40 Texte aus 40 Jahren: 2002: Sind wir Mäuse? Schönwetterkapitäne? Feiglinge?
Politiker lügen gern. Besonders, wenn Wahlen bevorstehen. Sie werden nun fünf Lügen hören:
1. Die SVP-Asylinitiative richtet sich nicht gegen echte Flüchtlinge. 2. Sie richtet sich nur gegen den Missbrauch. 3. Sie reduziert Kosten und Bürokratie. 3. Sie reduziert die Kriminalität. 5. Sie funktioniert.
Die verlogene Drittstaatenregelung
Der zentrale Punkt der SVP-Initiative lautet, dass Einreisende sofort zurückgeschafft werden, wenn sie über ein sicheres Drittland einreisen. Mit einem Schlag werden somit 95 Prozent aller Flüchtlinge illegal.
Folge 1: Gefolterte und Abenteurer, Verfolgte und nicht Verfolgte werden ohne Ansehen der Person in einen Topf geworfen. Das Asylrecht wird faktisch abgeschafft.
Folge 2: Sämtliche Flüchtlinge sind also illegal in der Schweiz und sollen sofort ausgeschafft werden. Nur wohin? Die Nachbarländer weigern sich. Die Wegweisung ist – typisch für SVP-Scheinlösungen – unpraktikabel.
Folge 3: Eine Menge unrückführbarer Leute sammelt sich in der Schweiz an: ohne Arbeitserlaubnis, ohne Prüfung der Fluchtgründe, ohne Perspektive, ohne Arbeitserlaubnis, ohne Ausbildung. Pures Dynamit.
Folge 4: Die SVP-Initiative zwingt auch den Ehrlichsten zur Lüge: Nur die Dümmsten werden nicht die Pässe vernichten und die Beamten über den Reiseweg anlügen. Was würden Sie tun?
Folge 5: Ein bürokratisches und menschliches Chaos: Niemand kann mehr beurteilt, niemand korrekt ausgewiesen werden.
Die gemeinen Schikanen
Angeblich um Kosten zu senken, fordert die SVP Vereinheitlichung der Versorgung von Flüchtlingen. Und zwar ausschliesslich durch Sachleistungen.
Folge 1: Bis jetzt regelten dies die Kantone. Der Bürokratismus der SVP verdonnert nun den Bund dazu. Die Umstellung kostet das Schweizer Volk allein 100 Millionen.
Folge 2: Da es keine echten Flüchtlinge mehr gibt, kann auch niemand arbeiten. Obwohl Branchen wie Bauern und Gastronomie darauf angewiesen wären. Dafür liegen die Leute dem Bund auf der Tasche: Das kostet rund 35 Millionen Franken. Jährlich.
Folge 3: Da Sozialleistungen nur noch in Kleidung, Unterkunft, Essen ausbezahlt werden, wird den Flüchtlingen jede Eigeninitiative genommen. Langeweile und Hoffnungslosigkeit grassieren.
Folge 4: Die Folge der SVP-Initiative sind nicht weniger Leute, sondern weniger echte Flüchtlinge – und mehr Kriminalität. (Was würden Sie tun, wenn Sie jahrelang kaserniert wären?)
Aber – was zählt das?
Die SVP-Asylinitiative schafft also mehr Chaos, mehr Kosten, mehr Bürokratie und Kriminalität. Das alles sind starke Argumente für ein NEIN am 24. November.
Aber das stärkste Argument ist ein anderes. Es fragt sich, warum die SVP eine derart untaugliche Initiative propagiert. Das Argument lautet: Hinter der SVP-Initiative steckt bodenlose Gemeinheit. Es ist eine Gemeinheit, echten Flüchtlingen keine Chance zu geben. Eine Gemeinheit, Leute aus Furcht zum Lügen zu zwingen. Eine Gemeinheit, sie ohne Arbeit zu einem Leben als lebende Leichname zu zwingen. Und eine Gemeinheit, die eigenen WählerInnen zu belügen, dass damit alles besser werde.
Sicher. Wir leben in unsicheren Zeiten. Manager versagen, Firmen schrumpfen, die Börse kränkelt. Der Himmel sieht – schon gar in der weltweiten Politik – nicht rosig aus. Aber: Wer sind wir: Mäuse? Feiglinge? Schönwetterkapitäne? Die Grösse eines Menschen wie eines Landes erweist sich, wenn es nicht einfach ist. Dann ist etwas Mut, etwas Herz, etwas Verstand und etwas Gutmütigkeit gefragt. Nicht viel. Aber genau so viel Mut, wie man braucht, bei streitenden Nachbarn zu klingeln, so viel Grosszügigkeit, einem Freund in Not Geld zu leihen, so viel Herz, ein verlaufenes Kind nach Hause zu bringen. Verlangt wird nicht Sentimentalität. Sondern etwas Verstand und ein guter Nachbar zu sein. Der SVP mangelt es an allem: Verstand und Anstand. Gierig auf ein paar Prozent bei den Wahlen betrügt sie die Wähler. Und lügt auf Kosten von Schwächeren. Und verschärft mutwillig Probleme. Sicher: Asylbewerber sind nicht alles Engel. Sie sind grösstenteils Leute wie du und ich – nur fern der Heimat, der Familie, ohne Vermögen in einem fremden Land. Die Rechtspraxis ist bereits heute alles andere als grosszügig. Die Prüfungen sind pingelig genau, die Formulare endlos, die Hürden hoch. (Sie kennen unsere Beamten: Glauben Sie wirklich, sie sind Ihnen gegenüber kleinlicher als gegenüber Dahergelaufenen?)
Grund genug, jene wenigen, die Verfolgung, Folter und Prüfung überstanden haben, aufzunehmen. In den fünfziger und sechziger Jahren nahm die Schweiz zehntausende aus Ungarn und der Tschechoslowakei auf. Kein Problem. In den Siebzigern agitierte Schwarzenbach gegen die «kriminellen», «sich unkontrolliert vermehrenden» Italiener. Haben wir heute ein Problem damit? In den Achtzigern wetterten Inserate gegen «Lederjacke tragende » und «Schutzgeld erpressende» Tamilen. Wie viele Wirte wären verloren ohne sie?
Es ist also Augenmass gefragt. Wir können wählen: zwischen 200 Jahren Schweizer Tradition und fünf SVP-Lügen, zwischen minimaler nachbarlicher Grosszügigkeit und maximaler Kleinlichkeit, zwischen Anstand und Angstmacherei. Es ist nicht zuletzt eine Frage des Stolzes.
Die Wahl kann nur wie folgt lauten: NEIN zur Asylinitiative der SVP!
Dieser Text ist ursprünglich in der WOZ Abstimmungszeitung vom November 2002 erschienen. Aus Anlass des 40-Jahr-Jubiläums der Wochenzeitung WOZ haben wir unser Archiv nach Perlen durchsucht, die wir erneut veröffentlichen, und das Tag für Tag bis hin zur Jubiläumsausgabe, die am 30. September 2021 erscheint.