Kollektiv 43m2: Wieso haben Sie eine Fachhochschule besetzt?
Lausanner Aktivist:innen haben handfeste Verbesserungen für Menschen ohne Obdach erkämpft. Warum es immer noch viel zu tun gibt, erzählen Roberta Roux (32) und Eustache Dubois (23).
WOZ: Roberta Roux, Eustache Dubois*, wo stehen wir gerade?
Eustache Dubois: In der Cafeteria der Fachhochschule für Sozialarbeit und Gesundheit in Lausanne. Vor drei Jahren haben wir mit unserem Kollektiv den Garten besetzt und eine autonome Notschlafstelle eingerichtet.
WOZ: Wieso hier?
Roberta Roux: Kurz zuvor hatten wir bereits einen Platz vor dem Palais de Beaulieu in der Innenstadt besetzt, um auf den Mangel an Unterbringungsplätzen aufmerksam zu machen. Doch schon nach wenigen Stunden vertrieb uns die Polizei. Wir suchten dann nach einem neuen Ort, der uns die Möglichkeit bieten würde, in einen Dialog mit der Öffentlichkeit zu treten – auch mit den Behörden. Die Fachhochschule schien uns dafür geeignet. Gleichzeitig wollten wir, dass die Leute, die zum Schlafen herkommen, einen ruhigen und sicheren Ort haben. Und wir gingen davon aus, dass angehende Sozialarbeiter:innen tendenziell gut auf sie reagieren würden.
«Der Begriff ‹Obdachlosigkeit› bedeutet im Grunde nichts, hat keine Essenz.»
Roberta Roux
WOZ: Die Fachhochschule liess Sie gewähren?
Roux: Ja, einen ganzen Monat lang war unsere Notschlafstelle rund um die Uhr geöffnet. Nachts schliefen jeweils etwa sechzig Personen hier. Es gab eine Küche, ein Wohnzimmer, Französischunterricht, Unterstützung beim Verfassen von Bewerbungsschreiben. Wir organisierten uns in Generalversammlungen. Wobei natürlich nicht alle, teils prekär lebenden Teilnehmer:innen die Forderungen von fünfzehn jungen Linken, die von einer selbstverwalteten, besseren Welt träumen, teilten. Die Besetzung hat sich dann den Bedürfnissen der Menschen angepasst.
WOZ: Sie haben mit Ihrer Besetzung ganz konkrete Forderungen gestellt, aber auch auf strukturelle Probleme hingewiesen. Etwa auf die Kriminalisierung von Obdachlosigkeit. Was genau meinen Sie damit?
Dubois: Es gilt in Lausanne etwa ein Verbot des sogenannten Wildcampierens, das auf Obdachlose angewandt wird. Was völlig absurd ist, denn für die Leute, die gezwungen sind, draussen zu schlafen, ist das ja kein Hobby. Das führt dazu, dass Menschen in der Nacht vertrieben werden, teils auch Bussen erhalten, die in Gefängnisstrafen umgewandelt werden können. In Lausanne hat nun kürzlich ein Gemeinderat ein Postulat eingebracht, der das Wildcampieren entkriminalisieren will.
WOZ: Ist Obdachlosigkeit im Kern ein ökonomisches Problem?
Roux: Obdachlosigkeit wird durch verschiedene wirtschaftliche, politische und soziale Probleme verursacht. Aber tatsächlich haben wir ein Problem mit der Definition, denn im Grunde genommen bedeutet «Obdachlosigkeit» nichts, der Begriff hat keine Essenz.
Dubois: Man sieht das gut an den staatlichen Strukturen gegen Obdachlosigkeit …
WOZ: Wie meinen Sie das?
Roux: Drogenabhängige Personen sollten eigentlich nicht in Notschlafstellen nächtigen, weil sie in spezifischeren, geeigneteren Angeboten betreut werden müssten. Dasselbe gilt für prekär Beschäftigte oder Saisonniers, auch für sie sind Notschlafstellen nicht gedacht. Und für Sans-Papiers sowieso nicht.
Dubois: Wenn jemand keinen legalen Status hat, dann heisst es: Nein, er ist kein Obdachloser, er ist ein Migrant. Aber viele Menschen, die von Obdachlosigkeit oder extremer Wohnungsnot betroffen sind, befinden sich gleichzeitig auch in Migrationsprozessen, werden rassifiziert, sind drogenabhängig. Die meisten sind von mehreren Unterdrückungsformen betroffen. Immerhin: Während Leute ohne Papiere anderswo weggeschickt werden, haben sie im Kanton Waadt das Recht, in Notunterkünften zu schlafen, auch wenn diese eigentlich nicht dafür vorgesehen sind. Sie werden aber stets in die niedrigste Prioritätskategorie eingestuft.
WOZ: In Bezug auf die Notschlafstellen haben Sie mit Ihrer Besetzung etwas erreicht: Seit 2024 sind mehrere Unterkünfte in Lausanne ganzjährig geöffnet und schliessen nicht mehr wie bisher jeweils im Frühling.
Roux: Genau. Ausgelöst durch unsere Aktion, wurde ausserdem eine wissenschaftliche Studie in Auftrag gegeben, auf die sich die Stadt Lausanne in ihrem neuen Aktionsplan gegen Obdachlosigkeit stützt.
Dubois: Dank der Medienberichte wurde das Thema auf die politische Agenda gesetzt, und es folgten parlamentarische Vorstösse, sowohl auf kommunaler als auch auf kantonaler Ebene.
WOZ: Wieso war Ihr Kollektiv so erfolgreich?
Dubois: Wir haben auf verschiedenen Ebenen gearbeitet, sowohl mit medienwirksamen direkten Aktionen als auch mit politischer Lobbyarbeit. Diese ist auch immer noch im Gang: Es gibt heute eine Koalition mit etwa zwanzig gewählten Vertreter:innen aus mehreren Gemeinden, die koordinierte Parlamentsarbeit in Zusammenhang mit unseren Forderungen machen.
Roux: Wir leisteten ausserdem viel Aufklärungsarbeit. Bei unserem Kollektiv stand nie die schnelle Aktion im Vordergrund. Aufklärung betreiben macht vielleicht weniger Spass, aber es trägt Früchte. Anfang Jahr haben wir etwa ein Forum zu Obdachlosigkeit hier an der Fachhochschule organisiert. Die Veranstaltung hat viele überzeugt, die man mit einer Besetzung nicht hätte abholen können. Das verschafft dir Legitimität, und sobald du die hast, kannst du auch wieder eine direkte Aktion machen.
* Namen geändert.
43 Quadratmeter beträgt die durchschnittliche bewohnte Fläche pro Person im Kanton Waadt. Menschen ohne Zuhause verschwinden hinter dieser Zahl. Ihnen widmet sich das Kollektiv 43m2, in dem sich neben Politaktivist:innen und Sozialarbeiter:innen auch Menschen organisieren, die selbst schon obdachlos waren.