Joseph Springs Rede vor dem Bundesgericht: Warum war es für die Schweizer Beamten notwendig, uns zum Tod zu verurteilen?

«Am 13. November 1943 überquerten wir, das heisst mein vierzehnjähriger Vetter Sylver Henenberg, sein Bruder Henri Henenberg und ein junger Franzose namens Pierre Rollin, voller Hoffnung die Schweizer Grenze bei La Cure im Jura. Es war ungefähr Mitternacht. Wir hatten die Telefonnummer einer Familie in Fribourg, die uns helfen sollte, und so gingen wir nach der Grenzüberquerung geradewegs auf ein Licht zu, das wir bei einem Bauernhof sahen. Wir baten den Schweizer Bauern, uns zu einem Telefon zu bringen, damit wir in Fribourg anrufen konnten. Der Bauer aber brachte uns stattdessen zur Grenzpolizei, die unsere echten Personalien registrierte und uns dann befahl, wieder zurück nach Frankreich zu gehen. Weil Henri schwer tuberkulosekrank war – was er mit einem Zertifikat eines Brüsseler Sanatoriums beweisen konnte – und da Sylver und ich noch minderjährig waren, hatten wir erwartet, die Grenzwächter würden vielleicht einen Unterschied machen und Rücksicht darauf nehmen.
Einen zweiten Versuch unternahmen wir zwei Tage später am gleichen Ort und ebenfalls in der Nacht. Jetzt vermieden wir jeden Kontakt mit der Schweizer Grenzbevölkerung und marschierten nach dem Grenzübertritt einer schmalspurigen Eisenbahnlinie entlang. Diese führte einige Meter erhöht parallel zu einer Strasse ins Landesinnere. Nach ungefähr einer Stunde wurden wir von zwei Grenzwächtern entdeckt. Unsere Silhouetten waren in der schneebedeckten Landschaft auch in der Dunkelheit leicht zu erkennen. Nach dem Befehl stiegen wir den kleinen Abhang von der Bahnlinie zur Strasse hinunter.
Diesmal wurden wir von den Schweizer Grenzwächtern etwa um zwei Uhr nachts direkt den wartenden deutschen Beamten übergeben. Wir verbrachten den Rest der Nacht im Korridor einer Baracke auf der französischen Seite der Grenze, ein Schäferhund bewachte uns. Am nächsten Morgen wurden unsere Personalien aufgenommen. Weil ich einen französischen Ausweis besass, versuchte ich, mich als Franzose auszugeben. Der deutsche Beamte, der mich ausfragte, lachte aber nur und sagte mir, ich sei ein Jude namens Joseph Sprung aus Berlin. Es war vollständig klar, dass wir von den Schweizern verraten worden waren. Den nichtjüdischen Franzosen Rollin hatten die Deutschen schon vor dem Verhör von uns getrennt.
Die nächsten drei Wochen verbrachten wir im Gefängnis in Bourg. Wir hatten eine Zelle für uns drei. Da es kein fliessendes Wasser gab, wurde ich der Toiletten-Reiniger des Gefängnisses. Ich musste den Mist mit einer Kelle aus den Toiletten in eine fahrbare Tonne schöpfen und hinaustransportieren. Bei dieser Gelegenheit stellte ich fest, dass auf unserer Zellentüre die Bezeichnung geschrieben stand.
Nach ungefähr drei Wochen im Gefängnis wurden wir aus der Zelle herausgeholt. Ich fragte einen deutschen Wächter, wohin wir gebracht würden. Das fanden alle Wächter sehr lustig, und der, den wir gefragt hatten, antwortete: Kurz danach übergab man uns zwei französischen Gendarmen. Sie legten uns Handschellen an, und wir fuhren im Zug in Richtung Paris. Diese Stadt, Paris, begrüsste uns leider am frühen Morgen mit einer leeren Bahnhofshalle: Jeder Gedanke an eine Flucht verschwand. Vom Bahnhof wurden wir mit einem Polizeiwagen abgeholt und nach Drancy gebracht.
Das Sammellager Drancy war ein ehemaliges Schulgebäude, von einem hohen Stacheldraht umzäunt. Unsere Handschellen wurden uns abgenommen, und wir mussten uns einer Kolonne anschliessen, die vor einem Büro stand. Als wir an der Reihe waren, wurden unsere Personalien noch einmal aufgenommen, und wir mussten alles Geld und alle sonstigen Wertgegenstände abliefern. Danach konnten wir uns innerhalb des Lagers bewegen, wie wir wollten.
Sofort fiel mir auf, dass es keine Betten gab. Und die Wände in den Sälen des ehemaligen Schulhauses waren von oben bis unten mit Aufschriften bedeckt von Menschen, die aus Drancy abtransportiert und verschleppt worden waren: Manchmal waren es ganze Familien, die ihre Namen und das Datum, wann sie verschleppt worden waren, an die Wände geschrieben hatten. Manche Aufschriften waren klein, manche waren sehr gross. Im ganzen Lager herrschte Verzweiflung. Leute sassen auf Stühlen oder auf dem Boden. Manche junge Leute suchten Trost, indem sie sich ein letztes Mal liebten. Es war wie eine Szene aus Dantes Hölle.
Wir verbrachten fünf Tage in Drancy. Am 17. Dezember wurden 850 Männer, Frauen und Kinder gesammelt und in einem Zug, der aus geschlossenen Viehwaggons bestand, nach Auschwitz verschickt. Mein vierzehnjähriger Cousin Sylver verwahrte unsere Brotration, und wir benutzten diese Reserve nur sehr vorsichtig. Da die Waggons ganz dicht mit Menschen gefüllt waren, wurde es drinnen ziemlich warm. Die Gespräche unter uns Deportierten handelten von der Angst vor der Zukunft, vom Durst, vom Leben vor dem Krieg und so weiter. Urinieren war schwierig, da es keine Toiletten gab. Alles floss durch Spalten im Boden des Waggons. Nach einer Fahrt, die wenigstens eineinhalb Tage dauerte, hielt der Zug an, und die Türen wurden geöffnet. Draussen war es später Nachmittag, ein eiskalter Wind fuhr in unseren Waggon. Stimmen schrien: , und sofort wurden jene, die noch zögerten, mit Knüppeln hinausgetrieben.
Als wir draussen waren, hiess es: Wer nicht schnell genug reagierte, bekam wieder Schläge mit den Knüppeln. Deutsche SS-Männer zirkulierten mit Schäferhunden zwischen uns, und plötzlich sahen wir Menschen in gestreifter Uniform, die unser Gepäck wortlos wegräumten. Als einer von den Neuankömmlingen einen von ihnen ansprach, flüsterte dieser: – Kurz danach hörten wir über einen Lautsprecher die folgende Ansage: Der tuberkulosekranke Henri meldete sich für den Lastwagen, und sein kleiner Bruder Sylver wollte bei ihm bleiben. Wir bildeten zwei Kolonnen.
Das letzte Mal, als ich Henri und Sylver sah, war der Moment, als Sylver, der mit seinem Bruder ging, mir meinen Anteil an unserer Brotration zuwarf. Das Stück Brot fiel zwischen uns auf den vereisten Boden und schlitterte mir entgegen.
Unsere Kolonne schritt jetzt langsam auf einen SS-Mann zu. Dieser wies uns mit dem Daumen nach links oder nach rechts, er trug den Arm in einer Schlinge, weil er schon so lange mit dem Daumen arbeitete – nach links oder nach rechts bedeutete Tod oder Leben.
Für meine zwei Vetter nahm die Verkettung schrecklicher Umstände ein Ende, als ein SS-Mann die Tür der Gaskammer hinter ihnen verriegelte und sie, zusammen mit vielen anderen, erstickten. Ich dagegen kam ins KZ. Ich überlebte nicht nur die erste Selektion auf dem Bahnsteig, sondern auch alle weiteren Selektionen, die regelmässig stattfanden und bei denen wir nackt vor einem SS-Mann antreten mussten, der die Qualität unserer Muskeln inspizierte. Ich überlebte den Todesmarsch von Auschwitz nach Gleiwitz im Januar 1945. Ich überlebte danach eine lange, mehrtägige Zugfahrt in offenen Waggons, ich überlebte das Lager Turmalin, danach einen weiteren Todesmarsch vom Harzgebirge in Richtung Magdeburg und wurde im April 1945 von amerikanischen Truppen befreit.
Die Frage, die ich mir stelle, ist die: In welcher Art haben wir drei den Schweizer Staat durch unsere Grenzüberquerung im November 1943 bedroht? Warum war es für die Schweizer Beamten notwendig, uns zum Tod zu verurteilen?
Eine Entschuldigung mag genügen, wenn jemand einer Dame beim Tanz aus Versehen auf die Zehen tritt. Es ist aber etwas anderes, wenn man durch die aktive Mitarbeit von Schweizer Grenzorganen in den Tod geschickt wird: Dafür erwarte ich Gerechtigkeit, nicht eine Entschuldigung. Gerechtigkeit heisst in meinem Fall, dass es anerkannt wird, dass an mir ein Verbrechen begangen worden ist.»