Emma «Sogar wenn du aus rein praktischen Gründen heiratest, schreibst du dich in ein hochsymbolisches System ein»
Ihre Idee, die Beziehung zu öffnen, sprengte erst einmal seinen Horizont. Emma und Ali hatten sich im Libanon kennengelernt, er aus einer schiitischen Familie aus dem Süden des Landes, sie in London aufgewachsene Sizilianerin. Emma war 22, Ali 26, als sich die beiden verliebten. Während zwei Jahren lebten sie im Liebeshoch, sie heirateten, feierten ein grosses Fest: Sie wollten reisen können – und Ali durch die Heirat die europäische Staatsbürgerschaft ermöglichen. Heute sind die beiden seit elf Jahren zusammen.
«Die Heirat hat in mir etwas bewirkt», sagt Emma. «Sogar wenn du aus rein praktischen Gründen heiratest, schreibst du dich in ein hochsymbolisches System ein, das mit männlicher Dominanz und Besitz verknüpft ist.» Vor Ali hatte sie erst eine Beziehung geführt; auch da merkte sie, dass sie zwar sehr verliebt sein konnte, ihre Lust, sich auf andere Menschen einzulassen, dadurch aber nicht abnahm, sexuell wie emotional. Als die Honeymoon-Phase mit Ali abflachte, ging sie fremd. «Ali dachte, ich sei verrückt. Ich versuchte, ihm zu erklären, dass ich die Praxis der offenen Beziehung nicht erfunden hätte.» Dann legte sie den Wunsch erst einmal zur Seite und ging mit Freundinnen auf eine mehrwöchige Reise.
Danach war es Ali, der das Thema wieder aufgriff. Er hatte viel recherchiert, alle möglichen Artikel zum Thema gelesen. «Ali hat ein feministisches Mindset. Die Idee, dass man keinen Menschen besitzen kann, einer Person nicht vorschreiben kann, mit wem sie schläft und wen sie zu lieben hat, entsprach auch seiner Ethik.» Ali wurde von einer starken Matriarchin erzogen und wuchs mit drei Schwestern auf. Es war auch seine sensible, feminin konnotierte Seite, die Emma anzog.
Sie planten eine sechsmonatige Reise, um ihre neue Beziehungsform auf der anderen Seite der Welt zu testen. Während sie unterwegs waren, hatten beide ihre kleineren Abenteuer: «Es reichte, um uns konfrontieren zu können», sagt Emma: «Mit Eifersucht, mit dem Davor, dem Während und dem Danach – und es funktionierte auf dieser experimentellen Ebene.»
Zurück in Beirut, machten sie einfach weiter, mit einer langen Liste an Regeln, die sie über die Jahre eine nach der anderen brechen würden. Die neue Phase brachte viele unangenehme Gefühle, aber die neuen, intensiven Begegnungen waren es für beide wert. Als sich Emma das erste Mal wieder intensiv verliebte, diesmal in eine Frau, transformierten sie ihre Beziehung von einer offenen in eine polyamore, auch das fühlte sich organisch an. In einem weiteren Schritt trennten sie sich von einem gemeinsamen Schlafzimmer: «Es mag banal erscheinen, aber erst danach wurde mir bewusst, wie wichtig es ist, einen Raum für sich zu haben – und wie verrückt, ständig ein Zimmer zu teilen.» Mittlerweile wohnen sie auf zwei unterschiedlichen Kontinenten. Emma blieb in Beirut, Ali lebt in Berlin.
Beide führen weitere Beziehungen, Sex haben sie momentan nicht miteinander. «Nicht für immer, aber wir haben das erst mal zur Seite gelegt.» Für Emma muss Sex intuitiv passieren, seit einiger Zeit jedoch stimmen ihre Wellenlängen mit denen von Ali dafür nicht mehr überein. Ihre gemeinsame Sprache der Liebe habe sich dafür in anderen Bereichen verstärkt – auf emotionaler und intellektueller Ebene, in Bezug auf Wertvorstellungen und gemeinsame Ideen.
Was unterscheidet das noch von einer platonischen Freundschaft? Ihre Sprache sei noch immer eine sehr romantische und intime – mit Erwartungen aneinander, die sich von jenen an sonstige Freund:innen unterschieden, sagt Emma. Sie kommunizieren täglich, beziehen einander in grössere Entscheidungen ein, planen ihre Leben um die andere Person herum. Natürlich gebe es Aspekte, die sie auch in anderen Beziehungen teile. «Aber als ein Ganzes ist es nicht vergleichbar.»