40 Texte aus 40 Jahren: 1981: WoZ-Wettbewerb: Wulitzer-Preis für unterdrückten Journalismus

Es vergeht kaum eine Woche ohne neue Schreckensmeldungen: Hier hat ein Chefredaktor nicht mehr schreiben können, was er gerne geschrieben hatte, dort wurden einem Reporter die brillantesten Stellen seiner Reportage abge­klemmt, und anderswo werden bereits journalistische Ideen in statu nascendi unterdrückt (noch bevor sie ganz geboren sind). Unsere «grosse» Presse wimmelt von brillanten Redaktoren, die leider ihre Brillanz nicht mehr zeigen dürfen, die ständig ihre besten Ideen vernichten müssen – so klagen sie unablässig-herzbewegend.

Uns hat es das Herz bewegt. Wir möchten hilfreich einspringen, und die WoZ hat sich deshalb entschlossen, einen neuen Preis zu stiften, welcher jährlich verliehen wird. Wir nennen ihn Wulitzer-Preis, in Anlehnung, natürlich, an den Pulitzer-Preis, der in den USA die besten journalistischen Arbeiten krönt, und in Anlehnung an den bekannten Wulitzer-Schallplattenautomaten. Das Klagelied vom unterdrückten-aber-wenn-er-könnte-wie-er-wollte-total-begabten-und-subversiven Journalisten ist nämlich wie eine Schallplatte, die man, kaum taucht ein Redaktor irgendwo auf, hören muss; jedoch, im Unterschied zu den metallenen Automaten, schon bevor man den Knopf gedrückt hat.

Unmittelbarer Anlass zur Schaffung dieses Preises ist die missliche Lage des dreifachen Peters (Frey, Studer, Meier) in der Chefredaktion des Tages-Anzeigers. Wenn schon die Spitze nicht mehr schreiben kann, wie sie möchte, wie ist es dann beim einfachen Redaktor bestellt)? Von Peter Frey hört man, er habe sich letzthin beim Durchlesen eines seiner Artikel nicht wiedererkannt, es sei ihm vorgekommen, als habe eigentlich nicht er diesen Artikel geschrieben, obwohl sein Name darunter stand, eigentlich. Das Über-Ich von Peter Studer hat kürzlich die aufgelockerte Bellini-Tagesschau (Freedom and sunshine for Giorgio Bellini) als einen «perfiden Coup» bezeichnet, obwohl das Ich von Peter Studer gerne geschrieben hätte: «Eine lustige, gut geplante, die tägliche Routine ad absurdum führende Einlage». Und Peter Meier hat drei Wochen vor Mitterrands Wahlsieg Paris besucht und dort ein Pauschal-Weekend verbracht, billig fliegen, billig fressen, billig amüsieren, und hat dieses im Stil der Kuoni-Reiseprospekte beschrieben im «Kulturspiegel» – und hätte doch viel lieber ein bisschen später in den buntesten, glühendsten Farben das gewaltige Volksfest an der Bastille nach dem Sieg der Linken geschildert. (Reportagen & Berichte).

Teilnahmeberechtigt an unserem Wettbewerb sind demnach alle Redaktoren/Redaktorinnen und fest angestellten Mitarbeiter/innen der bürgerlichen Presse. Die WoZ hat sich vorgenommen, laufend Artikel, die in den etablier­ten Zeitungen nicht mehr gedruckt, resp. schon gar nicht mehr bestellt oder ins Auge gefasst werden, zu veröffentlichen, und zwar je nach Wunsch, damit der betreffende Journalist keine Repressalien zu befürchten hat, auch anonym («Name der Redaktion bekannt»). Aus all diesen Texten werden jährlich einmal die Wulitzer-Preis-Träger durch eine noch näher zu bestimmende Preis-Kommission herauskristallisiert. Erster Preis 3 WoZ-Jahresabonnemente, zweiter Preis 2 WoZ-Jahresabonnemente, dritter Preis 1 WoZ-Jahresabonnement usw.

Wir sind überzeugt, damit einen Beitrag zur Entfesselung der journalisti­schen Energien in diesem Land zu leisten. Und zugleich können wir einem bösen Gerücht entgegenwirken: Dass unsere bürgerlichen (liberalen?) Redak­toren gar nichts mehr zu sagen hätten, auch wenn sie es ohne Inserentendruck frei von der Leber weg sagen könnten, weil nämlich ihre Köpfe und Herzen von der Selbstzensur schon ganz verkrebst seien.

Wir sehen der Flut von kreativen, befreiten, befreienden Artikeln mit Interesse entgegen.

Dieser Text ist ursprünglich in der Nullnummer der WOZ im Sommer 1981 erschienen. Aus Anlass des 40-Jahr-Jubiläums der Wochenzeitung WOZ haben wir unser Archiv nach Perlen durchsucht, die wir erneut veröffentlichen, und das Tag für Tag bis hin zur Jubiläumsausgabe, die am 30. September 2021 erscheint.