Die Linke und der Service public (10): Dritter Weg, Mittelweg – Holzweg

In der Debatte über den Staat spiegeln sich die grossen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte. Die 68er-Bewegung war eine Bewegung auch gegen muffige staatliche Autoritäten. Die 80er-Bewegung konnte mit dem Staat schon gar nichts mehr anfangen. Ihre Parole lautete: «Macht aus dem Staat Gurkensalat.» Inzwischen ist der Staat unübersehbar in die Defensive geraten – allerdings nicht durch linke Kritik. Angerichtet wird der Gurkensalat von rechts: durch Angriffe auf den Sozialstaat, auf die staatliche Infrastruktur und insgesamt auf den Leistungsstaat.
Der permanenten Verunsicherungskampagne bei der AHV zum Trotz ist die Bilanz der Auseinandersetzungen um die beabsichtigte Abwrackung des Sozialstaats bis heute insgesamt positiv. Einer wachen Linken ist es bisher gelungen, die neoliberalen Angriffe abzuwehren – mit Ausnahme der Heraufsetzung des Rentenalters der Frauen im Rahmen der 10. AHV-Revision. Damals waren Gewerkschaften und SP gespalten.
Schlechter ist die Zwischenbilanz bei den staatlichen Basisdienstleistungen, der so genannten Infrastruktur. Die PTT, die durch Gewinne in der Telekommunikation preisgünstige Postdienste möglich machten, bevor dies als «Quersubventionierung» denunziert und unterbunden wurde, sind zerschlagen worden. Swisscom und Post stehen unter starkem Liberalisierungs- und Privatisierungsdruck. Bei der Elektrizität ist die Gesetzgebung in Richtung «Marktöffnung» weit fortgeschritten, wobei die Ausgliederung und Privatisierung der kommunalen und regionalen Elektrizitätswerke forciert wird. Die Linke hat diese unter dem verführerischen Begriff «Liberalisierung» (wer will nicht «befreit» werden?) segelnden Angriffe auf die staatlichen Dienste meist nicht aktiv bekämpft, sondern weitgehend mitgetragen. Das ist die Folge von Unklarheiten über einige grundlegende Fragen zur Bedeutung der öffentlichen Dienste.

Marktregulation genügt nicht

Öffentliche Dienste wie Schulen, Spitäler, Wasser- und Stromversorgung sowie Bahn und Post erbringen elementare Leistungen, über die die Allgemeinheit so selbstverständlich verfügt, dass ihre Bedeutung für das tägliche Wohlbefinden erst sichtbar wird, wenn sie eingeschränkt werden. Die Lebensqualität hängt jedoch unmittelbar davon ab, dass Versorgung und Entsorgung funktionieren. Ein Beispiel: Wo die Abfallbeseitigung ausgegliedert und abgebaut wird und die Abfuhr nur noch einmal pro Woche kommt, stapeln sich die Abfallsäcke in den Wohnungen oder es beginnt in den Hausdurchgängen zu stinken. Hier wird klar, was wir an funktionierenden öffentlichen Diensten zu verlieren haben.
Öffentliche Güter begründen Anrechte für alle. Überall, wo es um fundamentale Voraussetzungen zur Teilnahme am gesellschaftlichen Leben geht, sei es in der Bildung, im Gesundheitswesen, in der Versorgung mit Energie oder in der Kommunikation, garantiert erst das öffentliche Gut den demokratischen Zugang. Der Zugang zu privaten Gütern hingegen wird durch den Markt und damit durch die Kaufkraft reguliert. Das schafft Privilegien für die wirtschaftlich Starken und benachteiligt alle, die nicht über das nötige Geld verfügen. Das gleiche Gefälle droht zwischen den Regionen. Ein Beispiel: Im Mai 2000 wurden die Konzessionen für den drahtlosen Netzzugang (Wireless Last Loop) versteigert. Während in Zürich 150 Millionen Franken und in Genf 60 Millionen Franken geboten wurden, war kein Unternehmen an einer Konzession in Graubünden oder im Wallis interessiert. In der Region Zürich investieren die Unternehmen damit pro EinwohnerIn 61 Franken in die Konzession, im Tessin oder in St. Gallen gerade noch 4 Franken. Solche Ungleichheiten bedrohen den Zusammenhalt der vor allem aus Randregionen bestehenden Schweiz, denn dieser beruhte bisher stark auf der gleichmässig hohen Qualität der national garantierten Dienste und den damit verbundenen Arbeitsplätzen – von den SBB bis hin zur Post.
Historisch wurden Verstaatlichungen, zum Beispiel diejenige der Eisenbahnen, mit Effizienzargumenten begründet. Heute behaupten die Befürworter von Liberalisierung und Privatisierung umgekehrt, die demokratischen Entscheidungsprozesse seien ein Effizienzhindernis. Doch das ist falsch. Die Ablösung öffentlich-rechtlicher Verfahren durch den Markt bedeutet nichts anderes, als dass sich unternehmerische Entscheide nicht mehr an öffentlichen Interessen, sondern an den Profitinteressen Privater orientieren müssen. Im Infrastrukturbereich führt das absehbar zu einer schlechteren und teureren Versorgung. Bei den langfristigen Investitionszyklen, die für die öffentliche Infrastruktur typisch sind, ist es fatal, wenn Marktmechanismen kurzfristige und kurzsichtige Entscheide fördern. Der Markt ist nicht in der Lage, den Erhalt und den Ausbau der Infrastruktur auf längere Sicht zu garantieren. Eine internationale Evaluation der Privatisierungen der letzten Zeit bestätigt diesen Befund.(1)
Die Vergabe der öffentlichen Dienste durch Konzessionen an Private mag zwar dem Fiskus vorübergehend hohe Einnahmen bescheren. Und es wird argumentiert, die negativen Effekte der Privatisierungen liessen sich auffangen, wenn entsprechende Gesetze die Grundversorgung garantieren. Doch die Konzerne können die Konzessionskosten auf die KonsumentInnen überwälzen und sind überhaupt in erster Linie an hohen Gewinnen interessiert. Bezahlen muss die Bevölkerung, die auf die Dienstleistungen angewiesen ist. Für die gleichmässige und preisgünstige Versorgung wie auch für die Arbeitsbedingungen des Personals bringt diese Schrumpfform von Service public, die den öffentlichen Einfluss auf eine Marktregulierung reduziert, nur Nachteile.

Angriff auf allen Ebenen

Auf Bundesebene stehen derzeit die Auseinandersetzungen um Swisscom und Post im Vordergrund. Unter dem Gesichtspunkt des öffentlichen Interesses an einer preisgünstigen Versorgung in allen Regionen und des Interesses der Beschäftigten an anständigen Arbeitsbedingungen gibt es keinen Grund, die Mehrheitsbeteiligung des Bundes an der Swisscom abzubauen. Das Problem liegt nicht darin, dass der Bund Eigentümer ist, sondern darin, dass das zuständige Departement seine Verantwortung gegenüber der Unternehmensleitung nicht wahrnimmt. Diese verhält sich nämlich so, als wäre die Swisscom ihr Privateigentum, das sie Stück für Stück verkaufen kann.
Die Zukunft der Post andererseits wird sich wohl nicht auf allen möglichen neuen Geschäftsfeldern, sondern beim Grundauftrag, also der postalischen Grundversorgung, entscheiden. Voraussetzung dafür sind ein gutes Poststellennetz und politisch günstige Rahmenbedingungen durch den Schutz des Postmonopols auch in Bereichen, die Erträge abwerfen. Natürlich gehört auch eine fähige Führung dazu, die im öffentlichen Auftrag eine Errungenschaft und positive Herausforderung sieht.
Bisher hat sich die Service-public-Debatte auf die nationale Ebene konzentriert. Dabei ist aus dem Blickfeld geraten, dass sich die Zukunft der öffentlichen Dienste zu einem guten Teil in den Kantonen (Bildung, Gesundheit) und in den Gemeinden entscheidet. Bei der Elektrizität sind während Jahrzehnten regionale und kommunale Werke samt zuverlässigem Verteilnetz aufgebaut worden. Diese öffentlichen Werke garantieren nicht nur die qualitativ gute und preisgünstige Versorgung, sondern repräsentieren auch ein enormes Kapital. Und was ist falsch daran, dass diese Werke nebenbei noch Erträge für die öffentlichen Finanzen abwerfen?
In den USA lässt sich zurzeit verfolgen, was die Politik der Liberalisierungen und Privatisierungen bei der Elektrizität in einigen Jahren auch für Europa bedeuten kann. In Kalifornien kam es im vergangenen Sommer zu vorher für unmöglich gehaltenen Versorgungsengpässen und Stromsperren. Und statt der versprochenen Preissenkungen erlebten die gewöhnlichen KonsumentInnen, wie sich der Strompreis um das Drei- bis Vierfache erhöhte.
Eine Schlüsselrolle bei der Auseinandersetzung um die öffentlichen Dienste wird der Kampf um das Wasser als öffentliches Gut spielen. Dies umso mehr, als in diesem Bereich in der Schweiz der Prozess der Liberalisierung und Privatisierung erst begonnen hat. Die Wasserversorgung betrifft die Grundlage des Lebens. Die Forderung, die Kontrolle über ein derart elementares Gut müsse bei der öffentlichen Hand verbleiben, ist fast zwangsläufig mehrheitsfähig, wenn sie einigermassen kohärent formuliert und politisiert wird. Die anlaufende Kampagne der Hilfswerke (2) zum Schutz des Wassers zeigt das Potenzial neuer Koalitionen.

Entscheidende Linke

Die Kommerzialisierung des Wassers ist auch ein Beispiel dafür, wie sich solche Fragen zunehmend gleichzeitig auf lokaler wie auf transnationaler Ebene stellen. Zu beachten ist ausserdem, dass in verschiedenen Bereichen (insbesondere bei den Kommunikations- und Verkehrsnetzen) die Liberalisierungs- und Privatisierungsprozesse nicht nur durch die neoliberale Ideologie, sondern auch durch technologische Entwicklungen begünstigt werden, welche die Grenzen des Nationalstaats relativieren. Eine Strategie zur Verteidigung des Service public, die sich auf die Ebene des Nationalstaats beschränkt, greift deshalb zunehmend zu kurz.
Die nationalstaatlich garantierten öffentlichen Dienste werden auch durch die neuen kommerziellen Dienstleistungsfreiheiten bedroht, die über die Welthandelsorganisation WTO durchgesetzt werden sollen. Bildung, Gesundheit und andere vitale Dienste sind davon betroffen. Der Prozess wurde durch die Proteste anlässlich der letzten WTO-Jahrestagung in Seattle nur vorübergehend gestoppt. Die Linke steht somit vor der Aufgabe, die Frage der öffentlichen Güter und Dienste neu auch in transnationalen Dimensionen zu denken. Die Durchsetzung der öffentlichen Interessen setzt den Aufbau einer transnationalen sozialen Bewegung voraus, die nicht nur den Protest gegen diese negativen Entwicklungen zu artikulieren weiss, sondern gleichzeitig in der Lage ist, die Forderung der «global public goods», der öffentlichen Güter und Dienste, auf einer europäischen und globalen Ebene neu zu formulieren. Wenn die schweizerische Linke auf der Höhe ihrer Ansprüche sein will, muss sie sich zum Ziel setzen, Teil einer derartigen Bewegung zu werden.
Bisher haben die öffentlichen Dienste der Schweiz – bei allem, was verbesserungsfähig wäre – im internationalen Vergleich eine hohe Qualität und Verlässlichkeit. Das ist das Ergebnis jahrzehntelanger harter Auseinandersetzungen. Die in der Bevölkerung stark verankerten Errungenschaften können nur dann rückgängig gemacht werden, wenn es keine überzeugende politische Kraft gibt, die sie verteidigt, oder wenn diese Kraft gelähmt ist. Es gibt politisch deshalb nur wenige Bereiche, bei denen von der Haltung der Linken so viel abhängt wie hier. Die aktuellen Positionsbezüge der Gewerkschaften,(3) aber auch der Service-public-Parteitag der SP Schweiz vom kommenden Wochenende erhalten somit eine Bedeutung, die über diese Organisationen weit hinausreicht und die Entwicklung der schweizerischen Gesellschaft insgesamt beeinflussen wird. Wenn es die Linke verpasst, eine wirksame Strategie zur Verteidigung der öffentlichen Dienste zu entwickeln, wäre dies ein historisches Versäumnis. Das Nein zur Auslagerung des Zürcher Elektrizitätswerkes zeigt deutlich, dass ihre Positionen auch in einem widrigen, neoliberal ideologisierten Umfeld mehrheitsfähig sind.
Voraussetzung dafür ist, dass die Linke die bestehende öffentliche Infrastruktur endlich offensiv verteidigt, statt mit Mittel- und dritten Wegen im Wind des Zeitgeists zu surfen. Die öffentliche Infrastruktur in der Schweiz muss sich zweifellos an sich wandelnde Bedürfnisse anpassen, doch das heisst nicht Abbau, sondern gegebenenfalls Ausbau im Interesse der betroffenen Bevölkerung. Dafür lohnt es sich zu kämpfen. Denn noch immer gilt, dass sich nur die Reichen einen schwachen Leistungsstaat leisten können. Ihnen genügt der starke Ordnungsstaat.

1) vgl. z.B. Hodge Graeme A.: Privatisation. An International Review of Performance», Westview Press Colorado, 1999.
2) Arbeitsgemeinschaft der Hilfswerke, Dossier Wasser, Peter Niggli/Rosmarie Bär, mail@swisscoalition.ch
3) z.B. SGB-Dok Nr. 73, Margrit Meier, Plädoyer für den Service public, September 2000