Die Linke und der Service public: Peter Bodenmann zur Debatte: Das politische Sommerloch

Sind Sozialisten Faschisten? Waren Sozialismus und Kommunismus von je her verbrecherisch? Und was hat die Swisscom damit zu tun? Von links bis rechts werden in der Schweiz zurzeit herzergreifende Debatten geführt.

Jeder Mensch, jede Bewegung und Partei versucht die Welt auf mehr oder minder vorgeprägte Art zu begreifen, zu interpretieren und vielleicht auch zu verändern. Die einen machen es systematischer, die anderen etwas weniger. Die einen lieben Fakten und Zahlen, andere den Diskurs mit möglichst wenig argumentativem Bodenkontakt.
In der politischen Auseinandersetzung gehört es zum gutem Ton, jene, die die Welt anders sehen und verstehen, als ideologisch abzustempeln. Ideologisch ist das Denken des Andern, das andere Denken. Wer dem anderen nachhaltig den Stempel des Ideologen aufdrückt, kann sich in der Regel erfolgreich um eine inhaltliche Debatte mit ihm drücken. Penetrant vorgetragene Ideologiefreiheit als Bestandteil der eigenen Ideologie. Denn jede und jeder hat eine Ideologie, vertritt mit ihr und durch sie Interessen, auch politische. Und diese unterschiedlichen Ideologien und Interessen jagen, messen und verbessern sich mit Vorteil in der politischen Debatte.
Jedes Land hat das politische Sommerloch, das es verdient. Politisch laufen zurzeit in der Schweiz Debatten, die die Herzen aller selbsternannten ideologiefreien Tiefflieger höher schlagen lassen.
• Blocher belebte die alte Totalitarismus-Debatte mit einem neuen Dreh: Faschismus ist gleich Stalinismus. Stalinismus ist gleich Sozialismus und Sozialdemokratie. Und alle Parteien der Schweiz – ausgenommen die SVP – stecken voller Sozialisten. Die SP reagierte wie eine beleidigte Leberwurst auf diesen Humbug. Verlangte eine Entschuldigung und bekam keine. Kündigte einen eigenen Bericht an und lieferte nichts.
• Der Berner Historiker Tobias Kästli macht in mehreren Aufsätzen klar, dass Teile der immer äusserst biederen schweizerischen Sozialdemokratie zeitweise Schwierigkeiten hatten, sich genügend klar vom Stalinismus abzugrenzen. Und fordert deshalb eine Entideologisierung der Partei, eine Privatisierung der Swisscom und – Blocher übertreffend – eine radikale Absage an jede Form von Sozialismus.1)
• Moritz Leuenberger hat keine zukunftsgerichtete Eigentümerstrategie für die Swisscom. Deshalb will er die Aktien des Bundes so schnell wie möglich verkaufen. Anstatt auf die inhaltliche Kritik an seinem manifesten Desinteresse für technische und wirtschaftliche Entwicklungen einzugehen, sind für ihn alle, die die Swisscom-Aktien nicht verkaufen wollen, unzeitgemässe Ideologen.2) Und gleichzeitig fordert Leuenberger – wie weiland Ursula Koch – eine gewollt nebulöse Grundwertedebatte.
• Ein Interview von Christoph Blocher mit dem unvorbereiteten und ideologisch etwas schwach auf der Brust argumentierenden Franco Cavalli im «Tages-Anzeiger» machte klar, dass offenbar inhaltlich Diskussionsbedarf besteht.

Flucht ins grundsätzliche
Die SVP ist national, antieuropäisch, unsozial, frauen- und fremdenfeindlich. Die SVP fördert Ausgrenzung und Rassismus. Die SVP ist trotzdem eine demokratische und keine faschistische Partei. Die Linke muss sich mit dieser Partei und ihren Positionen inhaltlich auseinander setzen.
Bestandteil dieser Auseinandersetzung ist die Aufarbeitung der Geschichte. Bis nach Stalingrad regierte die politische Rechte die Schweiz allein. Die Bevölkerung quer durch alle Schichten war mehrheitlich gegen Hitler und die Nazis. Die Schweiz entging dem 2. Weltkrieg, weil die Schweiz für Nazi-Deutschland nützlich war. Nicht der Guisan rettete die Schweiz, sondern die Alpentunnels, die Gold- und Geldwäscher aus der Bankenwelt sowie die der Wehrmacht dienenden Waffenfabriken Bührles. Parallel zu diesem verständlichen, da hoch rentablen Opportunismus schickte die Schweiz vor dem Holocaust Flüchtende unnötigerweise in den Tod. Wir hätten sie retten können und haben es unterlassen.
Die Verbrechen der Nazis sind ohne Vergleich in der Geschichte. Sie sind durch nichts zu entschuldigen und mit nichts zu vergleichen. Auf der anderen Seite stehen die Verbrechen des Stalinismus. Auch sie sind durch nichts zu entschuldigen und mit nichts zu vergleichen. Aber weder sind Nazis Stalinisten noch umgekehrt. Beide haben ihre Geschichte, ihre Verbrechen. Der Faschismus stellte den Kapitalismus nicht in Frage, er machte ihn in Deutschland nur judenfrei. Wirtschaftspolitisch praktizierte der deutsche Faschismus Kriegskeynesianismus, was zu der einen oder anderen Irritation innerhalb der Sozialdemokratie führte. Der Stalinismus war bürokratisch, undemokratisch, terroristisch und deshalb letztlich auch wirtschaftlich ineffizient. Erfolgreich produzierte der Stalinismus phasenweise Beton, Stahl und allerlei Kriegsgerät. Für die Produktion von funktionierenden Autos reichte diese Form des nachholenden Fordismus nicht. Eine Schwäche der Linken – aber nicht nur der Linken – war, ist und bleibt die Tatsache, dass sie bis heute die Bewegungsgesetze dieses real nicht existierenden und deshalb implodierten Sozialismus nicht begriffen hat.
Soweit das Auge des politischen Betrachters reicht, gibt es heute in der Schweiz keine relevante Kraft, welche die bürgerlichen politischen Freiheiten in Frage stellt oder als Zugabe zu denselben eine Alternative zum Kapitalismus entwirft. Die aktuellen Streitpunkte betreffen die Feinmechanik des Systems: Soll das Volk den Bundesrat wählen? Ist das konstruktive Referendum sinnvoll? Soll das AHV-Alter erhöht werden? Wer bekommt wie viel Nationalbank-Gold?
Die Schweiz hat im internationalen Vergleich entwickelter kapitalistischer Staaten eine äusserst tiefe Staatsquote. Diese stieg in den neunziger Jahren leicht an, weil die Schweiz wegen einer falschen Wirtschaftspolitik weniger Wirtschaftswachstum kannte als etwa die USA und die Länder der EU. Die Schweiz war nicht nur Europameisterin in Sachen Nullwachstum, sondern gleichzeitig sank die reale Kaufkraft der Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer. Das beweglichere Schweden und das von rechts bis links gerne flattierte Holland weisen weit höhere Staatsquoten auf, genauso wie Frankreich, das eine erstaunlich erfolgreiche Wirtschaftspolitik betreibt. Politisch geht es heute real weder um die bürgerlichen Freiheiten noch um die Verstaatlichung der Wirtschaft, sondern um die Feinkalibrierung des bestehenden Systems. Nicht unwichtig, aber auch nicht weltbewegend.
Anstatt sich mit den konkreten Problemen der Schweiz auseinander zu setzen, praktizieren Blocher, Leuenberger und Kästli Ausweichmanöver ins vermeintlich Grundsätzliche. Argumentative Insuffizienz im Konkreten wird ersetzt durch die Pose des vertieft Nachdenkenden. Bei Blocher ist das Ziel klar: Er will die Schweiz unsozialer machen, deshalb ortet er überall Sozialisten. Bei Leuenberger und Kästli geht es offenbar um einen Rechtsruck innerhalb der dem Kapitalismus dienenden Reparaturwerkstätte Sozialdemokratie.

Linker Rechtsrutsch?

Für Kästli ist es ärgerlich, dass die SP in den neunziger Jahren – bevor übrigens mit Beteiligung Kästlis die dreijährige Sendepause der Ära Koch folgte – linker als ihre europäischen Schwester- und Bruderparteien politisierte. Und erst noch halbwegs erfolgreich. Aber die Politik der SP war und blieb auch in den neunziger Jahren systemimmanent:
• Die SP trat als erste Partei klar für einen Beitritt zur EU ein, weil erfolgreich nur in relevanten Räumen politisch rereguliert werden kann. Parallel dazu entwickelte die SP die Politik der flankierenden Massnahmen, der Ausnützung der national vorhandenen Spielräume, um demokratischen, sozialen und ökologischen Fortschritt zu wahren und zu mehren.
• Die SP stellte die Wirtschaftspolitik ins Zentrum ihrer Politik, forderte einen schnellen Strukturwandel und gleichzeitig als stimulierende Elemente des notwendigen Wirtschaftswachstums mehr soziale Gerechtigkeit durch höhere Kaufkraft und den ökologischen Umbau.
• Die SP Schweiz trat für die Halbierung der Kosten der Armee, für die Abgabe auch harter Drogen und gegen die politische Polizei ein.
Diese Fakten belegen: Es ging um keine revolutionäre, systemsprengende SP-Politik, sondern um den Versuch, eine halbwegs konsequente Reformpolitik gegen den Neoliberalismus zu formulieren.3)
Teile der politischen Linken gingen in den letzten zweihundert Jahren davon aus, dass der Sozialismus den Kapitalismus ablösen werde, wie dieser einst den Feudalismus im dreifachen Wortsinn aufgehoben hatte.4)
Die Zahl der Menschen, die politisch diese Ansicht teilen, wurde im Verlauf der letzten Jahre nicht grösser, sondern kleiner. Die meisten Linken bewegt – wenn überhaupt – nur mehr die Frage, wie im Rahmen des sich global durchsetzenden Kapitalismus dieser halbwegs effizient, sozial und ökologisch rereguliert werden kann.
Vorsichtig formuliert spricht einiges dafür, dass heute in den entwickelten Industrieländern die Voraussetzungen erfüllt wären, unter denen ein demokratischer Sozialismus für die grosse Mehrheit der Menschen mehr Demokratie, mehr Wohlstand und mehr Lebensqualität bedeuten könnte.
Die politische Linke kommt – wenn sie die Frage des Bruchs mit dem System noch jemals ernsthaft diskutieren will – nicht darum herum, ein konkretes Projekt zu entwerfen, wie denn ein System funktioniert, das frei vom Primat der Kapitalverwertung die Produktion von Waren und Dienstleistungen demokratisch, sozial und ökologisch besser löst als der mehr oder minder regulierte Kapitalismus.
Selbst jene Linke, die eine Überwindung des Kapitalismus als definitiv undenkbar erachten, müssten heute ein eminentes politisches Interesse an einem Projekt haben, das Sektor für Sektor aufzeigt, wie eine Gesellschaft funktionieren könnte, die entlang der Bedürfnisse der bezahlt und unbezahlt Arbeitenden effizient Waren und Dienstleistungen produziert. Ein solches Projekt müsste sich zumindest auf einen politisch und wirtschaftlich relevanten Raum wie die EU beziehen, um in mühsamer Kleinarbeit einen halbwegs brauchbaren Blueprint einer demokratischen, sich selbst regulierenden, sozialistischen Gesellschaft zu entwerfen.
Einige Fragen mögen andeuten, in welche Richtung Denkarbeit zu leisten wäre:
• Wie kann die hoch komplexe Produktion und Vermarktung von immer mehr und immer raffinierteren Waren und Dienstleistungen bedürfnisgerecht geplant und realisiert werden? Welche Planungs- und Marktmechanismen können und müssen einen Prozess mitsteuern, in dessen Zentrum nicht mehr die Verwertung und Aneignung des Kapitals durch wenige steht, sondern die Befriedigung der Bedürfnisse aller? Auf welchen Feldern braucht es welche Spielräume für die jeweiligen Akteure? Welche Mechanismen ersetzen die bereits im kommunistischen Manifest beschriebene zerstörerische und produktive Dynamik des Kapitalismus? Wie wird der Preis von Waren und Dienstleistungen bestimmt?
• Wie wird neu wirtschaftliches Wachstum richtig definiert und wie kräftig kann und soll die Wirtschaft für wen wachsen? Welche Formen wird die heute teilweise bezahlte und teilweise unbezahlte Arbeit annehmen? Wer verfügt in welchen Formen über wie viel Einkommen, Vermögen und Gesundheit?
• Das Privateigentum am Bauland verhindert sinnvolle Raumplanung. Die private Aneignung der öffentlich durch Einzonung und Erstellung der Infrastruktur geschaffenen und weitgehend nicht abgeschöpften Mehrwerte verteuern über die feudalistische Bodenrente das Wohnen und Arbeiten. Wie sieht die effiziente Produktion hochkomfortabler Wohn- und Arbeitsbereiche neu aus?
• Keine, unregelmässige oder schlecht bezahlte Arbeit macht krank. Fehlende Arbeitsmedizin erhöht die Zahl unnötiger seelischer und körperlicher Leiden. Welche Formen nehmen ambulante und stationäre Medizin in einem System wahr, in dem die Bedürfnisse der Pflegenden und zu Pflegenden im Zentrum stehen?
• Wie kann – ohne dass der Spass an Mobilität nur als falsches Bedürfnis und Entfremdung begriffen wird – ein System, das öffentlichen und privaten Verkehr verschmelzen lässt, komfortablere, sicherere und schnellere Mobilität mit weit weniger Ressourcenverbrauch verbinden?
Persönlich bin ich überzeugt: Solange es nicht ein Projekt gibt, das auf diese und viele andere offene Fragen konkrete, überprüfbare Antworten gibt, wird die Zahl der Linken, die an einen möglichen Bruch mit dem Kapitalismus glauben, zu Recht nicht grösser, sondern kleiner. Umso wichtiger ist es, dass die Linke bis auf weiteres halbwegs konsequent die Interessen der Menschen mit kleinen und mittleren Einkommen vertritt. Und dazu hat nicht einmal der arg defensiv argumentierende Franco Cavalli etwas gesagt.


1. Kästli geht weiter als Blocher und schreibt im «Magazin» (29/2000): «Historikerinnen und Historiker haben damit begonnen, eindringlich und genau zu belegen, dass nicht nur ‘der Stalinismus’ verbrecherisch war, sondern der Sozialismus/Kommunismus insgesamt, und zwar bis in die neuere Zeit hinein. Man wird den Sozialismus (...) grundsätzlich als Irrtum begreifen müssen, und das wird auch die Sozialdemokratische Partei der Schweiz von einer grossen Hypothek befreien.» Und auch weiter als der ehemalige amerikanische Verteidigungsminster Robert McNamara, der heute den Vietnam-Krieg als Fehler betrachtet. Für Kästli gilt: «Die Verlogenheit des amerikanischen Imperialismus wurde angeprangert, dessen Kreuzzug für die Freiheit – etwa in Vietnam – durch krude Geschäftsinteressen motiviert sei.»
2. Folgende Fragen stehen im Raum: Soll die Swisscom – wie dies Telia in Schweden macht – flächendeckend die ADSL-Technologie installieren? Kann die Swisscom eigenständig überleben? Kann der Bund auch anteilsmässiger Aktionär bleiben, falls der Zusammenschluss mit dritten Telefongesellschaften angesichts der Skaleneffekte notwendig ist? Im Gegensatz zu Moritz Leuenberger gibt sich Swisscom-Chef Jens Alder differenziert.
3. Wer die dürftigen Unterlagen für den SP-Parteitag vom Oktober 2000 in Lugano durchgeht, merkt unschwer: Zurzeit herrscht in der SP konzeptionelle Orientierungslosigkeit. Eine unnötige Statutenreform wird auf nicht einmal eineinhalb Seiten begründet. Die Beiträge von Pierre-Yves Maillard und Simonetta Sommaruga spiegeln im Bereich des Service public traditionelle und modernistische Konzept-
losigkeit.
4. Franco Cavalli antwortet auf die Frage des «Tages-Anzeigers» (14. 7. 2000): «Will die SP den Kapitalismus überwinden oder nicht?» wie folgt: «Weil die Mehrheit der SP-Mitglieder diesen Satz immer noch als utopische Vision des Sozialismus empfindet – genau wie die Christen an den Himmel glauben (...) So gesehen stört mich dieser Satz nicht, er hat auch keinen Einfluss auf unsere jetzige Politik.» Gottfriedstutz.