40 Texte aus 40 Jahren: 1999: Die Zürcher SVP erobert die Schweiz: Erdrutsch am Stadtrand

Warum es in vier Jahren noch schlimmer kommen kann.

Man muss genau hinschauen, um zu verstehen, was passiert. Zum Beispiel die Zürcher Stadtkreise 11 und 12, Seebach und Schwamendingen: Wie andere kleinbürgerlich-proletarisch geprägte Wohn- und Industriebereiche zwischen Stadt und Agglomeration waren diese Stadtteile in der Nachkriegszeit SP-Hochburgen. Noch vor zwanzig Jahren, bei den Nationalratswahlen 1979, erhielt die SP dort 45 Prozent der Stimmen. Die fremdenfeindliche Rechte (Nationale Aktion und Republikaner) erreichte damals 4 Prozent – gleich wenig wie die SVP. Die in der Stadt traditionell unbedeutende SVP steckte damals schweizweit in der Krise. Ihre bäuerlich-gewerbliche, meist protestantische und männliche Klientel schrumpfte ständig. Seither hat die SVP (inklusive Jugend- und SeniorInnenlisten) in Schwamendingen bei jeder Nationalratswahl zugelegt: 1987 auf 6,5 Prozent, 1991 auf 15 Prozent, vor vier Jahren auf 25 Prozent und jetzt auf 40,6 Prozent.

Wie konnte dieser Verliererhaufen zur stärksten Schweizer Partei werden? Warum haben 1999 zehnmal mehr Schwamendinger- Innen diese Partei gewählt als 1979? Die gängigen Erklärungsmuster für den kontinuierlichen SVP-Erfolg sind nichts sagend bis falsch. Sie lauten – je nach medialer Modeströmung – «Protestpotenzial», «Populismus», «Polarisierung», «Amerikanisierung», «Geld», «Wählerverblödung», «Umschichtung» innerhalb der Rechten. Gerade die immer wieder herumgebotene Umschichtungs-These führt in die Irre. Das zeigt Schwamendingen exemplarisch. Dort verlief der Aufstieg der rechten Ultras (Schweizer Demokraten, Autopartei, EDU) während der ganzen achtziger Jahre parallel zum SVP-Erfolg. Sogar jetzt noch haben die kleinen Rechtsaussenparteien mehr Stimmen geholt als vor zwanzig Jahren. Die SP hingegen hat dort einen Drittel ihrer WählerInnen verloren und pendelt seit 1987 um die 30-Prozent-Marke.

Schwamendingen hat mit anderen Zürcher Stadtkreisen und Agglomerationsgemeinden, in denen die SVP überdurchschnittlich zugelegt hat, einiges gemeinsam: eine relativ tiefe Wohnqualität und entsprechende Wohnungspreise, einen starken wirtschaftlichen Strukturwandel, den Verlust industrieller Arbeitsplätze, einen hohen ImmigrantInnen- Anteil – und eine tiefe Stimmbeteiligung. In diesen Gegenden wohnen viele «Mittelstands»-Familien – beziehungsweise solche, die gerne zum «Mittelstand» gehören würden, und solche, denen das Zeug zum Aufstieg fehlt und die im Abstieg nach unten treten. Es sind dies Angestellte und Arbeiter- Innen, die nicht wegkönnen, die Angst vor der Zukunft haben und auch noch Grund dazu; BürgerInnen, die entweder gar nicht an die Urne gehen oder dann diejenigen wählen, die angeblich dafür sorgen, dass es nicht noch schlimmer kommt.

«Diejenigen», das sind Blochers Leute. Seit gut zwanzig Jahren setzen sie ein entwicklungsfähiges, ideologisches Projekt kontinuierlich in Alltagspolitik um: das Projekt eines modernen Konservatismus. Beunruhigend an der SVP sind nicht nur ihre rassistischen und gelegentlich antisemitischen Töne, sondern vor allem die Tatsache, dass sie solche Töne in eine zeitgemässe, potenziell mehrheitsfähige Rechts-Ideologie einbettet – ein Orientierungssystem, das WählerInnen aus verschiedenen sozialen Schichten langfristig binden kann. Damit gestaltet sie die politische Schweiz nachhaltig um.

Die Dynamik dieses Projekts liegt in der neoliberalen Wirtschafts- und Sozialpolitik. Diese entspricht nicht nur den tatsächlichen Kapitalinteressen, sie befriedigt auch die Machtfantasien der Möchtegern-Erfolgreichen. Stabilität erhält das Projekt durch das immer wieder erneuerte Angebot an die scheinbar Ohnmächtigen und Frustrierten, sie könnten darüber bestimmen, wer «dazugehört» und wer nicht. Letztlich geht es diesen Nationalkonservativen um die Neudefinition des zentralen politischen Konfliktfeldes: Aus dem Kampf um soziale Macht und Selbstbestimmung soll ein Streit um nationale Zugehörigkeit und nationale Souveränität werden. Sie treiben die ökonomische Modernisierung voran und wollen gleichzeitig die wirklichen oder vermeintlichen ModernisierungsverliererInnen für sich gewinnen.

In konkreten politischen Kämpfen können die Widersprüche des Nationalkonservatismus sichtbar werden. Das haben die Gewerkschaften zuletzt bei der Debatte um die bilateralen Verträge mit der EU demonstriert. Das Aufzeigen von Widersprüchen allein genügt allerdings nicht. Es braucht ein ideologisches Gegenprojekt, das kontinuierlich in linke Alltagspolitik umgesetzt werden könnte. Aber SP und Grüne haben kein solches Projekt. Sie scheinen sich auch nicht darum zu bemühen, und eine andere Linke ist auf nationaler Ebene leider nicht in Sicht. Ist es zu viel verlangt, wenn man den «einfachen Leuten» immer wieder vordemonstrieren muss, dass die Umverteilung von unten nach oben nicht in ihrem Interesse ist?

Vielleicht hapert es ja am guten Willen. Grüne Vordenker wollen seit Jahren in die politische «Mitte». Und SP-StrategInnen wedeln zwar mit verbalradikalen Grundwerten herum. In der politischen Auseinandersetzung kümmern sie sich aber lieber um Reformkoalitionen als um eine verständliche Artikulation der Interessen jener sozial Benachteiligten, die sie doch zu vertreten vorgeben. Vielleicht sollten sich die Zürcher GenossInnen einmal überlegen, warum sie seit 1979 ihren WählerInnenanteil ausgerechnet im Kreis 7, bei den Zürichberg-Reichen, verdoppelt haben. Dort ist die SP inzwischen mit 30 Prozent stärkste Kraft noch vor dem Freisinn.

Mitte der neunziger Jahre bezeichnete der damalige SP-Parteipräsident Peter Bodenmann die SVP als «rechtspopulistische Lumpensammlerin», die «die Gewichte zwischen links und rechts nicht wesentlich» verschiebe. Das war ein Irrtum. Wenn jetzt aber die SP-Führung ihre Partei weiterhin zuerst als «Anti-Blocher-Partei» positioniert und mit einer Mischung aus «SonntagsBlick»-Hysterie («Wehret den Anfängen!») und Bagatellisierung («Die Mehrheit ist gegen Blocher!») der SVP zuarbeitet, gibt es nur noch eine Erklärung: Der SP-Spitze ist es egal, wenn die SVP weiter zulegt – Hauptsache für einen selbst fällt dabei ein «Polarisierungsgewinn» ab.

Schwamendingen ist nicht die Schweiz. In Basel, Genf, St.Gallen oder Zug greifen teilweise andere Erklärungsmuster. Aber begonnen hat es vor zwei Jahrzehnten in Zürich. Seitdem ist der politische Untergrund auch anderswo ins Rutschen gekommen. Dieser Erdrutsch wird nicht von alleine aufhören. Es ist allerhöchste Zeit, dass sich die Linke um Wiederaufforstung kümmert. Sonst kommt in acht, zwölf oder zwanzig Jahren der ganze Berg herunter.

Dieser Text ist ursprünglich in der WOZ Nr. 43 vom 28. Oktober 1999 erschienen. Aus Anlass des 40-Jahr-Jubiläums der Wochenzeitung WOZ haben wir unser Archiv nach Perlen durchsucht, die wir erneut veröffentlichen, und das Tag für Tag bis hin zur Jubiläumsausgabe, die am 30. September 2021 erscheint.