Frauenstreik: «Bis zum Abend vor dem Streik hatte ich keine Ahnung, ob der Plan hinhaut»
Sie tingelte monatelang bis ins hinterste Kaff, um für den Frauenstreik von 1991 zu weibeln: Die ehemalige Nationalrätin Christiane Brunner über patriarchale Widerstände in Partei und Gewerkschaft, Tabus ihrer Mutter und den Moment, in dem junge Frauen typischerweise zum Feminismus finden.
Am 14. Juni 1991 fand der grösste Streik der Schweizer Geschichte statt: Eine halbe Million Frauen legten ihre Arbeit nieder. Die Idee dazu entwickelte Christiane Brunner (heute 72), die damalige Präsidentin der Gewerkschaft Schweizerischer Metall- und Uhrenarbeiterverband (Smuv), gemeinsam mit einer Gruppe von Uhrmacherinnen aus dem Jura. Denn zehn Jahre nach der Aufnahme des Gleichstellungsartikels in die Verfassung war noch fast nichts geschehen. Es gab kein Anwendungsgesetz für den Artikel, die Lohndifferenz zwischen Männern und Frauen betrug zu Beginn der Erhebungen 1994 rund 24 Prozent im privaten Sektor, wo sie heute bei 19,6 Prozent liegt. Frauen stiessen damals wie heute an die «gläserne Decke». Elisabeth Kopp war die erste und einzige Bundesrätin, die das Land gesehen hatte. Kurz: Die Schweiz war durch und durch eine Männergesellschaft.
Zwei Jahre nach dem Streik wurde statt der von der SP nominierten Christiane Brunner der SP-Nationalrat Francis Matthey in den Bundesrat gewählt, was grosse Proteste auslöste. Matthey verzichtete auf seinen Sitz, verlangte jedoch für eine Wiederholungswahl neben Brunner eine zweite Nomination: Schliesslich wurde mit Ruth Dreifuss Brunners «Zwillingsschwester» die zweite Bundesrätin der Geschichte.
WOZ: Frau Brunner, dass wir dieses Jahr am 14. Juni streiken, liegt daran, dass die Forderungen des Frauenstreiks von 1991 noch immer nicht erfüllt sind. Jenen Streik haben wir nicht zuletzt Ihnen zu verdanken. Freuen Sie sich auf den zweiten Frauenstreik?
Christiane Brunner: Ja, ich freue mich darauf, vor dem Computer zu sitzen und mir alles anzuschauen. Ich bin gehbehindert und kann auch nicht mehr stehen. Was derzeit passiert, ist hochinteressant. Es ist unglaublich viel von Frauen, Gleichheit und Diskriminierung die Rede. Dieser Streik ist nicht nur ein einzelner Tag wie der 8. März: Gleichstellungsfragen werden kontinuierlich thematisiert. Man hört von Frauen in jedem Bereich, in technischen Berufen, in der Kultur oder in der Gesundheitsbranche. Früher waren es immer die Gleichen, die sich zu Wort meldeten. Heute werden die unterschiedlichsten Frauen sichtbar, das ist der Stand des Streiks schon vor dem Streik. Wahnsinnig!
Manche befürchten jedoch, dass insbesondere Akademikerinnen die Arbeit niederlegen werden, während man beispielsweise Frauen in der Gesundheitsbranche oder Frauen, die auf dem Land leben, weniger erreiche.
Wenn alle intellektuellen Frauen mitmachen, sind das schon ganz schön viele. Aber die Bäuerinnen sind jedenfalls dabei, auch die katholischen und evangelischen Frauen oder Alliance F, der Schweizer Frauendachverband.
Sie zogen 1991 sechs Monate lang durchs Land und mobilisierten bis ins hinterste Kaff die Frauen zum Streiken. Auf welche Reaktionen stiessen Sie?
Natürlich konnten viele nichts mit einem Frauenstreik anfangen. «Was soll das, warum streiken?», fragten sie. Aber es gab auch Versammlungen, an denen die Anwesenden von der Idee begeistert waren. Das Gute war, dass alle mitmachen konnten, auch Hausfrauen, die mit ihren Nachbarinnen Ideen entwickelten. Ich sagte ihnen: Hauptsache, in irgendeiner Form mitmachen. So konnte ich Begeisterung auslösen. Zuallererst aber ging es darum zu erklären, wie wir auf das Datum gekommen waren: Am 14. Juni 1981 hatte die Bevölkerung für die Gleichstellung gestimmt. Dass sie offensichtlich trotzdem nicht in der Gesellschaft angekommen war, darauf konnten wir uns berufen. Ein wenig mühsam war es schon, so viel herumzureisen und zu reden. Aber ich erlebte viel Schönes. Ich sah die Reaktionen der Frauen und konnte direkt auf ihre Argumente antworten.
Wurde Ihre Idee innerhalb der Gewerkschaft unterstützt?
Die Idee kam aus einem kleinen Kreis von Frauen, den Uhrmacherinnen im Jura. Sie hatten genug von den diskriminierenden Geschlechterverhältnissen in der Branche. Wir überlegten gemeinsam, was wir dagegen tun könnten. Wir wollten keine einfache Kundgebung, sondern einen grossen Streik. Smuv-intern hatte ich mit Müh und Not immer eine knappe Mehrheit für das Konzept. Der Kongress des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds nahm die Idee dann aber einstimmig an.
Woher nahmen Sie den Mut, sich durchzusetzen?
Ich war sehr optimistisch, weil ich die Idee so richtig gut fand!
Hatten Sie damals trotzdem auch manchmal Angst, dass der Streik scheitern könnte?
Absolut. Heute weiss man dank des Internets, dass überall etwas passiert. Ich wusste nichts! Ab und zu bekam ich einen Anruf, wenn eine Gruppe etwas vorbereitete. Bis zum Donnerstagabend vor dem Streik hatte ich allerdings keine Ahnung, ob der Plan hinhauen würde.
Wie wurden Sie eigentlich Feministin?
Ich stamme aus bescheidenen Verhältnissen. Vor dem feministischen Bewusstsein hatte ich deshalb früh ein Klassenbewusstsein entwickelt. Ich spürte die Ungleichheit zwischen den reichen Kindern vom See und den Kindern aus dem Büezerquartier stark. Erst an der Uni, wo ich Jura studierte, wurde mir auch bewusst, wie wenige Frauen es gab. Ich diskutierte ständig mit den Männern. Sie sagten Dinge wie: «Du bist doch nur hier, um einen Mann zu suchen.» Da habe ich gemerkt, dass man sich als Frau wehren muss. Und dass man immer gut sein muss, sogar besser als die Männer, um ernst genommen zu werden.
Bewogen Sie diese Umstände dazu, Teil der Frauenbewegung zu werden?
Ich war 1968 an der Uni, da war ich noch in keiner Partei. Aber ich habe allen linken Splittergruppen zugehört: den Maoisten, den Trotzkisten und so weiter. Ich besuchte Versammlungen und Kundgebungen. Und musste feststellen: Das ist nichts für mich. Die machten es nicht besser als andere Männer. Die Frau war gut fürs Kaffeeservieren und fürs Bett. Ich schloss mich keinem Grüppli an. Später bin ich dann jedoch der SP beigetreten. Nicht dass diese besonders feministisch gewesen wäre. Allerdings dachte ich, ich bringe die Partei vielleicht dahin, dass sie feministisch wird. Und ich glaube, sie ist es geworden. Mit der Arbeit von sehr vielen Frauen, die daran mitgearbeitet haben, natürlich.
Sie haben studiert, obwohl Sie aus einer Arbeiterfamilie stammen. Entfremdeten Sie sich durch Ihren Werdegang von Ihrer Familie?
Meine Mutter war Schneiderin, ebenso meine Grossmutter. Ich bin sehr evangelisch erzogen worden – und bin dann auch so schnell wie möglich aus diesem Kreis verschwunden. Das sind Fanatiker. Dort habe ich wahrscheinlich gelernt, wie man sich durchsetzt. Mein Beitritt zur SP war für meine Mutter gerade noch erträglich. Aber als ich zu den Gewerkschaften bin, war das zu viel des Guten. Mit der Zeit gingen die Frauen und Männer von der Kirchgemeinde mit allen Interviews zu meiner Mutter und waren stolz, dass «eine von ihnen» es so weit gebracht hatte. Irgendwann war auch meine Mutter stolz. Sie hat mich oft gefragt, was sie abstimmen soll. Wenn sie mich nicht fragte, dann wusste ich, dass es ein heikles Gebiet betraf. Beim Thema Schwangerschaftsabbruch hielt sie mir ein Referat. Als ich wiederum in einem Artikel zur Gay Pride zitiert wurde, sagte sie: «So was kannst du denken, aber sagen kannst du das nicht!»
Sie liessen sich davon nicht beeindrucken?
Auf keinen Fall. Ich habe immer öffentlich gesagt, was ich denke.
Sie sagten einmal, Sie würden sich nie verbiegen, nur um Bundesrätin zu werden. Aber passt man sich als Frau in der Politik nicht automatisch unbewusst den dominierenden Männern an?
Wir Frauen sind in politischen Gremien oft in der Minderheit. Ich war sogar oft ganz alleine, das war anstrengend. Man kann sich entweder anpassen oder einen anderen Stil durchsetzen. Beides ist ganz schön schwierig. Ich blieb, wie ich bin.
Heute spricht man oft vom 99-Prozent-Feminismus, der insbesondere mehrfach diskriminierte Frauen explizit mitmeint: Die Frauen fordern nicht mehr bloss ihren Platz in der Politik und der Wirtschaft – sie wollen die Machtverhältnisse grundlegend transformieren. Für Ihre Generation aber war die Teilhabe an der politischen Macht Anfang der Neunziger eine unglaublich emotionale Angelegenheit.
Es ging uns ja nicht nur um die Eroberungen der Institutionen. Auch wir wollten die Gesellschaft verändern und die Gleichstellung durchsetzen. Aber dazu braucht es nun mal auch den Einfluss auf die Gesetzgebung. Und dafür haben wir gekämpft. Das ist heute vielleicht weniger aktuell – obwohl, wenn man das Gleichstellungsgesetz betrachtet … Das gibt noch immer nicht viel her. Nicht einmal obligatorische Kontrollen in allen Betrieben wurden durchgesetzt. Und es geht ja nicht nur um den Lohn. Geschlechterunterschiede ziehen sich wie ein roter Faden durch das ganze Leben.
Wie meinen Sie das genau?
Was ich von weitem beobachten kann, ist, dass Frauen oft nicht besonders feministisch sind, wenn sie aus der Schule kommen. Das ändert sich bei vielen, wenn sie Kinder kriegen. Dann geht es nämlich darum, wie man sich organisiert: Wer arbeitet Teilzeit? Wer macht welche Art von Arbeit? Wer gibt was auf? Plötzlich spielt die Lohnungleichheit eine grosse Rolle, denn sie führt dazu, dass immer noch tendenziell die Frauen beruflich kürzertreten. Es muss aber für Frauen endlich möglich werden, normale Karrieren zu machen – auch in Teilzeit. Und Teilzeitarbeit muss auch für Männer normal werden.
Sollten linke Feministinnen mit bürgerlichen Frauen zusammenarbeiten?
Ich bin um jede Frau froh, die in die Politik geht. Feminismus ist nicht zwangsläufig eine Frage von links oder rechts. Beim Gleichstellungsgesetz etwa hatte ich Hilfe von Vreni Spoerry, einer sehr reichen Freisinnigen aus Zürich. Auch für sie gab es einen Grund, für Gleichstellung zu kämpfen, obwohl sie liberal war. Die meisten Männer hingegen haben sich darum foutiert. Ich habe immer viel Solidarität erfahren von bürgerlichen oder auch apolitischen Frauen, mein ganzes Leben lang.