Die Linke und der Service public (5): Mehr Markt? Mehr Staat? Mehr Demokratie!

Service public oder Markt. Die Linke muss sich entscheiden. Beides zusammen geht nicht.

Was wollen die Bürgerlichen mit dem Geld tun, das sie an «runden Tischen» mit SP- und Gewerkschaftsverantwortlichen zulasten der Sozialversicherungen und der öffentlichen Dienste «eingespart» haben? Finanzminister Kaspar Villiger und die Wirtschaftsverbände möchten es in Form von Steuergeschenken an die Unternehmen und die vermögenden Schichten verteilen, wie sie kürzlich öffentlich mitgeteilt haben. Auf der Abschussliste stehen die Stempelsteuer, die Progression bei der direkten Bundessteuer und zentrale Elemente der Kapital- und Unternehmensbesteuerung. Die Reichtumsumverteilung von unten nach oben, deren Auswirkungen der Boom der Finanzmärkte und der Spekulation sowie Abbau und Privatisierung beim Service public sind, soll also weitergehen.

Die Linke muss endlich aus diesem Rahmen ausbrechen und mit einer Strategie der Konfrontation, die sich auf die Bedürfnisse der grossen Mehrheit der Bevölkerung stützt, den bürgerlichen Interessen entgegentreten. Sonst wird sie Schritt für Schritt weitere Niederlagen einstecken. Niederlagen kann man als Siege verkaufen, wie in den letzten Jahren die «Reform» von PTT und SBB. Doch das ändert nichts an den Tatsachen. Mit dem Voranschreiten der Liberalisierung wird die Linke immer fragwürdigere Positionen vertreten: Heute schon zählen viele Linke zu den eifrigsten VerfechterInnen der Elektrizitätsmarktliberalisie rung, und die BähnlerInnengewerkschaft SEV preist einen GAV als Erfolg, in dem Lohnsenkungen vereinbart wurden, ganz zu schweigen von der Einführung flexibler Arbeitszeiten und des Leistungslohns.

Flankierende Massnahmen?

Bisher tritt die Linke, um mit Niklaus Scherr (WoZ Nr. 22/2000) zu sprechen, mehrheitlich für eine Liberalisierung mit flankierenden Massnahmen ein. Man behauptet also, Marktöffnung und Deregulierung liessen sich mit einem qualitativ hoch stehenden Service public vereinbaren. Leider haben die letzten Jahre gezeigt, dass es nicht so ist:

· Leistungsabbau: Alle «unrentablen Bereiche» sind davon betroffen, von den Schulen über Bahn und Post bis zu den Spitälern: Man beachte die aktuelle Rationierungsdiskussion bei der medizinischen Versorgung. Auf einem liberalisierten Markt muss sich ein Unternehmen auf rentable Bereiche konzentrieren, auch wenn es in Staatsbesitz ist. Zwar haben die «ModernisiererInnen» auf die Ängste und Proteste der Bevölkerung reagiert und den Begriff des Universaldienstes geprägt: So steht im neuen Postgesetz, die Post müsse einen «ausreichenden Universaldienst zu angemessenen Preisen» erbringen. Doch solche Begriffe sind beliebig dehnbar. Da kann die A-Post noch viel teurer und die B-Post noch viel langsamer und unzuverlässiger werden, und der neue Post-Chef Ulrich Gygi kann – trotz rotem Parteibuch – nochmals unzählige Poststellen schliessen.

· Kosten und Gewinne: Wir sind keine BenutzerInnen öffentlicher Dienste mehr, sondern KundInnen. Das einzige Recht, das uns zusteht, ist der vom Geldbeutel abhängige Zugang zum Markt. Die meisten Dienste werden teurer: SBB, Post, Krankenkasse, Studium usw. Und selbst dort, wo die Tarife sinken, bezahlen wir immer mehr an Unternehmensgewinne und Bereicherung der Aktionäre: So hat die Swisscom letztes Jahr über eine Milliarde Franken Dividende ausbezahlt, Tendenz steigend. Das ist die neue Logik: Swisscom gehorcht den Interessen des parasitären Anlagekapitals, und Finanzminister Villiger befreit dasselbe Kapital von der heute schon bescheidenen Steuerlast. Zudem zeigen die Beispiele anderer Länder, dass durch Deregulierung und Privatisierung an die Stelle der staatlichen einfach private Monopole oder Oligopole treten, die diese Sektoren verwalten und die Preise nach einer ersten Phase des Zerfalls wieder anheben.

· Demokratieverlust: Mit der Liberalisierung geht die Möglichkeit einer demokratischen Kontrolle verloren. Im Bereich der Elektrizitäts- und Energieversorgung zum Beispiel würden verschiedene Möglichkeiten einer ökologisch und sozial sinnvollen Energiepolitik verschwinden. Bei Swisscom, Post und SBB haben sich viele Linke und GewerkschafterInnen völlig unkritisch der Marktstrategie dieser Bundesbetriebe verschrieben, bis hin zur Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse und der Expansion auf ausländischen Märkten. Letzteres könnte man den modernen «Service-public-Imperialismus» nennen: In Lateinamerika kontrollieren heute zum Beispiel ehemalige Staatsunternehmen aus den Industrieländern den gesamten Telecom-Sektor. Es ist ein sozialer, politischer und demokratischer Rückschritt, wenn so wichtige Bereiche den «Marktkräften» überlassen werden.

· Dumpingspirale: Die (noch) staatlichen Betriebe setzen eine Verschlechterung der Arbeitsverhältnisse durch: Arbeitsrhythmen werden verschärft (wie bei den Swisscom-TelefonistInnen), Löhne gesenkt (wie in der Zentralwäscherei Basel), Kündigungsschutz abgebaut und Leistungslöhne eingeführt (wie beim Bundespersonalgesetz). Damit wird ein enormer Druck für eine weitere Deregulierung und für Lohndumping in allen Branchen ausgeübt: Die Verschlechterung der Arbeitsbedingungen der Staatsangestellten hat negative Folgen für die Erwerbstätigen der Privatwirtschaft. Zudem gehen tausende von Arbeitsplätzen verloren: Allein die SBB haben seit 1990 über 10 000 Stellen abgebaut.

Das endgültige Begräbnis der PTT

Früher oder später müssen sich die «linken ModernisiererInnen» der Frage stellen: Wenn die staatlichen Betriebe jetzt bereits wie private Unternehmen funktionieren und geführt werden, wieso sollen sie nicht ganz privatisiert werden? Bei der Swisscom sind wir heute an diesem Punkt angelangt: Bundesrat Moritz Leuenberger will die Aktienmehrheit des Bundes zum Verkauf freigeben, und seine GenossInnen im Parlament und an der Parteispitze haben dazu nicht viel mehr zu sagen, als dass die Swisscom auch mit staatlicher Mehrheitsbeteiligung internationale Allianzen eingehen könne. Auch kann die Post nicht im Gegenzug durch den Aufbau einer Postbank «gerettet» werden, wie die WoZ am 15. Juni titelte. Erstens ist es nicht dasselbe, ob man die Post als Service public erhält und ausbaut oder sie als Anhängsel eines Bankkonzerns über Wasser zu halten versucht. Zweitens sind die Bürgerlichen gegen eine Postbank als Instrument der Subventionierung des Service public, weil sie die Post zur Eigenwirtschaftlichkeit zwingen wollen. Sie möchten sie in absehbarer Zeit an die Börse führen, und dazu muss die finanzielle Rentabilität steigen. Eine Variante könnte übrigens in der Ausgliederung und separaten Privatisierung des Finanzgeschäfts der Post bestehen. So schrieb die NZZ am 17. Juni viel sagend: «Falls die Führung der Post tatsächlich der Meinung ist, dass ihr Know-how, ihr Filialnetz und ihre Kundenbeziehungen derart viel versprechende Geschäftsmöglichkeiten bieten, dass sich massive Investitionen ihres jetzigen Eigners (für den Aufbau einer Postbank, Red.) lohnen, so müssten eigentlich auch private Investoren für ein solches Engagement gefunden werden können.»

Die Effizienz des Service public

Weshalb also diese Liberalisierung akzeptieren oder sogar begrüssen? Viele glauben, die Globalisierung erzwinge es so. Tatsächlich entsteht Konkurrenz aber gerade in Bereichen mit grossem Infrastrukturaufwand nur, wenn die «Märkte» durch politische Entscheide geöffnet werden. Andere behaupten, man hätte aufgrund der technologischen Entwicklung keine andere Wahl: Die New Economy kremple die Welt um, ob es einem passt oder nicht. Was für ein eigenartiger technologischer Fortschritt, der uns ohne eigenes Dazutun dazu zwingt, soziale Errungenschaften abzubauen! In Wirklichkeit ist die Diskussion über den Service public keine Technologiedebatte: Es geht um unterschiedliche Gesellschaftsmodelle. Hinter dem Begriff des Service public steht die Überzeugung, dass alle Menschen soziale und ökonomische Rechte haben. Durch eine Sozialisierung der Kosten – über das Steuersystem, über Lohnprozente usw. – wird allen der Zugang zu bestimmten öffentlichen Dienstleistungen garantiert. Die Effizienz der öffentlichen Dienste ist nicht an Kapital- oder Umsatzrenditen zu messen, sondern daran, in welchem Grade sie die Zielsetzungen des Service public erfüllen: Befriedigung von Bedürfnissen, gleichmässige flächendeckende Versorgung, Bekämpfung gesellschaftlicher Ungleichheit, Beachtung ökologischer Schranken. In dieser Optik erweisen sich Liberalisierung und Privatisierung als äusserst ineffizient: Sie führen dazu, dass nur die «rentablen Bedürfnisse» befriedigt werden und sich die gesellschaftlichen Ungleichheiten weiter verschärfen. Wir kämpfen für den Service public als Instrument, mit dem der Anspruch auf soziale Rechte realisiert und Bedürfnisse kollektiv und auf vernünftige Weise befriedigt werden können. Wir kämpfen also nicht für mehr Staat, sondern für mehr Demokratie!

Eine andere Welt ist möglich

In der Nachkriegszeit wurden Ansätze dieser Idee des Service public in vielen Ländern umgesetzt. Es wäre zwar absurd, die heutigen Verhältnisse, die in vielerlei Hinsicht unbefriedigend sind, einfach verteidigen zu wollen. Deswegen braucht man aber nicht bestehende Errungenschaften einfach über Bord zu werfen! Wir unterstützen deshalb das Referendum gegen das Bundespersonalgesetz: Der Kündigungsschutz würde abgebaut und das Prinzip transparenter und allgemein gültiger Lohnregelungen abgeschafft. Das Gesetz ebnet den Weg für weitere Entlassungen und Schritte in Richtung Privatisierung bei Post und SBB.

Die bürgerliche Offensive gegen den Service public zwingt uns jedoch dazu, offensive und radikale Positionen zu beziehen. Wir müssen eine Demokratisierung der öffentlichen Dienste erkämpfen: beim Zugang zu den Diensten (Tarifsenkungen, Unentgeltlichkeit), bei der öffentlichen Diskussion über Ausrichtung und Prioritäten des Service public, in Bezug auf die Arbeitsverhältnisse der Angestellten und die Rechte der BenutzerInnen. Dabei stellen sich grundlegende Fragen über die Verteilung des Reichtums und der Macht in der Gesellschaft, über die Befriedigung von Bedürfnissen, über Ziele und Ausrichtung der Infrastrukturen und des Produktionsapparates, über die Zusammenhänge zwischen Produktion und Konsum und über die Ausgestaltung der Arbeitsverhältnisse. Wieso sollte die Linke diese Gelegenheit nicht ergreifen, um eine öffentliche Debatte über die Möglichkeit «einer anderen Welt» als jene des Wettlaufs um Profite zu lancieren?

Die jüngsten Protestbewegungen und Streiks in den Zürcher Spitälern, in der Basler Zentralwäscherei, im städtischen Verkehr von Luzern, in den aargauischen Schulen und Spitälern usw. stiessen in der Bevölkerung auf Verständnis und Sympathie. Auch das vorläufige Scheitern der Privatisierung des Elektrizitätswerks der Stadt Zürich (EWZ) in der Abstimmung vom 18. Juni beweist, dass solche Diskussionen nicht nur in der Romandie geführt werden können. Die Legitimität der neoliberalen Politik steht eben gerade bei Sozialabbau und Privatisierung auf wackligen Beinen. Wir müssen über die Grenzen hinweg eine soziale Bewegung aufbauen, die unter anderem für einen europäischen Service public kämpft: Die «Euromärsche», die «Marche Mondiale des Femmes 2000», ATTAC, Pierre Bourdieus Vorschlag der «Etats généraux du mouvement social européen» (WoZ Nr. 19/2000) und andere Initiativen bieten dazu erste Anknüpfungspunkte.