40 Texte aus 40 Jahren: 2006: John Berger: Die beschädigte Welt

Ein Kosmopolit im Bergdorf, ein Marxist, der mit Toten spricht – der grosse englische Autor wird diese Woche achtzig.

Ein alter Mann reist nach Lissabon. Die windige, hügelige Stadt fasziniert und verwirrt ihn. Dann steht auch noch plötzlich seine Mutter vor ihm – seine Mutter, die seit fünfzehn Jahren tot ist. Die Toten dürften eben wählen, wo sie leben wollten, erklärt sie ihrem Sohn.

Die Toten beschäftigen John Berger schon lange. In seinem wohl bekanntesten Buch «SauErde» (1982 in deutscher Übersetzung) ist es die Aussenseiterin des Dorfes, die kleinwüchsige Lucie Cabrol, die zu ihrem Geliebten zurückkommt und ihm Unfug und Weisheiten ins Ohr flüstert. Doch noch nie haben die Toten so viel Platz eingenommen wie in Bergers neustem Buch «Hier, wo wir uns begegnen». Ken, der Neuseeländer, der ihm als Jugendlichem die Literatur näher brachte, wartet auf einem Bäuerinnenmarkt in Krakau. In einem Dorf in Polen kocht er Sauerampfersuppe für eine befreundete junge Familie und ist gleichzeitig wieder ein kleiner Junge mit seinem kriegstraumatisierten Vater in den Londoner Schrebergärten. Und der anarchistische Musiker aus dem Nachbardorf, der vor Jahren von einem Auto überfahren wurde, taucht auf einer Hochzeit auf. Die Zeiten vermischen sich, doch Berger bleibt ein exakter Beobachter.

John Berger wurde am 5. November 1926 geboren. Er wuchs in London auf, studierte Malerei und begann früh auch zu schreiben. In den sechziger Jahren zog er in ein kleines Bergdorf in Hochsavoyen, unweit von Genf. Mit einem Rückzug in eine heile Welt hatte das nichts zu tun: Die Welt, in der Berger landete, war tief beschädigt, die Berglandwirtschaft im Niedergang. Wie nur wenige Menschen, die von aussen kommen, näherte sich Berger dieser fremden bäuerlichen Umgebung und lernte sie verstehen. Er verherrlichte sie nie, sondern analysierte sie von ihrer Grundlage her: der Arbeit, die nie aufhört.

Das Resultat war «SauErde», eine Sammlung von Geschichten über das bäuerliche Leben. Der Illusion der StädterInnen, das materiell einfache Leben sei auch geistig einfach, stellte er die unglaubliche Komplexität der bäuerlichen Arbeit gegenüber: «Arbeitsroutine ist für einen Bauern etwas ganz anderes als die Routine städtischer Arbeit. Jedes Mal wenn der Bauer dieselbe Aufgabe verrichtet, gibt es Elemente, die sich verändert haben. Der Bauer improvisiert beständig», schrieb er im «historischen Nachwort» zum Buch.

Weiter Interesse an der Welt

«SauErde» wurde der erste Teil der Trilogie «Von ihrer Hände Arbeit», die damit endet, dass sich die ehemaligen BäuerInnen der Welt als entwurzelte ProletarierInnen in einer imaginären Stadt versammeln. Aids und Obdachlosigkeit waren die Themen weiterer Romane Bergers. Daneben malte er und schrieb Essays, Kunstkritiken und Drehbücher für den Schweizer Regisseur Alain Tanner.

John Bergers Werk ist äusserst vielschichtig – und dennoch gibt es viel Verbindendes darin. Zum einen ein ungebrochenes Interesse an der Welt, ein Staunen und Nachdenken über sie. Berger beobachtet das scheinbar Kleine, Nebensächliche: einen Vogel, der sich in ein Theater verirrt hat, oder die Fische auf dem Markt in Lissabon.

Dazu kommt, dass es für Berger kein Hohes und kein Niedriges gibt. Der Alltag, das Schälen von Kartoffeln zum Beispiel, ist genauso wichtig wie das Denken. Der Geist steht nicht über der Materie, die geistige Arbeit nicht über der körperlichen. Er weiss, dass Menschen ohne sinnliche Erfahrungen, ohne minimalen Bezug zu ihren Lebensgrundlagen – und dazu gehört vor allem das Essen – kein gutes Leben führen können. Sehr schön zeigt das der Essay «Eine Fuhre Scheisse» von 1991, in dem der Autor beschreibt, wie er einmal im Jahr die WC-Grube seines Hauses ausschaufelt. Genauso im Respekt, mit dem er über die bäuerliche Arbeit schreibt oder im neuen Buch über einen Lissabonner Aquäduktwärter: «Für Fernando war das Wasser im Aguas Livres etwas Lebendiges, das beschützt, gefüttert und sauber gehalten werden musste – fast wie ein Tier im Zoo. Vielleicht ein Otter. Einmal die Woche lief Fernando die 14 km bis zu den Quellen in Cavenque ab und schaute nach, ob alles in Ordnung war. Ich glaube, er hatte den Verdacht, dass das Wasser ihn beim Näherkommen erkannte – wie ein Otter. Seine Pensionierung bereitete ihm Angst.» Dieser unerschütterliche Respekt für die Menschen, der fast befreiungstheologisch anmutet, ist ein weiteres Merkmal von Bergers Arbeit. Respekt aber auch vor anderen Lebewesen, wie im Text «Erinnerung an ein Kalb» am Anfang von «SauErde», der nichts mit kitschiger Tierliebe zu tun hat. Die Beschäftigung mit Kunst, vor allem mit Malerei, ist eine Konstante in John Bergers Leben. Seine Texte über Kunst sind einerseits sehr subjektiv und assoziativ, zum andern – und hier kommen seine marxistischen Grundlagen zum Vorschein – denkt Berger immer auch an die Produktionsbedingungen der Kunst. Er denkt nach über die Welt, in der die KünstlerInnen leb(t)en, stellt Bezüge zu Geschichte und Politik her. Und Kunstwerke sind keine Heiligtümer, sondern Hilfsmittel, das Heutige zu verstehen. So entdeckt Berger in Hieronymus Boschs 500-jährigem Bild «Hölle» die Gegenwart: «Es gibt keine Kontinuität zwischen den Handlungen, keine Pausen, keine Wege, keine Muster, keine Vergangenheit und keine Zukunft. Es bleibt nur das Wehklagen der in Bruchstücke auseinanderfallenden Gegenwart. Überall Überraschungen und Übersteigerungen, aber sie führen zu nichts. (...) Unsere Kultur ist vielleicht die klaustrophobischste, die je existiert hat; es ist die Kultur der Globalisierung, die wie Boschs Hölle keinen noch so flüchtigen Blick auf ein Anderswo oder Anderswie zulässt. Das Vorhandene schliesst sich zum Gefängnis.»

Politisch war John Berger immer. 1972 gewann er für seinen Roman «G.» den Booker Prize und sorgte für eine Kontroverse, weil er die Hälfte des Geldes der Black Panther Party schenkte. In den letzten Jahren bezog er sich positiv auf Bewegungen wie die französische Confédération paysanne oder die Zapatistas in Mexiko, führte auch einen Briefwechsel mit Subcomandante Marcos. Die beiden verbindet einiges: Beide waren städtische Intellektuelle, kamen aufs Land, liessen sich mit der Landbevölkerung ein und wurden von ihr verändert. Gemeinsam ist ihnen der erwähnte Respekt für «einfache» Menschen und ein tiefes Misstrauen gegen alle Technokratie.

Die Hölle von innen anprangern

Was Berger vor mehr als einem Vierteljahrhundert über die BäuerInnen schrieb, ist heute aktueller denn je: «Bäuerliches Leben ist ein Leben, das völlig auf das Überleben ausgerichtet ist. (...) Eine Klasse von Überlebenden kann sich den Glauben daran, dass man an einem Punkt garantierter Absicherung oder Wohlhabenheit angelangen könnte, nicht leisten.» Heute zeigt sich, dass es diese «garantierte Absicherung» tatsächlich nicht gibt. Das bequeme Leben in der Konsumgesellschaft führt zur Zerstörung der Welt.

«Wenn man den wahrscheinlichen künftigen Verlauf der Weltgeschichte betrachtet und dabei an die weitere Ausdehnung und Konsolidierung der Herrschaft des Aktienkapitals in ihrer ganzen Brutalität denkt», so schrieb Berger im Nachwort zu «SauErde», dann sei für den Widerstand die bäuerliche Überlebenserfahrung einer solchen rauen Perspektive wahrscheinlich besser angepasst «als die sich ständig neu formierende, enttäuschte, fortschrittsversessene Hoffnung auf einen endgültigen Sieg». Das ist keine angenehme Perspektive – aber auch keine hoffnungslose. Denn, so Berger im Text über Hieronymus Bosch: «Wenn man die Hölle von innen her anprangert, hört sie auf, Hölle zu sein.»

John Berger: «Hier, wo wir uns begegnen». Hanser Verlag. München 2006. 224 Seiten. Fr. 32.50.

Dieser Text ist ursprünglich in der WOZ Nr. 44 vom 2. November 2006 erschienen. Aus Anlass des 40-Jahr-Jubiläums der Wochenzeitung WOZ haben wir unser Archiv nach Perlen durchsucht, die wir erneut veröffentlichen, und das Tag für Tag bis hin zur Jubiläumsausgabe, die am 30. September 2021 erscheint.