Die Linke und der Service public (7): Kommt Marx ins Brockenhaus?

Bundesrat Moritz Leuenberger will die Swisscom privatisieren. Dafür erntete er von seiner Partei harsche Kritik. Am Parteitag der SP Zürich vom Wochenende nahm der Verkehrs- und Umweltminister Stellung zu dieser Kritik und sprach über den Service public. Die WoZ dokumentiert die Rede in leicht gekürzter Version.

Wenn über den künftigen Weg der Sozialdemokratie nachgedacht wird, wird kaum über Gramsci, Proudhon oder Anthony Giddens gesprochen, sondern über Blair, Schröder oder Jospin. Es wird also die Zukunft der Sozialdemokratie nicht an den Gedanken von Philosophen oder Utopisten, sondern an den Taten von Regierungschefs diskutiert. Sozialdemokratische Politik wird danach beurteilt, was die Macher in der Exekutive leisten. Das bedeutet einerseits, dass wir in einer Zeit der Praxis und weniger in einer der visionären Ideen leben. Es wird hauptsächlich über den Weg und nicht über das Ziel diskutiert, ja, die erbittertsten Auseinandersetzungen erfolgen über einzelne Schritte und Schrittlein, ohne dass auch nur an den Weg gedacht würde, geschweige denn an das Ziel. Ich denke an die Verlegung einer Poststelle um 300 Meter, was die Gemüter unserer Genfer Genossen erhitzte. Ich beklage das gelegentlich als ein kurzatmiges Geschnatter.

Doch zeigt diese engagierte Diskussion um konkrete Politik auch etwas anderes: Eine Maxime der Sozialdemokratie ist die, Verantwortung wahrzunehmen, nicht nur mit Initiativen und Referenden oder mit der Präsenz im Parlament, sondern durch Arbeit in den Regierungen. Wir wollen Einfluss auf diese Gesellschaft nehmen, wir wollen uns an der Macht beteiligen. Das tönt für manche, denen die programmatische Orientierung wichtiger ist, immer noch etwas anrüchig, doch ist diese Partizipation an der Macht nichts anderes als die Folge davon, dass wir Verantwortung übernehmen.

Für diese Arbeit haben wir uns an einem Programm – oder an einer Vision – zu orientieren. Sie ist der Fluchtpunkt, in welchem die Perspektiven zusammenlaufen. Ohne Fluchtpunkt verlören sich die Perspektiven als Parallelen im Unendlichen. Und ohne Perspektive bliebe der Fluchtpunkt unerreichbar. Beides, Ziel und Weg dazu, gehören zu unserer Politik.

Pragmatik eines ethischen Sozialismus

So besteht zwischen Programmatik und Pragmatik kein Widerspruch. Pragmatik ist die Kunst, richtig zu handeln, und richtig handelt nur, wer die programmatischen Grundwerte in seine ethischen Überlegungen für die tägliche Arbeit einbezieht und sich nach ihnen ausrichtet. Das ist die Pragmatik eines aufklärerischen, eines ethischen Sozialismus, eine Haltung, die ich einem so genannten «dritten Weg» vorziehe, deshalb, weil der Weg zu einem Ziel immer wieder von neuem gesucht werden muss, und nie ist ein einziger für immer vorgegeben. Wer die ethische Reflexion bei seinen konkreten Handlungen unterlässt, verfällt in einen Pragmatismus der Beliebigkeit, in orientierungslosen Utilitarismus. Beschränkt er sich umgekehrt auf das Programm und liebäugelt damit, diesem ausschliesslich aus der Oppositionsstellung zu huldigen, ohne es umsetzen zu müssen, entzieht er sich der Verantwortung für die Gegenwart und die Zukunft.

Es ist richtig, dass wir eine Diskussion um Grundwerte führen müssen. Aber sie darf nicht nur anhand des Programms stattfinden. Sie muss auch tagtäglich vor jedem politischen Alltagsentscheid geführt werden. Wer dies nicht tut, weicht der sehr viel bedeutenderen Grundwertediskussion aus, derjenigen nämlich, die vor jedem pragmatischen Schritt erfolgen muss.

Beispiele:

· Als wir die 28-Tonnen-Limite für Lastwagen aufgaben, war dies für einige beinahe so schlimm, wie wenn sie das «Kapital» von Karl Marx dem Brockenhaus hätten übergeben müssen (obwohl sie es nie gelesen haben). In Wirklichkeit drehte sich um diese 28- Tonnen-Limite die Frage: Können die bilateralen Verträge mit der EU abgeschlossen werden und kann so die Schweiz einen ersten Schritt aus ihrer Europaisolation tun? In Wirklichkeit stellte sich die Frage: Kann mit der Aufhebung der 28-Tonnen-Limite eine LSVA eingeführt werden, kann es also möglich werden, eine Internalisierung externer Kosten des Schwerverkehrs einzuführen? Diese Diskussion war in der Tat eine Diskussion um Grundwerte.

· In der Schweiz wird Kernenergie produziert, und damit fallen Abfälle an. Haben wir nun das Recht, diese Abfallproblematik so lange nicht anzugehen, als dieses Land Kernkraft produziert? Ist eine solche Verweigerungspolitik mit der Absicht, die Kernkraftproduktion zu beenden, legitim, oder macht man sich so mitschuldig daran, dass die heutige Generation das real vorhandene Abfallproblem nicht löst? Das ist eine Diskussion um Grundwerte. (...)

· Soll zugunsten des Klimaschutzes umweltschonende Technologie in der Dritten Welt gefördert werden, oder soll der CO2-Ausstoss hier reduziert werden, oder sollen beide Wege beschritten werden? Das ist eine Diskussion um Grundwerte. (...)

· Wer das Paket, welches flankierende Massnahmen für die Randregionen, eine Postbank und Flexibilität für Swisscomentscheide enthält, als «billigen Deal mit Geissen und Kühen» betitelt, der entzieht sich dieser Diskussion um Grundwerte. Ich bin aber sicher, er wird sie noch führen, denn er kommt darum nicht herum.

Dogmatisierungsgefahr des Service public

Der Service public ist ein wichtiger programmatischer Teil unserer Politik, nicht nur, weil er abgekürzt «sp» heisst, sondern weil die gleichwertige Bedienung aller Menschen, ob Arm oder Reich, Jung oder Alt, und Landesgegenden, ob städtisch oder peripher, Element einer gerechten Gesellschaft ist, wie wir sie uns vorstellen.

Aber es gibt auch eine Dogmatisierungsgefahr um den Service public, indem er nämlich auf seine blosse bisherige Form reduziert wird, statt dass er an seinem politischen Grundgedanken gemessen würde. Dieser Grundgedanke bedeutet, dass der Staat die Chancengleichheit und die gleichwertige Bedienung aller in diesem Lande zu garantieren hat.

Es heisst nicht, und da tue ich meine Meinung kund, die in der Partei nicht überall geteilt wird, dass er alle diese Leistungen auch gleich noch selbst erbringen müsste. Es gibt Bereiche, wo dies nur der Staat kann, weil eine schrankenlose Liberalisierung zu sozialen und regionalen Disparitäten führen würde. Dort kennen wir auch heute das Monopol, in Teilen der postalischen Versorgung etwa. Es gibt Bereiche, wo staatliche oder öffentlich kontrollierte Betriebe mit privaten Unternehmen konkurrieren, wo also liberalisiert wurde, das ist bei den elektronischen Medien schon längere Zeit der Fall, in Bereichen der Post ebenso. Und es gibt schliesslich Bereiche, wo der freie Markt alle günstig versorgt, bei Salz und Tabak ist das längst selbstverständlich, in der Telekommunikation ist es abzusehen.

Auch dort muss sich allerdings der Staat einschalten, um die Gefahr eines privaten Monopols zu bannen und um einen fairen Wettbewerb zu garantieren. Das kann er mit Konzessionen organisieren, mit Aufsichtsorganen, mit Gebühren und entsprechenden Kontrollen. Mehr Markt heisst daher meist mehr Regulation und keineswegs weniger Staat.

Unser Ziel kann nie die Liberalisierung, nie die Privatisierung, nie das Monopol als solches sein. Diese sind je Mittel für eine optimale Grundversorgung. Ich verstehe den Service public als einen Service au public, eine Verpflichtung für die Menschen, und nicht als ein Privileg des Staates und derjenigen, die bei ihm arbeiten. Die Diskussion darüber, welches Mittel das richtige sei, ist Gegenstand unserer täglichen politischen Diskussion.

Die Post unterhält ein Poststellennetz. Dieses Netz kostet zwei Milliarden Franken. Es ist unser Wille, dass die Post es im Grossen und Ganzen aufrechterhält und ihre Dienstleistungen verbessert. Deshalb soll sie in die Lage versetzt werden, diese Aufgabe mit den Einnahmen einer Postbank zu finanzieren.

Der Markt und die Technologie der Telekommunikation haben sich schneller entwickelt, als vorauszusehen war. Heute geht es darum, die Interessen der Swisscom bestmöglich zu vertreten. Diese können möglicherweise eines Tages am besten gewahrt werden, wenn Allianzen eingegangen werden. Dazu kann unter Umständen die Preisgabe der Aktienmehrheit durch den Bund notwendig sein. Dies ist eine von vielen Möglichkeiten. Solche Geschäfte müssen in wenigen Wochen abgewickelt werden. Deswegen braucht es Flexibilität. Daher unser Antrag auf Kompetenzübertragung an den Bundesrat. Das Ziel eines starken Unternehmens wird dadurch nicht in Frage gestellt, sondern ermöglicht. Aber wer die Flexibilität für den Fall des Falles heute verbaut, muss sich unter Umständen später vorwerfen lassen, am finanziellen Niedergang der Swisscom, am Verlust von tausenden von Arbeitsplätzen in diesem Unternehmen mitverantwortlich zu sein und damit an einer Verschleuderung von Geldern, die der Allgemeinheit gehören.

Dabei geht es nicht um den Service public – dieser ist und bleibt vorgeschrieben im Gesetz –, sondern es geht um die wirtschaftliche Ertragskraft eines Unternehmens, welches dem Bund gehört, eines Unternehmens, das in einem Markt tätig ist, der unsere Vorstellungskraft gelegentlich sprengt (die deutsche Telekom hat allein für Ankäufe rund 150 Milliarden Franken zur Verfügung).

Für die Diskussion um die Zukunft der Swisscom dürfen wir uns nicht auf ideologische Positionen fixieren. Eine solche ideologische Position bestünde darin, die Privatisierung der Swisscom an und für sich, als solche, um ihrer selbst willen voranzutreiben. Es wäre aber ebenso ideologisch, die gegenwärtige Mehrheitsbeteiligung des Staates als sakrosankt zu verherrlichen.

Sozialdemokratische Politik hat die Welt stark verändert. Die Welt ändert sich weiter, doch gibt es heute da und dort in unseren Kreisen die Tendenz, sich gegen weitere Änderungen kurzerhand zu wehren, statt an ihnen weiter zu arbeiten. Wer dies tut, bestätigt die (unrichtige) Behauptung Dahrendorfs, das Jahrhundert der Sozialdemokratie sei vorbei. Gewiss wäre es einfacher, die Genforschung kurzerhand zu verbieten, statt deren Ergebnisse auf Chancen und Risiken der Menschheit abwägen zu müssen. Aber wäre das auch verantwortungsvoll?

Aufklärerischer Fortschritt

Gewiss wäre es einfacher gewesen, die SBB als Anstalt zu belassen, statt sie in eine AG zu überführen und sie teilweise dem Wettbewerb auszusetzen. Aber wäre das angesichts der Konkurrenz der Strasse gegenüber der Bahn verantwortungsvoll gewesen? Heute haben sie die 39-Stunden-Woche eingeführt, schreiben schwarze Zahlen und haben Marktanteile gewonnen. Sie haben keine Mitarbeiter entlassen und werden das auch nicht tun. Selbst in dieser schwierigen Phase bleiben die SBB der Sozialpartnerschaft verpflichtet.

Die Informationsgesellschaft, die Gentechnologie, die Mobilität, sie alle bringen Risiken und Chancen. Wer eine Welt der Chancengleichheit anstrebt, darf nicht wegen der Risiken eine neue Entwicklung als solche verunmöglichen, sondern er muss die Risiken verhindern und die Chancen mehren. Die Chancen für die Benachteiligten, für die Umwelt, für die Randgebiete, für die Dritte Welt.

Die Sozialdemokratie hat den aufklärerischen Fortschritt stets vorangetrieben. Es gab technologische Fortschritte, die Unterprivilegierte gleichberechtigt gemacht haben. Und es gibt weitere solche Entwicklungen. Wir wollen und müssen sie nutzen für unsere Ziele von globaler Solidarität und Chancengleichheit.

Wieso sollen wir uns am Beamtenstatus festklammern, wo wir die weit bessere Möglichkeit eines GAV haben? Eine Erkenntnis, der sich 95 Prozent des SBB-Personals anschlossen!

Wieso soll das Poststellennetz unverändert bestehen bleiben, wo die Post doch zu den Kunden und Kundinnen gehen kann und soll – und dies vielleicht in besserer Form als bisher?

Wieso soll der Bund die Mehrheit der Swisscom halten, wenn das Unternehmen nur auf andere Art gestärkt wird und überlebensfähig bleibt?

Sich gegen solche Entwicklungsmöglichkeiten zu stemmen, die Vergangenheit zu verherrlichen, heutige Verhältnisse als ideal und unveränderbar hinzustellen, ist nichts anderes als Gegenwartsromantizismus, als eine Verhinderungsideologie. Es ist ein Ausweichen vor schwierigen, aber nötigen Fragen, und es ist auch die Abschiednahme von unserer Überzeugung, die Gesellschaft zu verändern und gerechter zu gestalten, eine Flucht aus der Verantwortung, der Verzicht auf jede Perspektive und damit auf jede Zukunftsgestaltung!

Wir haben ein Ziel, und wir müssen die Wege dorthin suchen und sie beschreiten.