Elias «Es war ganz seltsam, was da mit mir passierte – ich lebte mehrere Jahre in einem Trancezustand»
«Wieso ich so lange gewartet habe? Ich weiss es eigentlich auch nicht. Ich bin überhaupt nicht im Streit mit mir. Wenn ich auf mein Leben zurückblicke, bereue ich – auf mich bezogen – nichts. Nur wenn ich an Bettina denke, habe ich dieses Gefühl, das vielleicht nie ganz verschwinden wird: dass ich sie letztlich getäuscht habe.»
Elias ist 64, gerade hat er sein Pensum als Lehrer an einem Gymnasium leicht reduziert und ist in ein städtischeres Umfeld gezogen. «Ich wusste, dass ich nach der Pensionierung mehr Betrieb um mich brauchen werde.» Er will versuchen, das Nichts nach seinem Berufsleben erst mal auf sich zukommen zu lassen. «Vielleicht wird es dann gar nicht so lustig.»
Bettina begegnete er erstmals als Teenager, bei einem Schultheater, in dem sie beide mitspielten. Dann fragte ihn Bettinas Bruder, ob er eine Gruppe in ein Tessiner Bergtal begleiten wolle, um gemeinsam ein Haus umzubauen. Elias erinnert sich, wie er mit Bettina in einem Bach baden ging und sie ihm die Haare wusch. Danach verloren sie sich für ein paar Jahre aus den Augen.
Viele Jahre später treffen sie sich wieder an einem Konzert einer gemeinsamen Freundin. Elias studiert Russisch. Also fragt sie, die mittlerweile Opernsängerin ist, ob er ihr mit der Aussprache des Textes zu einem Lied von Mussorgski helfen könne. Damit beginnt ihre Liebe. 1988, beide sind jetzt gegen dreissig, kommen sie zusammen. 1990 kommt ihre erste Tochter zur Welt, zwei Jahre später die zweite, nochmals drei Jahre später die dritte.
Vor der Beziehung mit Bettina liest Elias viel von John Irving. Obwohl in dessen Romanen vieles an den Familien problematisch ist, fördern die Geschichten in ihm den Wunsch, eine eigene Familie zu gründen. Davon hat er ein Bild, zu dem er damals keine Alternative kennt: Vater, Mutter, Kinder. Als er einem Kollegen, einem Biologielehrer, Jahre später seine Geschichte erzählt, sagt dieser zu ihm: «Der Nesttrieb ist auch eine biologische Grösse.»
Bis dahin hatte Elias ausser Jugenderlebnissen mit Gleichaltrigen nie Sex mit einem Mann. Noch zu Beginn seines Studiums kennt er wissentlich keine andere Person, die homosexuell ist. Vielleicht wäre sein Leben ganz anders verlaufen, hätte er in seinen Zwanzigern einen Mann getroffen, bei dem es gefunkt hätte. Eine rein sexuelle Anziehung kennt Elias kaum, er hat das auch nie gesucht. Eher ist es eine ganze Person, die ihn interessiert. Und so traf er zuerst eine Frau – und verliebte sich in sie. Gleichzeitig wusste er schon früh, dass er sich zu Männern hingezogen fühlt. «Als Gymnasiast verliebte ich mich in einen Studienfreund meines Bruders. Er sich damals auch in mich, aber das habe ich erst Jahre später herausgefunden.»
Elias geht auf die vierzig zu, als er sich in einen Lehrerkollegen verliebt. Sie sind gut befreundet, verbringen meistens die Mittwochnachmittage zusammen mit ihren Kindern. Aber der Freund steht nicht auf Männer. «Es war eine unerfüllte Liebe, aber sie hatte eine unglaubliche Kraft. Ich habe sie eher poetisch ausgelebt, Briefe und Gedichte geschrieben. Die Melancholie ist für mich ein wichtiges Lebensgefühl. Es war ganz seltsam, was da mit mir passierte – ich lebte mehrere Jahre in einem Trancezustand.» 1999 zieht die Familie innerhalb des Dorfs noch einmal um, ein Haus ganz aus Holz, ein alternativer mittelständischer Traum. Später sagt Bettina einmal zu ihm: «Du bist eigentlich gar nie richtig im neuen Haus angekommen.»
Bettina hat schon eine Weile das Gefühl, dass Elias für sie nicht mehr erreichbar ist. Da findet sie im Bad ein Sexheftli mit nackten Männern. Sie stellt Elias zur Rede, er erzählt ihr später von seiner unerfüllten Liebe. «Bettina hatte einige schwule Freunde, mein Coming-out hat sie überhaupt nicht schockiert, es hat sie eher interessiert. Aber ihr war auch klar, dass die neue Realität sie ausschliessen würde. Bettina hat mich immer total unterstützt. Aber sie hat mich auch fortgeschickt, es war, als würde ich aus dem Nest fallen.» Elias fällt in eine schwere Depression.
Wie ist das, als schwuler Mann seine Sexualität mit einer Frau zu teilen? «Es wurde schon irgendwann ein Thema, dass Bettina sich nicht mehr begehrt fühlte. Aber es hat sich für mich nicht seltsam angefühlt. Das hatte sicher viel mit Bettina als Person zu tun, ich hatte mich wirklich in sie verliebt. Es war für mich sicher keine völlig befreite, keine überfallende Sexualität. Aber man kann ja auf verschiedene Arten Sex haben, auch ganz zärtlich. Nach meinem Coming-out habe ich mich eine Weile gefragt, ob ich bisexuell sein könnte, ich besuchte auch einen Treff für bisexuelle Väter. Aber ich habe schnell gemerkt, dass ich da nicht hingehöre.»
Bettina und Elias überlegen sich: Wenn ein vierzigjähriger Familienvater sich outet, outet sich die ganze Familie mit ihm. Zuerst versammeln sie die drei Töchter im Wohnzimmer. Die mittlere, achtjährige, sagt zur Mutter: «Du musst den Papa jetzt gehen lassen.» Dann schreiben sie Briefe an die Schule der Töchter, an Freund:innen und Bekannte im Dorf. Elias hat nicht das Gefühl, dass seine Töchter unter seinem Coming-out leiden. Als die mittlere in die Pubertät kommt, ist es für sie eine Weile lang schwierig. Einmal sagt sie zu ihrem Vater, sie wolle nicht, dass er zum Elternabend komme. Sie hat Angst, dass man in der Schule über sie reden würde, weil ihr Vater schwul ist.
Die jüngste Tochter habe ihm kürzlich erzählt, für sie sei der Familienalltag damals einfach weitergegangen. Elias zieht in eine eigene Wohnung, aber unter der Woche schaut er zweimal zu den Kindern, er übernachtet regelmässig in einem kleinen Zimmer im Untergeschoss. Als Familie machen sie am Wochenende Ausflüge, und sie unternehmen grosse Reisen in den Senegal oder die Mongolei.
Elias besucht eine Selbsthilfegruppe für schwule Männer, trifft Piloten und Bauern mit ähnlichen Geschichten, manche sind tragischer als seine. Dort lernt er einen Mann kennen, mit dem er ein halbes Jahr eine Beziehung führt. «Es war total schön, und ich konnte endlich diese Trance hinter mir lassen, aber es war keine Offenbarung.» Trotzdem ist die neue Situation für ihn auch eine Befreiung, während Bettina mit den Kindern im Haus bleibt.
Damit die Familie mit dem schwulen Vater funktioniert, muss Bettina ihre eigenen Bedürfnisse zurückstecken. «Nach ein paar Jahren hat sie mich gebeten, etwas auf Distanz zu ihrer Herkunftsfamilie zu gehen, zu der ich bis heute eine sehr gute Beziehung habe. Aber auch auf Distanz zu ihr.» Zehn Jahre nach seinem Coming-out lernt Bettina einen neuen Partner kennen, worauf sich die Beziehung zwischen ihr und Elias sofort entspannt. Manchmal trifft sich die ganze Patchworkfamilie, auch mit dem Sohn von Bettinas Mann, zum Beispiel zu einem Tag in der Badi.
Elias hat danach noch eine weitere kürzere Beziehung mit einem Mann, lebt nun aber schon einige Jahre allein. Am Abend komme er wahnsinnig gern nach Hause in seine leere Wohnung. Das Alleinsein sieht er nicht als Mangel an, sondern als einen Lebensstil, der an sich wertvoll ist.