40 Texte aus 40 Jahren: 1992: Welche Zukunft für die Schweiz in Europa? Keine Liebesgrüsse an die EG
Nun ist die EG-Diskussion richtig lanciert: Am Montag entschied sich der Bundesrat mehrheitlich dafür, noch vor dem EG-Gipfel Ende Juni in Lissabon ein Gesuch für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen zu stellen. Am Mittwoch präsentierte er dann neben der EWR-Botschaft auch den Bericht über den Beitritt der Schweiz zur EG, der die Begründung für den Brief nach Brüssel liefert. Aus dem Blickwinkel der bundesrätlichen Strategie, einen EG-Beitritt anzustreben, ist der Zeitpunkt sachlich sicher richtig gewählt. Denn nur so bleibt die Möglichkeit gewahrt, dass die Schweiz ihre Beitrittsverhandlungen parallel – wenn auch getrennt – mit Österreich, Finnland und Schweden führen kann, deren Interessenlagen einige Gemeinsamkeiten aufweisen: so in der Neutralitätsfrage, beim Problem des Alpentransits (Österreich), bei den Umweltstandards (nordische Staaten), teilweise auch bei der Landwirtschaft.
Am 27. Mai wird der Bundesrat den ersten Teil der Gesetzesänderungen (Eurolex-Paket) verabschieden, die wegen des EWR-Vertrages notwendig werden, im Juni folgt dann der zweite Teil. Bei dieser Gelegenheit wird sich weisen, inwieweit der Bundesrat (und später das Parlament) bereit ist, die notwendigen flankierenden Massnahmen zu treffen oder sogar die Gelegenheit zu nutzen, den Beitritt mit zusätzlichen inneren Reformen zu verbinden. Gewerkschaftsbund und SPS haben Ende Januar bzw. Ende April ein ganzes Paket europaverträglicher Massnahmen und Reformen gefordert: Sie gehen von einer generellen Beschränkung des Zweitwohnungsbesitzes (Ersatz für die Lex Friedrich), über den Schutz der ArbeitnehmerInnen vor Lohndumping (erleichterte Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Gesamtarbeitsverträgen, Minimallöhne, Durchsetzung orts- und branchenüblicher Arbeitsbedingungen bei der Vergabe öffentlicher Aufträge etc.) bis hin zur Forderung nach einer leistungsabhängigen Schwerverkehrsabgabe zur Eindämmung des Güterverkehrs. Die Hoffnungen der SPS dürften kaum alle erfüllt werden, insbesondere was die zusätzlichen Reformen betrifft. Indessen ist die integrationswillige politische Klasse auf die Ja-Stimmen von links angewiesen.
Bei der gegenwärtigen Diskussion fällt auf, dass manche Linke und Grüne entweder übergrosse Hoffnungen in einen EG-Beitritt setzen oder – umgekehrt – von einem Vorrat an Klischees und Vorurteilen gegenüber der EG zehren. Einige hoffen geradezu europhorisch auf eine künftig demokratischere, föderalistischere, sozialere und ökologischere EG. Die Gegenseite hantiert oft mit Schlagworten wie Brüsseler EG-Monster oder EG-Zentralismus, die mir in dieser Form nicht haltbar scheinen: Die EG hat eine überraschend kleine Bürokratie (kleiner als die des Kantons Zürich oder des EMD), es gilt das Subsidiaritätsprinzip (die übergeordnete politische Ebene soll nur jene Aufgaben übernehmen, die nicht effizienter von der untergeordneten ausgeführt werden können), die Rechte der Einzelstaaten sind durch das Entscheidungsverfahren (Einstimmigkeit oder qualifizierte Mehrheit im Ministerrat) sowie durch Schutzklauseln insgesamt besser geschützt als jene der Einzelkantone in der Schweiz.
Für eine differenziertere Diskussion wäre es nützlich, die verschiedenen Ebenen zu unterscheiden und aufeinander zu beziehen:
1. Ein Ja zu einem EG-Beitritt bedeutet keinen Verzicht auf Kritik an der EG im allgemeinen oder an der von ihr in einzelnen Bereichen verfolgten Politik. Unbestritten ist etwa, dass die EG-Verkehrspolitik falsch angelegt ist und die EG-Umweltpolitik einen grossen Rückstand aufweist. Fragen, die sich hier anschliessen könnten, wären beispielsweise: In welche Richtung entwickeln sich diese Politiken (das gilt auch für die Sicherheits – und Entwicklungspolitik, siehe WoZ Nr. 19/92). Was könnte ein Beitritt «fortschrittlicherer» EFTA-Staaten bewirken? Was ist vorzuziehen: Eine Schweiz, die umweltpolitisch einen Schritt voraus ist, oder ein Europa, wo sich alle wenigstens an Minimalstandards halten müssen? Oder auch: Welche Bedeutung kommt den Volksrechten zu (nach Angaben der Bundesverwaltung wären von 1988 bis 1991 bloss zwei von 112 fakultativen und zwei von 14 obligatorischen Referenden nicht mehr möglich gewesen)?
2. Ein Nein zu einem EWR- oder EG-Beitritt ist kein wirkungsvolles Plebiszit gegen eine unerträglich gewordene Wachstumspolitik. Die Gesetze der Kapitalakkumulation mit ihrem immanenten Zwang zum Wachstum herrschen inner- und ausserhalb der EG, die EG ist nicht ihre Ursache, höchstens ihr Regulator (diese Funktion stört beispielsweise Christoph Blocher). Sich hier anschliessende Fragen wären: Kann die Schweiz sich in einer unipolar gewordenen Welt ausserhalb dieses Zusammenhanges stellen und einen völlig anderen Weg gehen (z. B. bolo'bolo, Sozialismus)? Hat der Nationalstaat oder haben die im Nationalstaat agierenden Bewegungen und Organisationen überhaupt noch wesentliche Einwirkungsmöglichkeiten auf das frei zirkulierende Kapital? Die Gewerkschafter Hans Schäppi und Vasco Pedrina haben dies in der Theoriezeitschrift «Widerspruch» (Nr. 20/90) verneint: «Die Wirtschaft hat sich schon seit Jahrzenten internationalisiert und vermag unterschiedliche nationale Normen zu ihrem Vorteil zu nutzen.» Das habe zu einer Standortkonkurrenz und zu «Sozial- und Ökodumping» geführt. «Insofern besteht heute ein Nachholbedarf an überstaatlicher Normensetzung im Wirtschafts-, Sozialund Umweltbereich, m it dem nur ausgeglichen wird, was den Nationalstaaten an Regelungskompetenz de facto verloren gegangen ist.»
3. Weder ein EG-Beitritt noch ein Alleingang lässt die Verhältnisse in der Schweiz so, wie sie heute sind. Der wirtschaftliche Erfolgs- und Sonderfall Schweiz bröckelt seit einiger Zeit: Eine höhere Inflationsrate und ein stärkeres Wachstum der Arbeitslosigkeit als im EG-Raum, verschlechterte Wettbewerbsposition der Industrie etc. Ein Alleingang der Schweiz hätte eine weitere Deindustrialisierung und wahrscheinlich eine stärkere Spezialisierung des Finanzplatzes auf dubiose Geschäfte mit Flucht – und Drogengeldem zur Folge. Der Wohlstand könnte dann nur noch, wie Jean Ziegler in seinem Beitrag zur Schönen Neuen Weltordnung ausführte, mit dem «Blockadebrechen, dem Filibustern, den schlimmsten halb – bis ganz kriminellen» Wirtschaftsaktivitäten aufrechterhalten werden. Auf geistig-ideologischer Ebene ergäbe sich die Notwendigkeit, den Sonderweg der Schweiz laufend zu begründen und zu überhöhen. Ein Rückfall in die Tradition der geistigen Landesverteidigung schiene fast unvermeidlich. Der Historiker Jakob Tanner sprach in diesem Zusammenhang an einer Veranstaltung von «kleinstaatlicher Selbstgefälligkeit und kulturellem Überheblichkeitsbewusstsein». Faktisch wäre die Schweiz dennoch gezwungen, die meisten EG-Normierungen «autonom» nachzuvollziehen, wie es euphemistisch heisst, also ohne M itwirkungsmöglichkeiten. Das Kapital könnte in Europa frei zirkulieren, nicht aber – ein nicht zu unterschätzender lebenspraktischer Vorteil – die Bürgerinnen dieses künftigen Singapurs Europas.
4. Das Projekt eines «Europa von unten», eine Vernetzung an der Basis, steht nicht im Gegensatz zu einem EG-Beitritt. Vielmehr würden gleiche Problemstellungen gerade eine verstärkte und verbindlichere Zusammenarbeit von Bewegungen und Organisationen über staatliche Grenzen hinweg nötig machen. Die sich hier anschliessende Frage wäre: Welches Modell, Alleingang oder EG-Beitritt, bietet bessere Rahmenbedingungen und Einwirkungsmöglichkeiten? Denn der EG beitreten bedeutet ja nicht, unsere Hoffnungen an (supra-)staatliche Organisationen zu delegieren.
Dieser Text ist ursprünglich in der WOZ Nr. 21 vom 22. Mai 1992 erschienen. Aus Anlass des 40-Jahr-Jubiläums der Wochenzeitung WOZ haben wir unser Archiv nach Perlen durchsucht, die wir erneut veröffentlichen, und das Tag für Tag bis hin zur Jubiläumsausgabe, die am 30. September 2021 erscheint.