Die Linke und der Service public (12): Die Dampfwalze, die alles platt macht

Markt oder Staat? Verteidigung der Errungenschaften oder Mumifizierung des Status quo? Zukunftsvision oder antik-sozialistische Rhetorik? Michel Béguelin, Eric Decarro und Pierre Vanek nehmen Stellung.

Der bedächtige Vaudois Michel Béguelin hat immerhin schon 64 Jahre auf dem Buckel. 23 Jahre als Eisenbahner und ebenso viele als Sekretär des Eisenbahnerverbands. Doch in den letzten Monaten ist auch ihm der Kragen geplatzt. Nach den Plänen zur Schliessung von Bahnhöfen und Postbüros in peripheren Regionen jetzt noch die Liberalisierung des Strommarkts: «Diese Jagd nach Rentabilität führt uns noch in den Abgrund», wettert der Ständerat. Nein, Béguelin ist nicht prinzipiell gegen die Liberalisierung von Staatsmonopolen, vorausgesetzt, sie findet unter einer wirklichen Kontrolle statt und es werden echte Kontrollmechanismen eingebaut. Dies jedoch sieht er nicht genügend gewährleistet. «Was mit der Liberalisierung des Elektrizitätsmarktes auf uns zukommt, sehen wir schon heute bei den SBB. Sie bauen die rentable Achse Lausanne–Bern–Zürich aus und vernachlässigen die Randregionen. Und obwohl sich das Schweizervolk für die Verlagerung des Güterverkehrs von der Strasse auf die Schiene ausgesprochen hat, findet genau das Gegenteil statt. Es gibt keine Kontrollmechanismen, die die Weichen wieder umstellen.»
Béguelin kann sich der Markteuphorie einiger seiner Deutschschweizer GenossInnen nicht anschliessen. «Es ist eine Illusion zu glauben, dass der Markt alles regelt. Das ist reine Ideologie, die zu schlimmen Irrtümern führt. Wenn Güter der Grundversorgung wie Elektrizität oder Wasser betroffen sind, führt die freie Wahl des Stromlieferanten, die einige unserer KollegInnen jenseits der Saane gar als Menschenrecht bezeichnen, mit Sicherheit zu einem Monopol. Der Markt eliminiert die Kleinen, das ist seine Funktion, alles andere ist Augenwischerei. Ausserdem nimmt er die KonsumentInnen in den Würgegriff: Er senkt die Preise, die KonsumentInnen stellen sich auf mehr Verbrauch ein, und damit werden sie zu Gefangenen des Marktes.»
Béguelins Widerspruch gegen seine Deutschschweizer ParteigenossInnen ist nicht neu. Schon bei der Debatte um die Aufhebung des Beamtenstatus profilierte er sich mit einer interessanten These über die alemannisch-welschen Verständnisschwierigkeiten: «Ich sehe zwei Gründe dafür. Der eine liegt im Verständnis der Rolle des Staates. Unsere Deutschschweizer KollegInnen sehen im Staat den autoritären, unterdrückerischen preussischen Staat und in den Beamten allmächtige und willkürlich agierende Funktionäre. Wir hingegen haben einen jakobinischen Staatsbegriff. Der Staat hat für uns die Aufgabe, die sozialen Unterschiede auszugleichen, und die Beamten sind die Diener des Staates, die diese Aufgabe auszuführen haben. Aus diesem unterschiedlichen Staatsbegriff folgt natürlich auch ein positives Verhältnis zum Service public.»
Dazu kommt gemäss Béguelin noch das ökonomische Gewicht der Regionen. «In der Westschweiz wurde in den letzten Jahren der industrielle Sektor abgebaut, und der Dienstleistungssektor hat nicht das gleiche Gewicht wie in der deutschen Schweiz. Das führt zu durchschnittlich tieferen Löhnen und zu einer stärkeren Präsenz der sozialen Frage. Diese finden wir heute erneut in der Debatte um die Poststellenschliessung und die Liberalisierung des Strommarktes. Für uns sind die Schwachen betroffen, die sozial schwachen Menschen und die wirtschaftlich schwachen Regionen. Wenn man dies als ‘antike und etatistische Programmatik aus der lateinischen Schweiz’ bezeichnet, muss ich sagen: Genosse Strahm macht da Verkürzungen schon fast rassistischer Tendenz. Ich spitze das so zu, nicht weil ich gerne polemisiere, sondern weil sich Strahm auf dieser Ebene bewegt.»

Eric Decarro, als VPOD-Präsident den Umgang mit den verschiedenen sozialen «sensibilités» dies- und jenseits der Sprachgrenze gewohnt, sieht in der kleinen Verschiebung von «Service public» zu «Service au public» die Grundlage für eine Systemdebatte. «Service public, das ist im Prinzip die Befriedigung der Bedürfnisse der Bevölkerung im Auftrag der Bevölkerung. Mit dem Begriff ‘Service au public’ will man uns glauben machen, dass Liberalisierung und Privatisierung der öffentlichen Unternehmen nichts an den Dienstleistungen ändern. Das Gegenteil ist der Fall! Wenn eine Dienstleistung den Gesetzen des Marktes, das heisst den Gesetzen des Profits unterworfen ist, schliesst sie alles aus, was nicht rentabel ist.»
Doch für Decarro sind es die beiden Begriffe ‘Markt’ und ‘Staat’, die zu den zentralen Streitpunkten gehören. «Für die ExponentInnen des so genannten dritten Weges à la Blair und Schröder ist der Markt Synonym für Modernität und Demokratie. Sie glauben, die Dezentralisierung der Entscheidungen bringe mehr Freiheit für die Einzelnen. Ich bin hingegen der Ansicht, dass der Markt grundsätzlich im Interesse der Reichen und der Starken agiert. Der Liberalisierungsprozess untergräbt die Demokratie, indem der Markt die sozialen Ungleichheiten verstärkt. Die marktwirtschaftliche Deregulierung mit ihrem Druck auf die Preise drückt die Löhne nach unten, und die Wirtschaft orientiert sich vorrangig an den Bedürfnissen der Reichen, während die Güter für die Mehrheit der Bevölkerung an Qualität verlieren.
Decarro versteht nicht, wieso die ModernisiererInnen am Mythos festhalten, dass die KonsumentInnen einen entscheidenden Einfluss auf den Markt ausüben könnten: «Wohin die Jagd nach Profit führt, können wir heute in jedem Supermarkt testen. Die KonsumentInnen haben die freie Wahl zwischen mit verschiedenen Schadstoffen unterschiedlich belasteten Nahrungsmitteln.» Die zweite grosse Differenz sieht Decarro im Staatsverständnis. «Die Sozialliberalen reduzieren den Staat auf seine bürokratische und autoritäre Dimension. Natürlich gibt es diesen Aspekt, sonst hätten wir es nicht mit einem kapitalistischen Staat zu tun. Doch in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bemühten sich die herrschenden Kreise um einen sozialen Kompromiss. Die Wahrung öffentlicher Interessen wurde an den Staat delegiert, der die Versorgung der Bevölkerung mit Service-public-Leistungen auch ausbaute.»
Decarro ist der Ansicht, dass dieser soziale Kompromiss heute aufgekündigt sei: «Wir befinden uns in der Phase einer starken Akkumulation des Kapitals und einer Restrukturierung des Kapitalismus. Das Kapital sucht neue Profitzonen und findet sie unter anderem in den verschiedenen Sektoren des öffentlichen Dienstes. Liberalisierung und Privatisierung – das sind zwei Seiten derselben Medaille: Es geht um die Ausdehnung der Profitzonen, besonders für die grossen Konzerne.» Aus diesem Grund glaubt der VPOD-Präsident auch nicht, dass es genügen wird, die zerstörerischen Prozesse durch begleitende Massnahmen abzufedern. «Man will uns glauben machen, mit begleitenden Massnahmen könne der Markt re-reguliert werden, und das genüge dann, um einen sozialen Rückschritt in Fortschritt zu verwandeln. Dabei ist die Tendenz eine andere: Mit der Aufkündigung des sozialen Kompromisses und dem Ende der Delegation öffentlicher Interessen an den Staat verstärkt sich seine repressive Rolle. Am Schluss haben wird die durchgehende Liberalisierung mit gravierenden sozialen Konsequenzen für die Bevölkerung und gleichzeitig den repressiven Staat am Hals. Es ist ausgerechnet Bundesrat Moritz Leuenberger, der nimmermüde die Freiheiten der schönen neuen Marktwelt lobt und gleichzeitig in Davos die Unterdrückung der Meinungs- und Bewegungsfreiheit sowie den grössten Aufmarsch an Sicherheitskräften seit dem Zweiten Weltkrieg rechtfertigt!»

Bundesrat Moritz Leuenberger hat bei der Westschweizer Linken offensichtlich keinen Stein im Brett. «Was Moritz Leuenberger als ‘kurzatmiges Geschnatter’ bezeichnet, war der Widerstand eines ganzen Quartiers gegen die Schliessung eines Postbüros. Da zeigte sich ein Volkswille, auf den Leuenberger offenbar zu spucken gedenkt!», empört sich Pierre Vanek. Ohne den Altachtundsechziger, AKW-Gegner und militant gebliebenen Solidarités-Sekretär Vanek gäbe es heute vielleicht kein Referendum gegen die Liberalisierung des Strommarktes. «Es gibt in der deutschen Schweiz offenbar Anti-AKW-Kollegen mit der Überzeugung, man könne die Atomlobby auf dem Umweg über das Portemonnaie der KonsumentInnen in die Knie zwingen. Sie glauben, Atomstrom sei nach der Liberalisierung nicht mehr konkurrenzfähig. Das ist ein gefährlicher Irrtum. Wenn wir versuchen, die Atomlobby wirtschaftlich anstatt politisch zu besiegen, fördern wir die Gefährlichkeit der Atomanlagen.»
Nach Sachargumenten muss Vanek nicht lange suchen: «Schon heute müsste das AKW Gösgen eigentlich Sicherheitsinvestitionen vornehmen, doch die Betreiber reichten Rekurs gegen die Auflagen der Hauptabteilung für die Sicherheit der Kernanlagen ein – mit der Begründung, mehr Sicherheit beschränke ihre Wettbewerbsfähigkeit!»
Nach den Erfahrungen in andern Ländern, so Vanek, sei bereits heute klar, dass Preissenkungen vor allem für Grossverbraucher kommen. «Die Liberalisierung erlaubt privilegierte Verträge mit Grossabnehmern, da soll uns doch niemand sagen, das Gesetz bringe etwas anderes ausser wilde Konkurrenz, die auf Kosten der KleinkonsumentInnen und der kleinen und mittleren Betriebe ausgetragen wird!» Doch für den Solidarités-Sekretär ist klar, dass mit dem Referendum nicht nur ein besseres Gesetz angestrebt, sondern eine öffentliche Grundsatzdebatte ermöglicht werden soll. Denn auch für ihn steht fest, dass die Liberalisierungs- und Privatisierungstendenzen – «diese Dampfwalze, die alles platt macht» – umgekehrt werden müssen. «Der Unterschied zwischen einem privaten und einem öffentlichen Dienstleistungsunternehmen ist für die Zukunft entscheidend: Es geht um die Frage von Transparenz, Kontrolle und Mitsprache der Mitarbeitenden. Natürlich ist der Einfluss der Mitarbeitenden bei den heutigen Staatsmonopolen gering. Doch sie öffnen zumindest die Möglichkeiten für demokratische Mitsprache.»
Es sei kein Zufall, dass sich die öffentlichen Unternehmen heute wie private Konzerne benähmen. «Der Unterschied muss verwischt werden. Die emotionalen Beziehungen, die die Menschen noch zu den öffentlichen Unternehmen wie SBB oder Post haben, müssen zerschlagen werden. Denn die öffentlichen Unternehmen bergen den Kern eines nicht profitorientierten Arbeitens im Dienste der Allgemeinheit in sich. Sie könnten bei den Menschen die Idee von Sozialismus wiederbeleben.»