40 Texte aus 40 Jahren: 1990: 700 Jahre sind genug: Aufruf zum Schweigen

1991, nach all dem, der Einbezug der Kulturschaffenden in die Ge­samtveranstaltung: Seit mehr als 15 Jahren sind immer wieder pro­testierende Bewegte hingestanden als Andere Schweiz und haben argumentiert für das menschen-gemässere Leben. Die Lobbies haben’s ignoriert, die offizielle Schweiz hat von Fall zu Fall mit Giftgas ihre Ruhe und Ordnung wieder hergestellt. Kaiseraugst 1975, Gösgen 1977, Zürich, Bern und Basel 1980 bis 1982; in den achtziger Jahren die kritischen Sozialbewegungen für Frieden, für bedrohte Asylsuchende, für eine Schweiz ohne Armee, gegen Atom­kraftwerke, gegen Wohnungsnot und Spekulation, gegen den Überwachungs- und Schnüffelstaat. Und überall, wo diese Andere Schweiz das Wort ergriff, sind Ris­se und Brüche entstanden in den ideologischen Eisgebirgen von Landi-Geist und Expo-Euphorie. Die Protestbewegungen – das ist ihre kulturpolitische und ideolo­giekritische Leistung über die kon­kreten Anliegen hinaus – haben Vaterlandsdiktatur und Fort­schrittswahn erstmals radikal in Frage gestellt.

In dieser Situation war dem hiesigen Vaterland klar: Sollen all die aufgebrochenen Widersprü­che weggedudelt, -gejodelt und -gelobhudelt werden, soll aus dem karggehaltenen Kulturboden ter­ mingerecht ein postmoderner Landigeist-Verschnitt gestampft werden, dann kostet’s was. Des­halb wurde der Tessiner Fremdenverkehrsoberjuhee Marco Solari für eine sechsstellige Teilzeitgage eingekauft und mit einer lauten Pfeife aus lauter Silberlingen aus­ gestattet. Und kaum hatte der muntere PR-Mann seinen Rattenfängerpfiff fahrengelassen, ström­ten die Geistgewandten herbei aus Dichterstuben und Ateliers, herun­ter von Bühnen, hinter Kameras und Instrumenten hervor: mit hohler Hand.

Sogar kritisch dürfen wir sein! strahlen sie jetzt landauf, landab. Frohgemut überpudert ihre Unbedarftheit besonders schöne Risse in den Eisgebirgen mit dem ewigen Schnee von gestern. Solari strahlt und zahlt: Der soziale Kitt der Risikogesellschaft ist reflexiv gefe­dert. Das Geist-Plazebo «CH 700» darf mit Kritik en gros bedacht werden, solange seine Herrschaft unbestritten bleibt. Bei der Total­sanierung des Volksmunds sind nicht Kritisches lallende Kultur­ schaffende gefährlich – man wird sie niederjubeln –, sondern schweigende. Negative PR ist gut fürs liberale Image. Schweigen delegitimiert.

PUK-Bericht und Fichenkrieg sind ein unverdientes Geschenk für die Kulturschaffenden. Ohne ihr Gesicht zu verlieren, können sie eine Diskussion doch noch öffent­lich führen, die längst geführt sein müsste. Entscheiden muss sich jeder, jede. Diesmal gibt’s kein Ver­schanzen hinter der Autonomie des Kunstwerks. Noch das ehrlichste Bemühen um Kunst ist im Rahmen von «CH 700» reine Ideologie. In den neunziger Jahren wird es Kul­turschaffende geben, die mitge­macht haben, und solche, die nicht mitgemacht haben. Die letzteren werden die Stimmen sein der An­deren Schweiz.

In den kommenden Wochen werden wir weitere Diskussionsbeiträge zum Thema «700-Jahrfeier» veröffentli­chen.

Dieser Text ist ursprünglich in der WOZ Nr. 7 vom 16. Februar 1990 erschienen. Aus Anlass des 40-Jahr-Jubiläums der Wochenzeitung WOZ haben wir unser Archiv nach Perlen durchsucht, die wir erneut veröffentlichen, und das Tag für Tag bis hin zur Jubiläumsausgabe, die am 30. September 2021 erscheint.