40 Texte aus 40 Jahren: 1984: Zürcher Stauffacher: Wer liess räumen?

Undurchsichtig und verschlungen sind die Entscheidungsprozesse der ‘Bauherrengemeinschaft Wohn- und Geschäftshaus Stauffacher’ seit dem formellen Rückzug des Berner Bauunternehmers Viktor Kleinert. Der neue Sprecher Raoul Futterlieb, Rechtsanwalt im Büro Duft & Partner, beantwortete sämtliche in diese Richtung zielenden Fragen kurz und prägnant: «No comment.» Das nachfolgende Räumungsszenarium ergab sich puzzleartig aus einer Befragung – ebenfalls verschlossener – nahestehender Kreise.

Am Freitag, 6. Januar, drei Tage vor Ablauf der Kündigungsfrist betr. die Liegenschaft Badenerstrasse 2, trafen sich die Vertreter der Bauherrengemeinschaft mit einer Delegation des Zürcher Stadtrates. Die Angelegenheit ist dem Zürcher Stadtrat wichtig genug, um gleich mit einer 4er Vertretung anzurücken. Anw. die Herren Stadträte Thomas Wagner (Präs.), Ruedi Aeschbacher (Bauamt I), Hugo Fahrner (Bauamt II) sowie Küng (als Finanzvorstand zuständig für die städt. Liegenschaftsverwaltung). Anw. auf Seiten der Bauherrschaft der zuständige Sachbearbeiter des Generalunternehmers Oerlikon-Bührle-Immobilien Peter Fankhauser und besagter Raoul Futterlieb. Nicht anw. die rund 25’000 über die betriebliche Altersvorsorge am Bauprojekt unfreiwillig beteiligten Beitragszahler, weil sie von ihrer Beteiligung gar nichts wissen. Nicht anw. ebenfalls die verantwortlichen Stiftungsräte der beteiligten Pensionskassen. Sie wissen zwar von ihrer Beteiligung, haben sie auch mehrheitlich gutgeheissen, inzwischen aber die Durchführung des Projektes an die politisch erfahrenere Oerlikon-Bührle-Immobilien abgetreten. Sie sind, wie es einer ihrer Vertreter formuliert, «nicht an der Front». Wichtig ist ihnen einzig, dass so rasch wie möglich gebaut wird, damit das von den Beitragszahlern zusammengetragene Kapital so rasch wie möglich zu «arbeiten» beginnt und Zinsen für die Altersvorsorge abwirft.

Abw. auch der Stadtzürcher Polizeivorstand Hans Frick, weil die Stadtvertreter vorderhand nicht mit einem Polizeieinsatz rechnen wollen. Im Gegenteil: Es geht Stadtpräsident Wagner darum , das Sonntagsgesicht zu zeigen. Er will überparteilicher Vertreter aller Bevölkerungsschichten sein und nicht mit einer ökonomisch unnötigen Räumung die Besetzerszene aktivieren. Die Stadtvertreter kommen an dieser Sitzung jedoch rasch auf den Boden: Die Vertreter der Bauherrschaft teilen ihnen mit, dass sie die Liegenschaft an der Badenerstrasse 2 auf jeden Fall räumen wollen. Sie stehen im politischen Umfeld der City-Politik-Interessen. Dort besteht der Wunsch nach einem exemplarisch harten Durchgreifen gegenüber Aktionen, die die Logik der Stadtentwicklung behindern. Kleinerts Rückzug nach dem nächtlichen Knall auf Schloss Bremgarten ist in diesen Kreisen noch schlecht verdaut. Politische Exponenten dieser Linie sind die Vertreter des Zürcher Rechtsfreisinns Walter Knabenhans und Hans-Georg Lüchinger.

Die Stadtvertreter müssen unverrichteter Dinge abziehen. Oerlikon-Bührle und Futterlieb kontaktieren sich am Dienstag nach Ablauf der Kündigungsfrist und ziehen Bilanz: Das Haus an der Badenerstrasse 2 ist zu dieser Zeit von knapp hundert Leuten besetzt, auf den Abend ist eine Demonstration gegen die Räumung angesagt. Sie ist vom Stadtrat bewilligt worden. Er demonstriert damit seinerseits seine konzessionsbereite «weiche» Haltung und distanziert sich plakativ von der bevorstehenden Räumung.

Oerlikon-Bührle beauftragt Futterlieb, Strafantrag zu stellen und sich mit der Polizei über einen möglichen Termin der Räumung in Verbindung zu setzen. Als frühest möglicher Termin wird der Mittwochmorgen ins Auge gefasst, nicht vor 8 Uhr, um den Truppen von Stadtund Kantonspolizei ein ordentliches Einrücken zu ermöglichen. Futterlieb kündigt sein Communiqué, das die Räumung mit dem renitenten Verhalten der Besetzer rechtfertigt, auf Mittwoch 9 Uhr an. Am Dienstagnachmittag wird der Rechtsvertreter der Bauherrschaft orientiert, dass der Stadtrat die Räumung 24 Stunden hinausschieben will. Am Mittwoch ist Stadtratssitzung, danach die ordentliche Pressekonferenz und die wird Präs. Wagner die Möglichkeit geben, sich vorgängig offiziell von der Räumung zu distanzieren. Die Bauherrschaft erklärt sich einverstanden, lässt aber ihre Linie nun ebenfalls politisch vorspuren: In einem Pressecommuniqué verurteilt das rechtsfreisinnige Komitee 'Lebendiges Zürich’ (Knabenhans/Lüchinger) das widerrechtliche Verhalten der Besetzer, insbesondere das Anbringen von politischen Transparenten an der Hausfassade, was eine flagrante Rechtsungleichheit (gegenüber der Werbewirtschaft u. dgl.) darstellt.

Wagner distanziert sich am Mittwoch wie geplant vor der Presse mit sanfter Kritik am Vorgehen der Bauherrschaft und will diese Kritik am Nachmittag gleich noch schriftlich über die Stadtkanzlei rauslassen. Seine Stadtratskollegen raten ihm, mit der Mitteilung bis nach der Räumung am Donnerstagmorgen zuzuwarten, weil sich aus dem Communiqué die Räumungsabsichten der Bauherrschaft herauslesen lässt, was allenfalls Sympathisanten für den Donnerstagmorgen mobilisieren könnte.

Am Donnerstag, 12. Januar läuft die seit einer Woche feststehende Räumung. Stadt- und Polizeiverantwortliche bemühen sich, Höflichkeit und Effizienz zu beweisen. Einige Polizisten können sich diesem noblen Ton nicht vorbehaltlos anschliessen und sympathisieren tatkräftig mit der harten Linie der Bauherrschaft. Und auch die ‘NZZ’ kann es am Freitag nicht lassen, den Parteikollegen Wagner sanft in den Hintern zu kneifen. Wie zufällig deckt sich die persönliche Meinung des Lokalredaktors Thomas Häberling mit der Meinung der gesamten Redaktion und die wiederum deckt sich verblüffend mit der Meinung des rechtsfreisinnigen Tandems Knabenhans/Lüchinger.

Dieser Text ist ursprünglich in der WOZ Nr. 3 vom 20. Januar 1984 erschienen. Aus Anlass des 40-Jahr-Jubiläums der Wochenzeitung WOZ haben wir unser Archiv nach Perlen durchsucht, die wir erneut veröffentlichen, und das Tag für Tag bis hin zur Jubiläumsausgabe, die am 30. September 2021 erscheint.

Die Forderungen der Besetzerinnen

1. Keine Abbruch- und Baubewilligung für den Stauffacher.
2. Vermietung und kein weiterer Verkauf von leerstehenden städtischen Liegenschaften.
3. Städtischer Aufruf zur Vermietung leerstehender Privathäuser und Wohnungen.
4. Änderung der Statuten für subventionierte Wohnungen zugunsten von Wohngemeinschaften.
5. Auflösung des Vereins Zürcher Jugendwohnungen, der dazu geschaffen wurde, diese Statuten zu umgehen.
6. Verhandlungen zwischen Stadtpräsident Thomas Wagner, Stadtrat Küng und der Liegenschaftenverwaltung einerseits und den Bewohnerinnen der Badenerstrasse 2 andrerseits über ein Haus in Aussersihl als Wohnraumersatz.
7. Löschung der erkennungsdienstlichen Unterlagen, die während der Verhaftung angelegt wurden. Diese stehen in keinem Verhältnis zum angelasteten Vergehen und wurden nur zum Zweck der Überwachung und Kriminalisierung im Rahmen eines künftigen Kriminalpolizeilichen Informationssystems (KIS) erhoben.

Spenden für die Stauffacher-Besetzerlnnen bitte auf Postcheckkonto 80-50072 (Rechtsauskunft Anwaltskoliektiv Zürich, Vermerk «Prozess Stauffacher»).

Erneut zwei Verletzte durch Gummigeschosse

Aus zwei Metern Distanz und ohne jede Vorwarnung ballerten Zürcher Kantonspolizisten anlässlich des «Ordnungsdienstes» am Stauffacher in die versammelte Menschenmenge. Ein Geschoss (Anfangsgeschwindigkeit 200 km/Std.) traf eine Frau knapp oberhalb der Nasenwurzel genau zwischen den Augen. Die zwei Zentimeter lange Rissquetschwunde musste operativ versorgt werden. Eine ganze 35-er Packung Gummigeschosse traf einen Mann am Oberschenkel. Folge: Massiver, breitflächiger und äusserst schmerzhafter Bluterguss. Und doch, die beiden Verletzten hatten Glück: 3000 Mal hat die Polizei seit 1980 abgedrückt, mindestens sieben Menschen haben dabei ein Auge verloren, und eine aus nächster Nähe abgefeuerte Ladung wiegt rund das Doppelte der berüchtigten, in Nordirland eingesetzten 135g schweren Plastikgeschosse, die allein seit 1981 elf Menschen töteten.

Eine Frage der Richtlinien sind solche Verletzungen nicht: Seit 1977 gilt in der Kantonspolizei die Weisung, Gummigeschosse nicht unter einer Minimaldistanz von 20 Metern abzuschiessen.

Ansatzweise brachte der «Verein betroffener Eltern» (VBE) die Forderung der polizeilichen Entwaffnung mit einer Einzelinitiative in Diskussion. Am vergangenen Freitag jedoch entschied der Zürcher Bezirksrat zugunsten einer Aufsichtsbeschwerde des Stadtrates: Die Initiative ist ungültig. Über den Waffen-Einsatz entscheidet allein die Exekutive.

Gummigeschoss- und andere Opfer polizeilicher Gewalt werden einerseits finanziell entschädigt, andererseits werden auch in Zukunft schwerste Verletzungen einkalkuliert. Selbst internationaler Protest landete unbeantwortet in einer Schublade: 32 Mitglieder des Europa-Parlaments appellierten vor Jahresfrist: «an den Zürcher Stadtrat, den Einsatz von Gummigeschossen zu stoppen und zu untersagen» und beauftragten ihren Präsidenten, «diese Entschliessung den Regierungen der Mitgliedstaaten und dem Stadtrat von Zürich zu übermitteln»...

Dokumentation: «Gummigeschosse», Entwicklung / Technik / Hersteller / Testfeld Irland etc., 5.—, bestellen bei VBE, Postfach 221, 8030 Zürich.