraft der Schweiz. Darauf folgte die FDP – und erst an vierter Stelle die SVP. Vor 2011 war die SVP noch auf dem ersten Platz, die SP dafür nur auf dem vierten gelegen.
Für sämtliche Sachgeschäfte während der ganzen Legislaturperiode sind diese Parteigrössen entscheidend. Auf die Bundesratswahlen bezogen ist die Zuteilung nur eines Bundesratssitzes an die SVP aufgrund ihrer Parlamentsstärke 2011 so auch arithmetisch begründet.
Die übliche, aber falsche Einschätzung, dass die SVP die grösste Parlamentskraft sei, kommt zustande, weil das Wahlergebnis des Ständerats, der (ausser in Neuenburg und im Jura) im Majorz gewählt wird, vielfach unterschlagen wird. Die CVP ist im Ständerat als stärkste Partei mit 28,3 Prozent fast dreimal so gross wie die SVP (10,9 Prozent). Letztere nennt den Rat zuweilen «Dunkelkammer». Damit ihr schwaches Wahlergebnis nicht ans Licht dringt?
Nur in seltenen Fällen (meist zu Wahlen) tritt die Vereinigte Bundesversammlung zusammen. Dann sind die Parteistärken anders bestimmt, weil die Sitzzahlen von Ständerat und Nationalrat zusammengezählt werden und der Ständerat so nicht eine von zwei gleichberechtigten Parlamentskammern ausmacht. In dieser Vereinigten Bundesversammlung ist die SVP mit 59 Sitzen (24 Prozent) die stärkste Kraft, gefolgt von der SP mit 57 Sitzen (23,2 Prozent), der FDP und der CVP mit je 41 Sitzen (16,7 Prozent). Für den parlamentarischen Alltag sind diese Sitzzahlen nicht relevant, für die Bundesratswahlen hingegen schon. Wohl deswegen wird diese Sitzverteilung in der Öffentlichkeit meist derart aufgeregt diskutiert.
Prognose Parlament
So wie sich die Ausgangslage präsentiert, wird sich 2015 kein Erdrutsch ergeben, insbesondere auch weil von einem stabilen Ständeratsergebnis auszugehen ist. Die SP wird mit über 23 Prozent also die stärkste Parlamentskraft bleiben. Dahinter kommt es zu einem Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen CVP und FDP (beide über 20 Prozent), welches wohl erst im November nach den zweiten Ständeratswahlgängen entschieden sein wird. Die SVP wird aufgrund ihres bei Ständeratswahlen traditionell schlechten Abschneidens im vierten Rang verbleiben.
Prognose Bundesversammlung
Im Wahlgremium der Vereinigten Bundesversammlung dürfte die SVP wiederum sehr knapp vor der SP liegen. Danach kommt entweder die CVP oder die FDP. Entschieden ist auch diese Frage wohl erst im November nach den zweiten Wahlgängen für den Ständerat.
Prognose Ständerat
Die wesentlichste Veränderung im Ständerat wird das Ausscheiden der GLP sein, die ihre beiden Sitze in Uri (an die FDP) und Zürich (wohl an die SP) verlieren wird. CVP, FDP und SP dürften sich ein Rennen um die Spitze liefern und am Schluss alle bei zwölf bis vierzehn Sitzen liegen.
Die SVP wird zwischen vier und sechs Ständeratssitze erreichen, am ehesten wohl wie bisher fünf. Grüne und BDP sollten ihre zwei Sitze respektive den einen Sitz verteidigen können. Bei Persönlichkeitswahlen im Majorz bleibt jedoch immer ein Unsicherheitsfaktor bestehen.
Prognose Nationalrat
Auch bei der Wahl in den Nationalrat ist zu berücksichtigen, dass schweizweit ermittelte Prozentzahlen für die Sitzzahl weitgehend irrelevant sind. In Nidwalden, Obwalden, Glarus, Appenzell Inner- und Ausserrhoden und Uri finden sogar Majorzwahlen statt. Die Festsetzung der Kantone als Wahlkreise führt – wegen der grösseren und kleineren Kantone – dazu, dass auch bei der Proporzwahl die Prozentquoren für einen Sitz in jedem Kanton sehr unterschiedlich sind. Das führt wiederum dazu, dass für die kleineren und grösseren Parteien die Wahlchancen je nach Kanton sehr unterschiedlich ausfallen. Kleine Parteien haben in kleinen Kantonen keine Chancen. Die Parteien entscheiden darum gemäss Sitzwahrscheinlichkeit, ob sie überhaupt kandidieren oder nicht. Ein Nichtantreten führt wiederum dazu, dass diese ParteiwählerInnen andere Parteien wählen (müssen), die dadurch in diesen Kantonen erhöhte WählerInnenanteile ausweisen. Zudem sieht der schweizerische Proporz explizit die Möglichkeit der Listenverbindungen vor, was zu Abweichungen bei der Sitzverteilung führt.
Eine detaillierte Prognose zeigt die Tabelle oben. Es ist davon auszugehen, dass neben SP und CVP auch die SVP – entgegen den momentanen Mainstreamprognosen – insgesamt relativ stabile WählerInnenanteile erreichen wird, die FDP leicht gewinnt, Grüne, GLP und BDP Verluste ausweisen und die Ränder links und rechts dazugewinnen.
Der WOZ-Wahlarithmetiker und Verlagsmitarbeiter Stephan Müller hat für jeden Kanton die Ausgangslage für die Nationalratswahlen analysiert. Die ganze Serie ist unter www.woz.ch/wahlgymnastik nachzulesen.
Zum Beispiel Uri
Die nationalen Parteistärken werden durch landesweite Prozentzahlen krass irreführend ausgewiesen. Ein Blick nach Uri zeigt, weshalb.
Die FDP kandidiert dieses Jahr nicht mehr für den Nationalrat, was ihren gesamtschweizerischen Wähleranteil um 0,4 Prozent vermindern wird (FDP Uri 2011: 74,3 Prozent). Sie kandidiert lieber für den Ständerat (hier ist die Wahl unbestritten).
In der vereinigten Bundesversammlung bleibt ihre Sitzzahl damit unverändert, doch die Parlamentsstärke steigt, weil ein Nationalrat eine Parlamentsstärke von 0,5 Prozent im Rat ausmacht, ein Ständerat jedoch eine von 2,17 Prozent.
Gemäss der Fixierung der Öffentlichkeit auf die vermeintlich wichtigen schweizweiten Parteistärken führt das Urner Wahlergebnis zu einer Schwächung der FDP um 0,4 Prozent. Effektiv führt das Urner Wahlergebnis jedoch zu einer Erstarkung der FDP um 0,84 Prozent, beide Parlamente eingerechnet.