Nathalie Bissig: Sind die Larven eine Strategie?

Nr. 18 –

Die Urner Künstlerin näht Masken nach alten Gesichtern. Sie findet, dass man den Mist in der Welt auch poetisch bekämpfen könnte. Und sie fragt, wie weit man gehen kann, indem man da bleibt.

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eine verkleidete Person hält einen Stock in der Hand
Alle Werke: © Nathalie Bissig; © 2025, ProLitteris, Zürich
eine Person mit einer Maske, welche eine spitze Nase hat
vier Figuren aus Schnee
3 Personen halten sich Fantasiefiguren-Luftballons vors Gesicht
zwei Personen mit einem Straussenvogel-Kostüm

WOZ: Nathalie Bissig, wo stehen wir gerade?

Nathalie Bissig: Wir stehen kurz vor dem Fieber, vom Körpergefühl her. Wir sind erschöpft, überreizt und überfordert. Aber noch nicht genug, dass wir flachliegen. Der englische Begriff dafür heisst «sickness behavior»: Man merkt, dass man krank und asozial wird, aber es ist noch zu wenig, um dich umzuhauen. Vorläufig funktionieren wir einfach weiter. Wir sind noch nicht so sehr am Rand, um wirklich zu stoppen.

Frage: Ein Fieber kann den Körper wieder heilen. Steckt in diesem Bild also auch eine Hoffnung?

Nathalie Bissig: Zum Teil. Was ja leider wahr ist: Meistens verändern wir uns nur über Schmerz, viel seltener durch Glück und Zufriedenheit. Und ich meine einen Schmerz, der lange anhält. Es braucht einen Leidensdruck: für nachhaltige persönliche Veränderungen, aber auch für gesellschaftliche. Wir sind so angelegt, dass der Impuls, den Schmerz zu fliehen, immer der Stärkere ist.

Frage: Oft heisst es, dass auch Künstler:innen nicht aus Glücksgefühlen heraus ein Werk schaffen, sondern eher aus dem Schmerz. Teilen Sie das?

Nathalie Bissig: Ich glaube, dass Künstlerinnen in der Regel offener sind für extreme Emotionen, psychisch und physisch; wobei ich nicht sicher bin, ob das so noch stimmt. Heute sind auch sehr viele robuste Leute in der Kunst, weil sich die Bedingungen geändert haben. Die machen dann Kunst, die andere Robuste abholt. Kunst kann ja viele Anfangsimpulse haben. Manche wollen sortieren, andere warnen oder wiedergeben.

Frage: Interessantes Wort, «robust».

Nathalie Bissig: Man könnte auch sagen: zu, verschlossen. Aber ich finde: Zum Glück gibt es auch die Robusten – und dazu die offeneren, sensibleren Menschen. Zum Beispiel in der Medizin. Heute sind da eher die Robusten, weil das Menschenbild sehr technisch geworden ist. Du musst heute auch eine unglaubliche körperliche Konstitution haben, um Arzt zu sein. Auch ich möchte zum Beispiel lieber von einem Chirurgen operiert werden, der sechzehn Stunden am Tag präzise arbeiten kann. Wenn es um andere, kompliziertere Sachen geht, hätte ich aber gern jemanden mit einem Gespür fürs Ganze. Es braucht beides.

Frage: Brauchen Sie die Realität für Ihre Kunst?

Nathalie Bissig: Ja, unbedingt. Es war zum Beispiel ein bewusster Entscheid, die Dokumentarfotografie in mein neues Buch einzubeziehen. Sonst wird das, was ich mache, irgendwie too much. Wenn man die dokumentarischen Bilder aus dem Buch rausnimmt, dann kann es auf eine ungute Art kippen. Mit dem Gegengewicht der Realität befruchtet sich das gegenseitig: Das eine holt runter, das andere zieht es wieder hoch.

Frage: Was ebenfalls auffällt: die lokale Verortung Ihrer Kunst im Urner Brauchtum, in der Urner Landschaft.

Nathalie Bissig: Deswegen habe ich irgendwann auch beschlossen, wieder in Altdorf zu wohnen, wo ich aufgewachsen bin, bevor ich als Fünfzehnjährige an die Kunstschule in Luzern ging. Dann bin ich auch viel gereist, was wichtig für mich war, und ich habe zwanzig Jahre in Zürich gelebt. Aber plötzlich fand ich dieses Herumgereise und diesen Gestus «Ich mache jetzt etwas über Afrika» seltsam. Es ist eine Herausforderung, im eigenen Alltag, in der bekannten Umgebung Sachen zu sehen. Wie weit kann ich gehen, indem ich dableibe? Was kann ich entdecken in dem, was ich am allerbesten kenne?

Frage: Das Maskenthema scheint wichtig. Sind die Masken eine Verbindung in die Vergangenheit?

Nathalie Bissig: Es gibt dieses Buch von Karl Iten, «Uri damals», mit ungefähr 500 Fotografien aus den Jahren 1855 bis 1925, zusammengesucht unter anderem aus Familienalben. Alle in Uri haben dieses Buch zu Hause. In meiner Familie gab es keine Kunstbücher, aber dieses Buch stand auch bei uns. Es war meine Kindheitsbibel. Und ich wollte immer schon eine Arbeit dazu machen. So entstand «Kaum einer wird sich noch erinnern». Ich wusste: Das ist ein Ursprung von dem, was wir hier haben. Wir sind an einem Ort mit krassen Landschaften. Und diese Landschaften bringen Gesichter hervor, die zum Teil wie Masken sind. Das hat auch damit zu tun, dass man damals extrem lange Belichtungszeiten brauchte, dass man die Menschen dafür zum Teil weiss gepudert hat. Aber das wusste ich als Kind ja nicht. Die Leute auf diesen Fotos hatten einfach diese krass starren, zerfurchten Gesichter …

Frage: … Gesichter wie zerklüftete Berge.

Nathalie Bissig: Und die können dieses Gefühl auslösen, bei dem man sich vor Schreck die Augen zuhält und gleichzeitig zwischen den Fingern hindurchschielt: Etwas macht Angst, zugleich ist es anziehend. Ich glaube, das ist das, was mich extrem fasziniert, diese Angstlust. Das ist auch etwas, das ich in Zürich sehr vermisst habe. Die Berge haben durch dieses Überwältigende etwas Beruhigendes. Sie machen uns klein, geben uns die richtige Grösse – und das Gefühl: Es ist okay.

Frage: Sie nähen selber Masken und fotografieren sie. Was haben die für eine Funktion?

Nathalie Bissig: Es gibt den Begriff «apotropäische Handlung», der trifft es glaub am besten. Du hast etwas, das dir Angst macht. Und du stellst dem etwas gegenüber, was ihm noch mehr Angst machen soll. Solche Rituale gibt es auf der ganzen Welt. Das ist etwas Schönes: Man transformiert sich dabei und konfrontiert das Beängstigende auf eine poetische Art. Ich denke oft: Was wäre, wenn wir gegen den ganzen Mist in der Welt heute poetisch vorgehen würden statt nur wissenschaftlich-faktisch. Das ist auch wichtig, aber manchmal wäre eine poetische Strategie vielleicht besser.

Frage: Und die Larven sind so eine Strategie?

Nathalie Bissig: Manchmal kann man nur mit der Larve richtig echt sein. Unsere Identität ist ja häufig bereits eine Maske. Wir erzählen uns den ganzen Tag, wie wir sind und wer wir sind. An der Fasnacht, am Güdelmäntig gibt es hier den grossen Umzug an der Hauptstrasse, der ganze Kanton steht da. Und wenn ich mag, dann maskiere ich mich und laufe mit und mache den Lappi mit den Leuten. Dadurch, dass ich nicht mein normales Gesicht habe, reagieren die Leute anders. Es gibt eine Unsicherheit – und eine Freiheit. Maskiert kann ich hemmungsloser auf sie zugehen.

Frage: Ein Plädoyer gegen die Entlarvung!

Nathalie Bissig: Mich nervt auch diese Aufforderung: «Lebe im Jetzt!» Dazu sage ich: «Ja, wie denn?» Wir können das ja alle nicht wirklich. Und vielleicht gibt es dafür gute Gründe. Vielleicht starren ja auch deshalb alle immer aufs Telefon. Natürlich ist es cool, im Flow zu sein, das sind auch meine besten Momente. Aber es ist halt schwierig. Einer hat das mal so erklärt: Zukunft, Vergangenheit, das sind Geschichten. Das Jetzt ist dagegen eine totale Überflutung. Und ein Kunstwerk ist auch eher eine solche Geschichte.

Frage: Ein Distanzmittel, um dieses überwältigende Jetzt irgendwie auszuhalten?

Nathalie Bissig: Ja. Die Frage ist: Was kann ich alles weglassen, damit es für mich irgendwie verdaulich wird? Das reine Jetzt: Das ist doch ein Wahnsinn, gerade heute.

Portraitfoto von Nathalie Bissig
Nathalie Bissig.

Nathalie Bissig (43) lebt und arbeitet in Altdorf. Ihr Buch «Thunder» ist soeben im Vexer-Verlag erschienen. Am Samstag, 17. Mai 2025, um 18 Uhr ist Buchvernissage in der Alten Kirche von Flüelen – und gleichzeitig Eröffnung von Bissigs Ausstellung «Hollywood (UR)».

www.bissig.cc

Instagram: @nathaliebissig

Fotografie eines Baum
Zeichnung von Nathalie Bissig: Vögel
Zeichnung von Nathalie Bissig: Beine
zwei Personen mit Fasnachtsmasken stehen am Esstisch einer Familie, an welchem Kinder und Erwachsene sitzen
Maske aus Stoff
Maske aus Stoff
eine Person in einem Kostüm, fotografiert von hinten
fünf verkleidete Kinder sitzen auf einem Sofa
Alle Werke: © Nathalie Bissig; © 2025, ProLitteris, Zürich
eine verkleidete Person auf einem Pferd

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