Rosina «Am meisten verunsichert mich, dass ich überhaupt kein schlechtes Gewissen habe»

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Illustration von Giulia Spagnulo: zwei Menschen stehen an einer Strassenlaterne und umarmen sich
Illustration: Giulia Spagnulo

Seit sie denken kann, will Rosina heiraten. Und sie weiss auch schon lange, wie das aussehen soll: weisses Kleid, Steinchen, viel Glitzer, Sisi und Barbie als Vorbilder dafür. Der Grossvater hat ihr eine Regel mit auf den Weg gegeben, an die sie sich gehalten hat: Der Mann soll den Heiratsantrag machen. Wäre es nach ihr gegangen, hätten Severin und sie wohl schon ein paar Jahre früher geheiratet. «Vielleicht ist diese Denkweise ein bisschen veraltet. Ich bin auf dem Land aufgewachsen, in einem winzigen Dorf. Aber wenn ich einen Traum habe, halte ich eigentlich gern daran fest.»

Romantisch ist es allemal, wie Severin ihr den Antrag macht: am selben Volksfest auf einem weitläufigen Gelände irgendwo im Mittelland, wo ihre Beziehung begann, und auf den Tag zehn Jahre später. Er geht mit dem Ring vor ihr auf die Knie. Rosina muss weinen, vor Freude, und auch ein bisschen vor Schock.

Vor Severin hatte sie bloss zwei «Kinderbeziehungen», wie Rosina das nennt, da ging es eher ums Küssen. Die zweite von ihnen endet an einem Freitagmorgen, sie ist siebzehn Jahre alt. Um sich von der Trennung abzulenken, geht sie am Abend ans Volksfest. Sie lernt Severin kennen, eine Freundin will Rosina mit ihm verkuppeln, doch da denkt sie noch: Was für ein Vollidiot! Die Freundin lässt nicht locker, am zweiten Abend gibt sich Severin Mühe, sie verstehen sich schon viel besser, irgendwann küssen sie sich. Nach dem dritten Abend werden sie per SMS ein Paar: «Wollen wir zusammen sein?»

Heute ist Rosina 28. Im vergangenen Sommer heiraten Severin und sie. Über 20 000 Franken lassen sie sich das Fest kosten, es wird noch schöner, als Rosina es sich ausgemalt hat. Bis im Frühling vor der Hochzeit ist Severin der einzige Mann, mit dem sie je Sex gehabt hat.

Vor gut sechs Jahren sind sie in eine Dreizimmerwohnung in einem Nachbardorf gezogen. Wohl nicht zufällig machen sie diesen Schritt nach der grössten Krise, die ihre Beziehung bis dahin erlebt hat. «Die gemeinsame Wohnung hat sich wie eine Entscheidung angefühlt: Das ist der Mann, mit dem ich mein Leben verbringen will. Und es war, als würde sich ein Knopf auflösen, die Eifersucht hat plötzlich aufgehört.»

Einige Monate davor ist Severin auf eine grössere Reise durch Australien gegangen. Dort schläft er ein paar Mal mit einer dreissig Jahre älteren Frau, was er Rosina noch am Telefon gesteht. Sie ist sehr verletzt. «Ich war naiv, aber mittlerweile verstehe ich ihn. Nach einigen Jahren nur mit mir hat es ihn doch interessiert, wie es sich mit einer anderen Frau anfühlt.»

Daran, es ihm gleichzutun, denkt Rosina nicht. Überhaupt beschäftigt sie sich wenig damit, was sie eigentlich will. Sie geht nicht in den Ausgang, raucht nicht, trinkt kaum Alkohol. Anders als Severin, der schon am Anfang ihrer Beziehung an den meisten Wochenenden mit seinen Freunden unterwegs ist, während Rosina zu Hause bleibt. «Ich war für alle immer die Korrekte, auch für mich selber. Ich dachte nicht, dass ich meinen Mann betrügen könnte.»

Roman, den Rosina seit der Oberstufe kennt, sendet ihr um die Weihnachtszeit eine unverfängliche Nachricht. Sie schreiben sich, gehen zusammen an die Fasnacht. Rosina erwartet keine Avancen. «Ich wusste gar nicht, was da passiert, und dachte, wir können ja Freunde sein.» Roman ist ebenfalls liiert, hat aber eine eigene Wohnung. Dort sitzen sie Anfang Frühling zusammen und trinken Kaffee. Plötzlich küsst er sie. Rosina denkt: «Wow, was war das gerade?» Sie haben Sex. Rosina denkt zuerst, es sei einmalig. Aber sie treffen sich wieder. Bis heute. Zwischen den Treffen liegen manchmal zwei, manchmal sechs Wochen. «Am meisten verunsichert mich, dass ich überhaupt kein schlechtes Gewissen habe.»

Severin weiss von nichts. Sie würde es ihm sagen, wenn er fragen würde. «Aber ich glaube, nach dieser Antwort sucht er gar nicht.» Ihm davon zu erzählen, ist schwierig, Roman und seine Partnerin bewegen sich im gleichen Freundeskreis. Hinzu kommt: «Er ist für mich wie ein Tagebuch. Ich kann ihm alles anvertrauen, weil ich weiss, dass er es niemandem weitererzählt. Sonst würden wir ja auffliegen.» Rosina erzählt Roman, wenn es ihr schlecht geht, er gibt ihr Ratschläge. Sie reden auch über Stress mit ihren Partner:innen. Rosina ist überzeugt: «Roman verbessert meine Beziehung. Und ich seine.»

Seit die Geschichte mit Roman angefangen hat, kommt es Rosina manchmal vor, als würde sie sich selber neu kennenlernen. «Ich muss sagen: Ich bin so glücklich und entspannt wie nie zuvor.» Sie geht jetzt häufiger in den Ausgang. Auch Severin fällt auf, dass sie ausgeglichener ist, aber er fragt nicht. «Ich habe das Gefühl, dass ich etwas verpasst habe, nicht nur beim Sex. Jetzt will ich ein paar Grenzen austesten.» Gerade interessiert sie sich für Tantramassagen.

Irgendwann würde Rosina mit ihrem Mann gern über eine offene Beziehung reden. Im Gegensatz zur Stadt, wo sie arbeitet, seien Alternativen zur Monogamie bei ihnen auf dem Land nie ein Thema gewesen. «Mittlerweile denke ich: Wir Menschen sind nicht dafür gemacht, monogam zu leben. Diesen Wunsch haben doch viele, sie reden nur nicht darüber. Aber ich muss mich auch an der Nase nehmen, ich müsste auch offen darüber reden.» Sofern gewisse Regeln eingehalten werden («Nicht im Ehebett!»), kann sie sich gut vorstellen, dass auch Severin andere Frauen trifft. Aber so weit seien sie noch nicht. Rosina tastet sich noch ans Thema heran. Kürzlich hat sie zu Hause beiläufig einen Podcast über offene Beziehungen laufen lassen.

Für Rosina ist klar, dass Severin der Mann ist, mit dem sie Kinder haben und alt werden will. «Das wird so bleiben, egal mit wem ich Sex habe.»