40 Texte aus 40 Jahren: 2019: Nach Europa: Reise durch einen brüchigen Kontinent
Vor der Europawahl im Mai haben die WOZ-Reporterinnen Anna Jikhareva und Sarah Schmalz neuen europäische Länder auf den Spuren einer revolutionären Idee bereist: der Bewegungsfreiheit. Von Barcelona über Dover bis Krakau haben sie die Menschen gefragt, was diese Idee für sie noch bedeutet.
I. Von Barcelona nach Dover: Bürgermeisterin Ada Colau kämpft für die Seenotrettung. In Montpellier werden Gelbwesten mit Tränengas eingenebelt. Die Europäische Eisenbahnagentur baut Barrieren ab. Und ein Spediteur erklärt den Brexit.
Die kleine Bronzetafel am Strand von Barcelona ist leicht zu übersehen. Junge Leute in Neonoutfits joggen die weitläufige Promenade entlang, Paare flanieren plaudernd vorbei, ein paar Strassenkünstler haben Skulpturen aus Sand gebaut, um etwas Geld zu verdienen: Schlösser und Fabelwesen, Drachen, aus deren Nüstern Flammen lodern. Kaum jemand nimmt an diesem ungewöhnlich warmen Januartag von der Tafel Notiz, auf deren digitaler Anzeige eine Zahl prangt: acht. So viele Menschen sollen in diesem Jahr bereits auf ihrem Weg nach Europa im Mittelmeer ertrunken sein, Stichtag Mitte Januar.
Die Zahl der Todesfälle steigt unentwegt: Allein in den Tagen, die wir hier verbringen, kentern zwei Schlauchboote mit fast 200 Menschen an Bord, nur vier überleben. Das ist sie, die zynische Routine auf hoher See, seit Jahren schon. Erst recht, seit Italien und Malta ihre Häfen für die Rettungsschiffe geschlossen haben. «No es solo un número. Son personas» steht auf dem Zähler der Schande, den die Stadtregierung aufgestellt hat.
Dass die Häfen dicht sind, bekommt Ricardo Gatti am eigenen Leib zu spüren. Der Vierzigjährige, dichter Bart, silberne Ohrringe, sitzt auf der Brücke seines Schiffes, nur ein paar Hundert Meter trennen ihn vom Mahnmal am Strand, die Abendsonne hüllt die Szenerie in goldenes Licht. Die «Open Arms», ein alter Kahn mit Holzdeck, steckt seit zwei Wochen auf einem Anlegeplatz im hintersten Teil des Hafens fest. Gatti hätte die nächste Mission leiten sollen. Nun kann er nicht weg, weil die spanische Regierung das Schiff per Dekret am Auslaufen hindert.
Begründet wird das Verbot mit dem internationalen Seerecht. Es besagt, dass aus Seenot Gerettete so schnell wie möglich an Land gebracht werden müssen. Weil die Häfen aber geschlossen sind, würde die Crew der «Open Arms» mit dem Einsatz illegal handeln, sagt die spanische Regierung. «Als würde man Ambulanzen stoppen, weil die Spitäler ihre Tore geschlossen haben», sagt Gatti.
Auf dem Schiff hat alles seine penible Ordnung: Die Schränke sind akkurat beschriftet, die Einsatzpläne genau berechnet, Flossen und Taucheranzüge an Deck sorgfältig zum Trocknen aufgehängt. Im kleinen Aufenthaltszimmer dient ein Heiligenbild dem Schutz der Seefahrenden. An den Wänden im Flur: Szenen der Rettungseinsätze. Eine Frau, die gerade ein Kind geboren hat. Ein Vater, der seine kleine Tochter in die Luft hält.
Die Attacken der Behörden sind für Gatti nichts Neues. Nur die Methoden änderten sich: «Schon ein Brot, das im Kühlschrank vergessen wurde, kann dir eine Gesundheitsinspektion einbrocken.» Den Kampf, den die AktivistInnen gegen die europäische Politik führen, beschreibt er als den von David gegen Goliath. Dabei sei es simpel: «Sind wir nicht mehr vor Ort, sterben sie.» Ihm geht es aber auch um etwas anderes: «Die EU übergibt die Verantwortung den Libyern, aber die retten nicht. Ich will nicht zulassen, dass die Wahrheit verschleiert werden kann, weil niemand mehr mitbekommt, wenn die Boote kentern.»
In den letzten zwei Jahren auf See ist Gattis dichter Bart grau geworden.
Wer verteidigt die Menschenrechte, wenn sich niemand zuständig fühlt? War die Europäische Union nicht einst ein «Friedensprojekt», ausgezeichnet gar mit dem Friedensnobelpreis? Was ist aus dem Versprechen auf Bewegungsfreiheit geworden, das sich die EU einst gab? Visafreies Reisen, für alle und überallhin – für wen gilt es heute, wer ist davon ausgeschlossen? Hat das Projekt EU es geschafft, die Menschen auf dem Kontinent zusammenzubringen?
Um Antworten zu finden, wollen wir in den kommenden Wochen durch Europa reisen, den Kontinent entlang seiner Gräben und über seine Brücken durchqueren. Denn wie lässt sich das Versprechen auf Bewegungsfreiheit besser prüfen, als wenn man selbst unterwegs ist?
Für Europa ist 2019 ein Schicksalsjahr: Wenn mit Grossbritannien zum ersten Mal ein Mitgliedsland die EU verlässt, tritt ein, was sechzig Jahre lang unmöglich schien: Der Beitritt war immer als Einbahnstrasse gedacht, ein Rückzug nicht vorgesehen. Und wenn im Mai ein neues EU-Parlament gewählt wird, steht zu befürchten, dass die politische Landschaft Europas weiter nach rechts rückt. Die Fliehkräfte der Zerstörung dürften dann abermals zunehmen, die Spielräume für progressive Politik noch kleiner werden. Der Traum von einem vereinten Europa, das demokratisch ist und solidarisch, dürfte in noch weitere Ferne rücken. Noch ist es nicht so weit.
Städte als Utopien
Ganz in Schwarz gekleidet steht Ada Colau vor dem Anlegeplatz der «Open Arms», umringt von Kamerateams. Drei Arbeiter in orangen Overalls beobachten die Szene belustigt von der Reling aus. Ein Segelschiff fährt aufs Meer hinaus, vorbei an einem mehrstöckigen Kreuzfahrtmonster. Hier der Stillstand des Rettungsschiffs, dort die Bewegung der Kommerzschiffe; dazwischen nur wenige Meter.
Colau, seit 2015 Bürgermeisterin für die bewegungspolitische Plattform Barcelona en Comú, sagt den AktivistInnen ihre Unterstützung zu. Dann wendet sie sich an jene, die sie für die Blockade verantwortlich macht. «Herr Sánchez, ich hoffe nicht, dass Sie sich einer Komplizenschaft mit dem Faschisten in Rom schuldig machen wollen», sagt sie an die Adresse des spanischen Premiers. Dem zuständigen Ministerium hat Colau einen Brief geschrieben mit der Forderung, das Schiff unverzüglich auslaufen zu lassen. «Eine Antwort habe ich noch nicht erhalten.»
Nach dem Pressetermin seiner Chefin sitzt Ignasi Calbó in einer einfachen Hafenbeiz. Seit bald vier Jahren leitet der Mann mit den schwarz geschminkten Augen das Flüchtlingsprogramm der Stadt. Angefangen hat alles mit einem Anruf. Eines Sonntags meldet sich Ada Colau, die Freundin eines Freundes. Die beiden kennen sich vom Jusstudium und aus der Zeit, als sie gemeinsam gegen Zwangsversteigerungen in der katalanischen Hauptstadt aktiv waren. Auf dem Höhepunkt des «Flüchtlingssommers» 2015 lädt Colau ihren Bekannten zu einem Gespräch über Migration ein. «Ich habe nicht kapiert, dass das ein Vorstellungsgespräch war», erzählt Calbó.
In Spanien ist die Zentralregierung für die Flüchtlingspolitik zuständig, obwohl Zuwanderung vor allem in den Städten Realitäten schafft. Eigentlich wären Calbós Kompetenzen äusserst beschränkt. «Wenn aber hundert Personen auf der Strasse schlafen, ist das nicht das Problem der zuständigen Behörden, sondern der Stadt, in der diese Menschen leben. Ich tue also ständig Dinge, zu denen ich nicht befugt bin.»
Die Behörden von Barcelona haben aus der Migration deshalb eine juristische Frage gemacht. Es gehe nicht um Mitgefühl, sondern um Rechte, die sich vor Gericht einklagen liessen, sagt Calbó. «Was auch immer ich davon halte: Migration findet statt.» Die Frage sei, ob sie legal geschehe oder kriminalisiert werde. «Unabhängig von der Antwort müssen die Menschen essen, ihre Kinder in die Schule schicken, sie brauchen eine Gesundheitsversorgung. Sie verschwinden nicht einfach, weil das Gesetz es so will.»
Was die Flüchtlingspolitik von Barcelona auszeichnet, ist ihr Pragmatismus. Migration als Realität, die einen praktischen Umgang erfordert. Als solidarische Stadt ist Barcelona vielerorts auf der Welt inzwischen ein Vorbild, Stadtregierungen geben sich die Klinke in die Hand, um von Ada Colau zu lernen. Die Räume, die man sich in den Städten erkämpft hat, beweisen, «dass ein anderes Europa möglich ist», sagt Ignasi Calbó. In dieser Vorstellung wird die Stadt zum Ort konkreter Utopien, einem Labor für progressive Politik. Zum Vorbild für ein Europa abseits nationalstaatlicher Abschottungsbestrebungen.
Am Abend in einer Bar, deren Interieur so aussieht wie das der meisten Bars in den europäischen Aufwertungshochburgen, treffen wir Antoine, ein Beispiel für die gelebte Personenfreizügigkeit, die jenen mit dem richtigen Pass zuteilwird. Viele Leute, mit denen wir unterwegs ins Gespräch kommen werden, nennen uns nur ihre Vornamen. So sollen sie auch in unserer Geschichte vorkommen. Im Europa des 21. Jahrhunderts ist man offenbar per du. «Sarkozy, den ich eigentlich verabscheue, hat einmal etwas Kluges gesagt», scherzt Antoine. «‹Wenn ihr Frankreich nicht liebt, dann geht!› Endlich hat er mal recht, dachte ich, packte meine Sachen und ging.»
Was die Flüchtlingspolitik von Barcelona auszeichnet, ist ihr Pragmatismus. Migration als Realität, die einen praktischen Umgang erfordert.
Nach einem Abstecher nach Thailand lebte Antoine in Schweden und Portugal, schliesslich landete er in Barcelona. Was in Frankreich geschieht, beschäftigt ihn weiterhin, auch wenn der bekennende Anarchist wenig Hoffnung in die Proteste der Gelbwesten setzt. Seine persönliche Lösung? Land kaufen, aus Containern eine Unterkunft bauen, selbst anpflanzen, was er zum Leben braucht. Absoluter Rückzug. Vielleicht ist auch das ein Ausweg aus der Krise, in der Europa steckt: einfach aus Europa aussteigen.
Es ist kurz nach acht, als der Zug am nächsten Morgen die nordspanische Küste entlangrattert. Draussen am Fenster rauschen die Landschaften vorbei: Sanfte Buchten werden auf der französischen Seite abgelöst durch flache Landstriche aus Lagunen und Sümpfen. Wir strecken dem Kondukteur erstmals unsere Interrailtickets entgegen – und fühlen uns in unsere Jugend zurückkatapultiert. So selbstverständlich ist uns die Bewegungsfreiheit inzwischen, dass wir sie kaum wahrnehmen, für uns hält Europa keine Grenzen bereit, zumindest keine physischen. Knapp drei Stunden später erreichen wir Montpellier.
Gelbe Westen, schwarze Wut
«Macron, en prison!», rufen sie. Und: «Macron, démission!» Rund 120 Personen haben sich auf einem Supermarktplatz versammelt, sie tragen Wollsachen oder dunkle Anarchokluft, ein junges Paar hat sein Baby dabei, vorne auf ihren Bauch geschnallt. Einige haben sich vermummt, schwarze Stoffschläuche über den Nasen. Auf den ersten Blick wirkt das hier wie jede andere Demo.
Es ist der «Tag X», der zehnte Tag des Zorns. Wir sind im Zentrum von Montpellier in ein Tram gestiegen und in die Agglo hinausgefahren, weil dort auf Facebook eine Versammlung angekündigt wurde. Ein seltsames Gefühl, nun hier zu sein und Ausschau zu halten nach den Gilets jaunes, die Frankreich seit Wochen bevölkern wie ein Schwarm Bienen, der plötzlich ausgeflogen ist und den niemand hat kommen sehen. Im Tram haben wir uns, ohne es auszusprechen, die gleiche naive Frage gestellt: Wie sie wohl aussehen? Gehören die drei mit Palästinenserschal und Lederhandschuhen im Sitzabteil neben uns dazu?
Tankstellen, Plattenbauten, Hochhäuser. Unser kleiner Protestzug wälzt sich jetzt durch das Aussenquartier Saint-Paul. Ab und zu hupt ein Auto. Jemand schwenkt eine gelbe Weste aus einem Fenster. Die unten rufen jenen oben zu, sie sollten runterkommen, auf die Strasse. Wir reden mit einem jungen Mann. Seine Freunde haben gelacht und sich dann entfernt. Er spricht mit der leicht spöttischen Nachsicht, die jenen eigen ist, die rundherum nur halbseidene Überzeugungen wittern.
Der junge Mann ist misstrauisch geworden. Früher habe er an die repräsentative Demokratie geglaubt. Inzwischen wisse er, dass sie ein Bluff sei. «Man glaubt bloss, dass man Dinge beeinflussen kann.» Aber das System diene immer nur den Reichen und Mächtigen, egal wen man wähle. «Wenn wir mehr Einfluss wollen, müssen wir das System abschaffen.» Mit Macrons «nationalem Dialog» lasse er sich jedenfalls nicht abspeisen. Das sei bloss Zuckerbrot. «Nachher kommt dann wieder die Peitsche.»
Besänftigt ist hier ohnehin niemand, auch Richard nicht, der ein rotes Béret und einen gelben Schal trägt. Er schreitet mit einem Gehstock über die Strasse und sagt Kluges über den Klassenkampf. Dass man sich nicht gegen Ausländer aufhetzen lassen dürfe, nicht auseinanderdividieren im Kampf für soziale Gerechtigkeit. Dass man umverteilen, die Reichen endlich richtig besteuern müsse. Aber der Achtzigjährige sagt auch Dinge, die eine diffuse Ohnmacht zutage treten lassen. Über die Eliten, über die Presse. Es sei fast wie damals mit der sowjetischen «Prawda», meint er im Tram, das uns zurück ins Zentrum bringt.
Mit einem Mann, der von sich sagt, Anhänger des Linkspopulisten Jean-Luc Mélenchon zu sein, diskutiert Richard über Napoleon. Dieser habe den gleichen Fehler gemacht wie alle Herrscher: «Sie schafften das Volk ab.» Als jemand die Internationale anstimmt, fängt das ganze Tram an zu singen. Richards 73-jährige Frau Claudette lächelt uns an. Freundlich, hoffnungsvoll. Bei der letzten Wahl habe sie noch Emmanuel Macron gewählt, um Marine Le Pen zu verhindern, sagt sie, aber inzwischen bereue sie das. «Ob Macron oder der Weihnachtsmann, es wird nicht besser. In der Schweiz funktioniert das doch auch mit der direkten Demokratie», meint Claudette. «Man muss die Leute nur richtig aufklären.»
Tausende spült es aus allen Richtungen auf die Place de la Comédie im Zentrum von Montpellier. Alte Menschen, junge Familien mit kleinen Kindern. Manche tragen Sturmmasken oder Skihelme und Skibrillen. Eine vermummte Truppe hält eine grosse Plastikplane, auf die ein gelber Totenkopf gesprüht ist. «Gilets jaunes, colère noire» steht darauf. Ein Typ mit Motorradhelm trägt ein rotes Schild mit gelbem Freimaurerauge durchs Bild. «Le peuple te regarde» lautet die Aufschrift. Eine Jugendliche hält ein Plakat gegen das Bienensterben hoch. Die Botschaft eines Mädchens neben ihr: «Es gibt keine schlechten Hunde, nur schlechte Herrchen.»
Es ist jetzt immer das gleiche Lied, das sie singen: «Même si Macron ne le veut pas, nous on est là.» Nur noch langsam schiebt sich die Masse vorwärts, wankend, irgendwann staut sie sich vor einer Unterführung. Frankreichflaggen wehen in der Winterluft.
Mehr noch als aus der sozialen Ungerechtigkeit scheint sich die Wut aus dem Gefühl zu speisen, nicht gehört zu werden.
Er gehe erst seit kurzem zu den Demos, um die Gelbwesten zu unterstützen, sagt ein Mann mit fusseligem Bärtchen. 2007 habe er zum letzten Mal gewählt, Ségolène Royal, die Kandidatin der SozialistInnen. Das hier sei ein Protest von Leuten, die die Schnauze voll hätten, weil ihnen kaum etwas zum Leben bleibe. Mit links oder rechts habe das nichts zu tun. Links und rechts, das sei eh längst obsolet geworden, das zumindest habe Macron erkannt. Frankreich müsse wieder «eine richtige Republik» werden, wo man «richtige Politik» machen könne. Die Macht den BürgerInnen! «Nous sommes les rois.» Europa sei sicher einmal nötig gewesen, sagt er, damals, nach dem Zweiten Weltkrieg. Aber die EU und ihre Beamten hätten sich mittlerweile viel zu weit von der Realität der Menschen entfernt. Immer wieder finden sich in der Menge Schilder, auf denen «Frexit» steht.
Die Wut schwillt weiter an. Sie eint alle, die hier marschieren. Und mehr noch als aus der sozialen Ungerechtigkeit scheint sie sich aus dem Gefühl zu speisen, nicht gehört zu werden. Nach dem Tag mit den Gelbwesten werden Fragen bleiben: Worauf wird sich diese Wut fokussieren, die sich bislang gegen ein diffuses Gegenüber richtet? Was kann langfristig aus Unruhen entstehen, deren einziger gemeinsamer Nenner die Forderung nach mehr Volksbeteiligung ist?
Als die Protestierenden die Präfektur erreichen, eskaliert die Lage. Vermummte sind in den Garten des Verwaltungsgebäudes vorgedrungen. Die Polizei versprüht Tränengas, lässt ihre Schlagstöcke niedersausen. Grimmige Routine, nicht nur in Montpellier. Später werden auf Twitter Bilder kursieren, die von Gummigeschossen verursachte Verletzungen dokumentieren. Der intensive Nachmittag endet auf dem Platz vor der Oper. Erneute Eskalation. Menschen rennen wild durcheinander, Tränengasschwaden, jemand schlägt die Scheibe einer Bankfiliale ein. Kurz darauf brennen in den Gassen von Montpellier die Barrikaden.
Zwischentermin: Beim Herrn der Züge
Der TGV in Richtung Norden schiesst so schnell durch Frankreich, dass man die kleinen Veränderungen in der Landschaft gar nicht richtig wahrnehmen kann. Eintönig und öde kommt einem das Land bei dieser Geschwindigkeit vor. Und dann ist man plötzlich weit im Norden. Backsteinhäuser, eine Landschaft so flach wie ein Blatt Papier. Der Zug hält in Douai. Neben dem Bahnhof ein langes Fabrikgebäude. «Hört auf, unsere Industrie zu zerstören», hat jemand an die Wand gepinselt. Unser Ziel ist Valenciennes, eine Stadt im ehemaligen Kohleabbaugebiet. Deindustrialisierte Zone. Hochburg des Rassemblement National, wie der Front National sich neuerdings nennt.
Valenciennes ist ziemlich trostlos. Was man hier spürt, ist noch keine Armut, aber monotone Gleichförmigkeit. Mitten in der Kleinstadt hebt sich ein Gebäude von allen anderen ab: ein riesiger Bau aus Glas, Beton und Kupfer. Vor dem Eingang weht die EU-Flagge, daneben jene der Europäischen Eisenbahnagentur. Wir sind mit dem Direktor verabredet, Dr. Josef Doppelbauer. Uns hat nicht nur sein Name gefallen, sondern auch seine Aufgabe: Doppelbauer und seine Agentur sind dafür verantwortlich, den grenzüberschreitenden Bahnverkehr in Europa zu fördern. Hier also ist vielleicht einer am Werk, der den Traum der europäischen Bewegungsfreiheit hochhält. Der ganz praktisch daran mitwirkt.
Dann sitzen wir Herrn Doppelbauer gegenüber, der früher für den Zughersteller Bombardier tätig war. Neben ihm: sein freundliches Presseteam mit Notizblöcken vor sich. Er zeigt uns Bilder von verschiedenen Kästchen. Punkte und Striche sind darauf zu sehen, kleine Figürchen. Zwischen den Bildern sind fette Striche eingezeichnet. Doppelbauer will mit den Kästchen aufzeigen, was die Aufgabe der Eisenbahnagentur ist: «die technischen und organisatorischen Barrieren zwischen den einzelnen Ländern in Europa abzubauen». Es tönt hübsch, wenn Doppelbauer mit seinem gedehnten österreichischen Akzent «a single European railway area» sagt. Und er sagt auch andere nette Dinge über seine Vision: Der Agentur sei es wichtig, mit der Eisenbahn den europäischen Gedanken zu stärken. «Und wenn wir es schaffen, den Verkehr von der Strasse auf die Schiene zu verlagern, machen wir auch etwas für den Klimaschutz.» Doch je länger man Josef Doppelbauer zuhört, desto klarer wird, wie neoliberal sein europäischer Traum ist.
Herr Doppelbauer, was bedeutet Bewegungsfreiheit für Sie persönlich?
Josef Doppelbauer: Dass ich dort, wo ich hinfahren will, auch tatsächlich hinfahren kann, wann ich will und wie ich will.
Was tut Ihre Agentur, um den Schienenverkehr zu europäisieren?
Wir wollen nicht den Bahnverkehr europäisieren, sondern die Barrieren an den Grenzen abbauen. Es gibt sehr wenige Grenzübergänge, die noch für den Personenverkehr in Betrieb sind. Dazu kommt, dass auf jeder Seite unterschiedliche Regeln gelten – schon für die Zulassung, dann für die Tests, die man machen muss, wenn ein Zug über die Grenze fährt. Ein deutscher Zug, der nach Italien fährt, muss dort die Bremsprobe wiederholen, weil die Italiener den Deutschen nicht trauen. Hinzu kommt, dass die meisten Länder einen nationalen Monopolbetreiber haben.
Und wie wollen Sie die Barrieren abbauen?
Wir arbeiten auf eine einheitliche Gesetzgebung und harmonisierte Regeln hin. Dann macht es in Zukunft keinen Unterschied mehr, ob ich von Olten nach Zürich fahre oder von Olten nach Baden-Baden. Es geht um die Schaffung eines grösseren Eisenbahnraums.
Das würde auch einen grösseren Markt bedeuten. Es geht Ihnen also um die Liberalisierung der Eisenbahn?
Wir haben kein politisches Mandat; unsere Aufgabe ist es, auf technischem Gebiet die Harmonisierung voranzutreiben. Aber daraus ergibt sich natürlich zwangsläufig die Notwendigkeit, den Markt zu liberalisieren. Wenn man die Voraussetzungen einmal geschaffen hat, warum sollten dann die SBB nicht nach Mailand fahren? Warum sollten die irgendwo an der Grenze aufhören, wenn der Verkehr bis Mailand attraktiv ist?
Bei den meisten Menschen kommt die Privatisierung der Bahn nicht gut an. Sie wollen einen starken Service public.
«Privatisierung» finde ich als Begriff nicht präzise. «Marktöffnung» wäre richtiger. Aber es ist durchaus so, dass die Privatisierung von Nebenstrecken zu Steigerungen des Komforts, des Angebots und der Kundenzufriedenheit führt, da gibt es beliebige Beispiele.
Die Gewerkschaften sagen hingegen, dass die Privatisierung zu höheren Preisen und schlechteren Arbeitsbedingungen bei den Bahnmitarbeitern und -mitarbeiterinnen führen könnte.
Zu den Gewerkschaften haben wir ein ausgezeichnetes Verhältnis, einer ihrer Vertreter sitzt sogar in unserem Verwaltungsrat. Sie schätzen uns als Institution, die weiter weg von den nationalen Befindlichkeiten ist. Und einen Aspekt darf man nicht vergessen: Indem wir die Bahn und ihren Marktanteil stärken, schaffen wir auch Arbeitsplätze.
Sie haben den Klimaschutz angesprochen. Das Problem der Bahn ist aber, dass sie im Vergleich zum Fliegen oft viel teurer ist. Was halten Sie davon, Bahnreisen zu subventionieren?
Das Bahnfahren ist ja schon subventioniert. Was ich stark vertrete, sind gleich lange Spiesse. Bei der Luftfahrt ist das Kerosin steuerfrei. In Deutschland muss die Bahn aber als einziger Verkehrsträger, der mit erneuerbaren Energien fährt, auf den Strom Abgaben leisten. Ich finde, man sollte alle Verkehrsträger gleich behandeln.
Dieses Jahr tritt in der EU das «Vierte Eisenbahnpaket» in Kraft. Fünfzehn Jahre nach ihrer Gründung darf die Europäische Eisenbahnagentur dann erstmals selbst Sicherheitslizenzen für grenzüberschreitende Züge vergeben. Die Aufträge werden künftig öffentlich ausgeschrieben und müssen allen Bewerbern aus der EU offenstehen. Maximaler Wettbewerb. Drohen also auf den 70 000 Kilometern Schienennetz der Union bald Zustände wie in Grossbritannien? Nach schweren Unfällen und Pleiten sah dort selbst die konservative Regierung ein, wie fatal die Vollliberalisierung der Eisenbahn in den neunziger Jahren war. Zumindest das Schienennetz wurde rückverstaatlicht, die Züge bleiben in privater Hand. «Die Ticketpreise sind dort etwas hoch», gibt Doppelbauer zu. Aber das liege daran, dass eben nicht zu Ende liberalisiert worden sei. «Die Betreiber erhalten Monopole auf Zeit, es gibt also keine echte Konkurrenz auf den Schienen.»
Herr Doppelbauer begleitet uns vor die Tür und witzelt, wir sollten ihn bei Problemen auf unserer Zugreise anrufen. Das würden wir später am Tag gerne tun: Auf dem Weg nach England stranden wir in Lille. Der junge Mann am Schalter macht sich einen Scherz daraus, «Ebbsfleet» französisch auszusprechen. Dann eröffnet er uns, dass es für den Eurostar keine Tickets mehr in unserer Preisklasse gebe. Also weiter nach Calais, dann mit dem Taxi an den Hafen. Osteuropäische Lastwagenfahrer warten mit uns auf die Fähre, auf deren Bug «Spirit of Britain» steht. Gelangweilt, routiniert. Nach gut einer Stunde Fahrt tauchen am Horizont die weissen Kreidefelsen von Dover auf.
Unter der Käseglocke
Das Eight Bells Pub, benannt nach den Glocken der nahe gelegenen Kirche, liegt mitten in der Fussgängerzone von Dover. Früher war hier mächtig was los, mit den Geschäften und Fabriken, der Kohleindustrie und dem Hafen. Früher waren in den beiden Kasernen Soldaten stationiert, die mit ihren Familien im Ort lebten und an den Wochenenden Bars wie das «Eight Bells» bevölkerten. Inzwischen befindet sich die Stadt am Ärmelkanal im Niedergang.
Irgendwann musste die Kohlemine schliessen, dann zog das Militär ab. Viele Geschäfte stehen nun leer, die Innenstadt wirkt verwaist. Unten am Hafen bieten noch ein paar Läden Angelutensilien feil, doch ob sich dafür genug KäuferInnen finden, ist fraglich. Die berühmten Kreidefelsen ziehen zwar weiterhin die eine oder andere Touristin an. Doch seit der Eurotunnel von Calais unter ihnen hindurchführt, ist der Fährverkehr eingebrochen. Der ehemals bedeutende Hafen hat seine zentrale Rolle verloren.
Dover – einst Bollwerk gegen Napoleon und später gegen die Nazis – ist zur Frontstadt der anderen Art geworden. Diesmal will man die MigrantInnen fernhalten, die über den Ärmelkanal kommen. In Dover haben über sechzig Prozent für einen Ausstieg aus der EU gestimmt.
Für einen Montagabend ist das «Eight Bells» gut besucht, draussen vor der Tür torkeln die ersten Betrunkenen herum. Die Auswahl an Biersorten ist unendlich, die Preise gleich mit Kalorienangaben versehen. Das «Grosse Frühstück» mit 1530 Kalorien kostet 4,99 Pfund, Bohnen auf Toast mit 554 Kalorien 2,25 Pfund. Fish and Chips mit 1205 Kalorien bekommt man für 5,75 Pfund inklusive Getränk, am «Fish Friday» jeweils zum Sonderpreis.
Im Pub läuft der Fernseher, Theresa May hält gerade eine ihrer zahlreichen Reden vor dem Parlament. Soeben hat das Unterhaus ihren Brexit-Deal mit überwältigender Mehrheit abgeschmettert, heute soll sie den Abgeordneten einen Plan B präsentieren. Doch die Ausführungen der Politikerin kümmern hier die wenigsten. «Sie redet und redet und redet. Wer hört da noch zu?», ruft ein älterer Herr an der Bar, bevor er sich das nächste Bier bestellt.
Billy, Mitte siebzig, langjähriger Gewerkschafter und Labour-Wähler, will eigentlich nicht über den Brexit reden. Viel lieber spricht er von der leidvollen Beziehung zu seiner Partei. Als Tony Blair in den neunziger Jahren den «Dritten Weg» einläutete, sei er enttäuscht gewesen. Doch als Blair dann gemeinsam mit George W. Bush in den Irak einmarschierte, hat Billy endgültig mit Labour gebrochen. So wie ihm gehe es vielen, sagt er. Viele BeobachterInnen glauben, die «Leave»-Stimmen der Labour-AnhängerInnen seien ein Widerhall dieser Enttäuschung.
Billys Freund Andy war einer jener Labour-Wähler, die für den Brexit stimmten. Das Leiden an der Partei teilen beide, im Gegensatz zu Billy aber erhofft sich der Hafenarbeiter vom Austritt aus der EU einen Aufschwung. «Es kann nur besser werden», sagt er, während er die nächste Runde ausgibt. Dass sich die Schreckensszenarien aus den Medien bestätigen, bezweifelt er. Für die Gelbwesten, auf die das Gespräch irgendwann kommt, hegt Andy grosse Sympathien. «Dort halten die Arbeiter noch zusammen, stehen auf gegen Ungerechtigkeit. Bei uns sind bloss alle zerstritten.»
Dass die Spaltung bald ein Ende findet, ist unwahrscheinlich. Das ganze Land verharrt in einer Schockstarre, wie unter einer gewaltigen Käseglocke, die alles umschliesst und keine Geräusche nach aussen dringen lässt.
Sollte Grossbritannien ungeordnet aus der EU aussteigen, werden die Konsequenzen gravierend sein, nicht zuletzt für den Hafen von Dover. Keiner weiss das besser als John Shirley. Penibel genau hat er berechnet, was der sogenannte harte Brexit täglich kosten wird. Inzwischen ist seine Meinung nicht nur bei den Medien gefragt, sondern auch in Westminster.
Freundlich grinsend öffnet Shirley am Tag nach dem Pubbesuch die dunkelgrüne Tür zu seinem Büro. Neben der Aufschrift «Station Master» prangt eine gelbe Plakette, auf der «Sarajevo» steht. Hinter der Tür verbirgt sich eine wahre Schatzsammlung. Von der Decke baumelt ein Plüschkakadu, auf einem Holztablett schläft eine ausgestopfte Katze, das Regal beim Eingang ziert ein Lenin-Wimpel. An den Wänden stapeln sich Ordner, Akten, Dokumente, überall liegen Souvenirs und Kleinigkeiten herum. In einer Ecke hängt noch der Originalfahrplan des Kentish Express, der hier einst durchfuhr. Auch Bürohund Winifred freut sich sichtlich über den Besuch.
Bis in die 1920er Jahre hielten hier die Züge auf dem Weg ins Landesinnere, heute beherbergen die Räumlichkeiten Shirleys Speditionsfirma, die so etwas wie eine Reiseagentur für Waren ist. Shirley und seine beiden Mitarbeiterinnen organisieren Papiere und Lastwagen für den Gütertransport, überwachen die Verladung und hängen sich ans Telefon, wenn die Fracht an irgendeiner Grenze stecken bleibt. «Mein Job ist es, Kommunikationsprobleme aller Art zu lösen», sagt Shirley.
John Shirley rechnet
Angefangen hat alles mit Hilfslieferungen der Uno während der Balkankriege in den neunziger Jahren. Später sorgte Shirley auch schon mal dafür, dass die Requisiten von «Game of Thrones» ihren Weg ans Set in Kroatien fanden. Weil er seit Jahren mit den Balkanländern arbeitet, kennt Shirley alle Einzelheiten des Handels über die EU-Aussengrenzen. Er weiss also, was auf ihn zukommt, sollte wenige Meter von seinem Büro entfernt bald eine solche Aussengrenze verlaufen. «Ich würde pleitegehen», sagt der wuchtige Mann in dunkler Cordhose gleich zu Beginn. «Das wäre ein absoluter Albtraum.»
Am besten lässt sich das drohende Szenario bei einem Hafenrundgang erklären. Shirley führt uns über das Gelände, vorbei an den Abfertigungsboxen, wo Lkws von ausserhalb der EU – etwa ein Prozent der 10 000 Fahrzeuge, die Dover täglich passieren – kontrolliert werden, hinaus auf den Pier, wo ein paar Fischer ihre Angel ausgeworfen haben, bis sich weit draussen ein umfassender Blick auf den Hafen eröffnet. Hier beginnt man zu begreifen, wie gravierend allein die logistischen Probleme werden könnten. Nur wenige Lastwagen finden auf dem Gelände überhaupt einen Parkplatz, und da Dover von Hügeln umgeben ist, lässt sich der Platz nicht beliebig erweitern.
Wir besichtigen die Zollagentur, ein ehemaliges Hotel, in dem auch schon der iranische Schah logiert haben soll, das seine Glanzzeiten aber längst hinter sich hat. Shirley rechnet vor: Ein Angestellter der Agentur kann seiner Schätzung nach pro Schicht maximal fünfzig Lkws betreuen, insgesamt arbeiten in Dover zurzeit 200 solcher AgentInnen. Müssten auf einmal 10 000 Lastwagen kontrolliert werden, bräuchte man mindestens 8000 Angestellte – sowohl in Dover als auch auf dem Kontinent. Doch allein die Grundausbildung daure mindestens ein Jahr. «Niemand hat die Konsequenzen bedacht», sagt Shirley konsterniert.
Und er rechnet weiter: Allein für den Papierkram würden ohne Zollunion 2,5 Milliarden Euro pro Jahr anfallen. Und dann gäbe es noch die Standgebühr. Kommt es zu Verzögerungen, werden der Transportagentur pro Lkw und Tag 250 Euro verrechnet. Zu Verzögerungen dürfte es bald regelmässig kommen. An der Grenze würden Lebensmittel verrotten, die Unternehmen irgendwann auf andere Länder ausweichen.
«Nach dem politischen Selbstmord wird der wirtschaftliche kommen», ist Shirley überzeugt. Um die Politik zur Einsicht zu bringen, hat er seinem Cousin im Oberhaus einen Brief geschrieben. Darin rechnet er auch ihm die Kosten des Brexit vor.
Der Hafenrundgang neigt sich bereits dem Ende zu, als Shirley grundsätzlich wird. «Ich habe den Zusammenbruch Jugoslawiens hautnah miterlebt, erinnere mich auch noch gut an den Konflikt in Nordirland. Der Zweck der EU war immer Frieden. Wer für ‹Leave› stimmte, hat also für den Krieg gestimmt», sagt er. Shirley, der überzeugte Europäer, weiss aus persönlicher Erfahrung genau, was er an der Bewegungsfreiheit hat. Nicht bloss geschäftlich. Auf dem Weg zum Bahnhof passieren wir Banksys monumentale EU-Fahne, gemalt auf eine Hausfassade. Darauf zu sehen: ein Handwerker, der mit Hammer und Meissel gerade einen Stern aus der Fahne schlägt.
II. Von Jaywick nach Grimma: «Shine on!», ruft ein Spengler im ärmsten Ort Grossbritanniens. EU-Politikerin Gabi Zimmer fordert mehr sozialen Ausgleich. Und in Sachsen wehrt sich «Pudding» gegen Nazis in der Nachbarschaft.
Danny Sloggett steht vor dem «Mermaid Inn» und dreht einen Videoblog. Er hält mit dem Handy auf sich selber. Sloggett ist ein Hüne. Mit seinem orangen Fussballschal und der Fellkapuze könnte er aus einem Trendquartier in East London stammen. Aber Sloggett kommt von hier, aus Jaywick Sands. Vor der Tür des «Mermaid Inn» habe früher immer Sid gesessen und gebackene Kartoffeln verkauft, sagt er in seine Kamera. «Morgens um zwei, wenn der Club zumachte, hat er mir und Butch und den anderen oft eine Kartoffel geschenkt.»
Heute ist Danny Sloggett 43 Jahre alt, und das «Mermaid Inn» ist mit Brettern verrammelt. Wie alle Buden an dieser Strasse, die einmal das Vergnügungszentrum von Jaywick Sands war. Die Snackbar, der Metzger, die Fischbude, die Spielhallen: Alles zu. Sloggett filmt jetzt das Innere des ehemaligen Casinos. Die halbe Decke ist heruntergebrochen, auf dem Boden liegt Schutt, ein altes Sofa steht noch da und das Kassenhäuschen mit der Aufschrift «Change». Das hier ist eine untergegangene Welt.
Jaywick Sands, gerade einmal eine Zugstunde von London entfernt, war einst ein beliebter Ferienort für ArbeiterInnen aus der Grossstadt. Heute gilt die Siedlung am Meer als ärmster Ort von ganz England. Danny Sloggett ist Ende der achtziger Jahre hierhergezogen, da war er elf Jahre alt, und der Niedergang hatte längst begonnen. Bereits während des Zweiten Weltkriegs waren einige BesitzerInnen der einfachen Strandhäuschen ganz hierhergezogen, nachdem sie ihre Häuser im ausgebombten London verloren hatten. In den folgenden Jahrzehnten ging das Tourismusgeschäft immer weiter zurück, weil die BritInnen nun Billigferien in Spanien buchten. Nach Jaywick Sands kamen erst die KapitalismusverliererInnen, dann die Drogen.
Auf seinem Blog postet Danny Sloggett zumeist Banalitäten: Sloggett, wie er mit seiner Bulldogge am Strand entlangspaziert. Sloggett, wie er sein Aquarium reinigt. Sloggett, wie er ein altes Auto verschrottet. Er hat dafür einen eigenen Youtube-Kanal gestartet: «Sloggett Vision». Alle in Jaywick kennen seine Filme. «Shine on!», rufen sie ihm auf der Strasse zu. Der Spruch ist Dannys Markenzeichen, angelehnt an den Song «Shine on You Crazy Diamond» von Pink Floyd. Er sagt ihn ständig, auch in seinen Videos: «Shine on, beautiful beach», «Shine on, fish tank», «Shine on, Jaywick».
In Wahrheit ist Jaywick so heruntergekommen, dass man abends, zurück im Hotel in Clacton, das noch immer an die Zeiten erinnert, als das hier ein mondäner Badeort war, kurz glauben wird, nur geträumt zu haben. Die ehemaligen Strandbungalows reihen sich wie Spielzeughäuschen aneinander, viele haben nur ein Zimmer. Oft wohnen trotzdem ganze Familien darin. In einem Vorgarten verrostet ein Berg aus Spielgeräten. Wie in einer südamerikanischen Favela durchzieht ein Mosaik aus schnurgeraden Strässchen die Siedlung, nur einzelne Häuschen sind herausgeputzt, mit Rasen und Gartendekor.
Sloggett führt so überdreht durch den Ort, als wäre er auf Speed. Allen, die er trifft, schleudert er Wortsalven entgegen, einige klemmt er sich für eine Motivationsrede unter den Arm. Doch man muss nicht viel Zeit mit ihm verbringen, um zu realisieren, dass ihn etwas anderes antreibt: ein gebrochenes Herz, das den Ort seiner Kindheit nicht loslassen kann. «Ich will Jaywick wieder zu dem Baderesort machen, das es einmal war», sagt er. Und weil er weiss, wie fern dieser Traum ist, hat er sich darauf verlegt, Jaywick zumindest nicht aufzugeben. Einmal im Monat veranstaltet er in einer Kirche den «Jaywick Sands Happy Club», manchmal auch Talentwettbewerbe.
Sloggetts Aufmunterungsmarathon nimmt zuweilen grotesk-traurige Züge an. Immer dann, wenn der Clash mit der Realität zu gross wird. Draussen auf einer Brache treffen wir Scotty, dessen Pullover voller Flecken ist. Scotty ist dick, das Gesicht aufgedunsen. Er wirkt wie der traurigste Junge auf dem Planeten. Als wäre sein eigentliches Ich vergraben unter einer Depression, so sieht Scotty aus – und so spricht er auch. Leise, verlegen. Er spiele im «Happy Club» immer Pingpong, sagt er. «Ich bin süchtig danach.» Überhaupt sei der «Happy Club» sehr wichtig für die Leute in Jaywick. «It puts a smile on their faces, it’s a great night out.»
Zwei Männer auf einem Lader fahren vorbei und rufen uns etwas zu, wir treffen sie kurz darauf in einem schmutzigen kleinen Vorgarten wieder. Der eine hat fast keine Zähne mehr im Mund und streckt uns über die Holzlatten hinweg stolz einen Welpen entgegen, der restliche Hundewurf drängt aus der lottrigen Hütte. In diesem Moment wird klar, was an Jaywick noch verstörender ist als die Armut: die Unbefangenheit, mit der die Menschen einem begegnen. So, als merkten sie gar nicht, wie elend ihre Welt auf Aussenstehende wirkt. Als kennten sie selbst keine andere Welt mehr.
«Make Britain great again»
Jaywick Sands, wo ein Grossteil der Bevölkerung von Sozialhilfe lebt, steht nicht für sich allein. Hier zeigt sich die britische Austeritätspolitik der vergangenen Jahrzehnte bloss besonders drastisch. Die soziale Schere ist im ganzen Land auseinandergegangen; die meisten Menschen, die es am Ende nach Jaywick verschlagen hat, lebten zuvor in den Sozialquartieren der Städte, wo sich die Verelendung unter den Sparmassnahmen immer weiter zuspitzt.
Und für manche ist Jaywick kein Abstieg, sondern eine Zuflucht. Für Nicola und ihren Mann Alex etwa. Wir treffen sie in der kleinen Kirche, die an diesem Wintertag voller Menschen ist. Es ist «Winter Warmers», warme Kleider und andere Textilien werden an Bedürftige verschenkt.
Nicola wirkt wie eine lebenstüchtige Frau. Blond, etwas rundlich, sehr lebendig. Sie und Alex sind aus Birmingham hergezogen, weil sie auf Facebook Danny Sloggetts Videos gesehen haben. Inzwischen wünscht sich die 43-Jährige, auch die Kinder samt den sechs EnkelInnen könnten alle hier leben. Denn in Jaywick gebe es wenigstens noch so etwas wie Werte. «Hier ist es ein bisschen wie in den siebziger Jahren, man hilft sich gegenseitig, ist nicht auf sich allein gestellt», sagt sie. Alex findet das auch. So sei England früher mal gewesen, sagt er, eine traditionelle Community.
In Jaywick haben rund siebzig Prozent für den Brexit gestimmt. Alex sagt, er sei nicht an die Urne gegangen. Aber er hat die Partei gewechselt. Früher wählte er Labour. Bis Tony Blair kam und ihn – wie schon Gewerkschafter Billy und Hafenarbeiter Andy in Dover – nachhaltig enttäuschte. «Er war schlimmer als die Tories», sagt Alex. «Labour hat so getan, als wären sie auf unserer Seite. Bei den Konservativen weisst du zumindest, was du kriegst. Tradition, die Queen.» Nicht dass sich Alex von den Konservativen Unterstützung versprechen würde. Alle hätten schliesslich die gleiche Agenda: «Sie wollen uns aus der Gesellschaft drängen.»
Aber das Dogma der Selbstverantwortung scheint ihm inzwischen doch verlässlicher als jedes Versprechen. Man müsse sich selber regieren, sagt er. «Ich bin lieber arm und frei als das Gegenteil.» Um uns herum hat sich ein Grüppchen gebildet. Alle finden, dass Jaywick zumindest besser als die Alternativen sei. «Wenn sie uns bloss etwas Infrastruktur bereitstellen würden», sagt Nicola. «Ganz grundlegende Dinge, wir haben ja nicht mal Toiletten am Strand. Und manche Leute haben keine Heizung.»
Sloggett führt so überdreht durch den Ort, als wäre er auf Speed. Einige, die er trifft, klemmt er sich für eine Motivationsrede unter den Arm.
Die Eldo Bar ist die letzte Bar, die in Jaywick noch existiert. Am Nachmittag betrinken sich hier ein paar Männer. Danny Sloggett zitiert wieder einmal Pink Floyd. «We are lost souls in a fish bowl», sagt er lakonisch. Jimmy, der für eine Zigarette nach draussen wankt, ruft uns zu: «Sie sollen uns bloss in Ruhe lassen!» Paul, ein zurückhaltender Zeitgenosse, sagt leise, dass er sich von den Politikern nicht verwirren lassen werde. «Die wollen doch gar nicht raus», sagt er. «Deshalb veranstalten sie dieses ganze Durcheinander. Aber wir haben abgestimmt, und auch wenn das Resultat knapp war: So ist die Demokratie. Sollte es eine zweite Abstimmung geben, kommt es zu Ausschreitungen.»
Sloggett, der sein Geld als Spengler verdient, war nicht abstimmen, weil Politik nicht zu seinen Gewohnheiten gehört. Könnte er noch einmal entscheiden, würde er «Leave» ankreuzen. Es ist eine diffuse Nostalgie, die ihn zu dieser Überzeugung gebracht hat, gepaart mit den Versprechen der Brexit-BefürworterInnen. «Wir wollen unser Land zurück», sagt er. Früher sei England ein grossartiger Ort gewesen. «Es gab Punk und Oasis und Blur, und in Jaywick gab es Gelächter und Musik. Und heute bekommen wir all den Shit, während andere den Spass haben.» Sloggett glaubt noch immer den Brexiteers, die über die Höhe der EU-Zahlungen gelogen hatten. Das ganze Geld, das an die EU gehe und an die Migranten: Die Regierung solle es besser für die eigenen Leute ausgeben. «Raus aus der EU, eine grosse Mauer aufziehen – und shine on! Make Britain great again!» Die Reichen hätten vielleicht Angst vor dem Brexit, aber die Armen hätten eh nichts zu verlieren.
Im Auto dreht Sloggett die Beatles auf: «Hey, you’ve got to hide your love away.»
Es ist noch dunkel, als wir Jaywick am nächsten Tag verlassen. Unser Ziel: Brüssel, das Zentrum der EU, Symbol für etwas, das nicht nur Leute wie Danny Sloggett verabscheuen. Weil Grossbritannien nicht vollwertiges Mitglied des Schengenraums ist, bilden sich bei den Kontrollen vor dem Eurostar lange Schlangen wie am Flughafen. EU-BürgerInnen links, alle anderen rechts. Um die Schranke zu passieren, muss man seinen Pass von einer Maschine scannen lassen. Smarte Grenzen. Während der Zug vierzig Meter unter dem Ärmelkanal durchrast, fragen wir uns, was die Zukunft für Grossbritannien bereithält.
Zwischentermin: Im EU-Parlament
Im Brüsseler EU-Quartier residieren Linke und Rechtsextreme im gleichen Gebäude. Ein paar Stockwerke des modernen Glasbaus gehören der GUE/NGL-Parlamentsfraktion, einem Zusammenschluss linker und grüner Parteien, die restlichen Flure bevölkern ParlamentarierInnen der AfD oder der Schwedendemokraten. Gabi Zimmer, Fraktionsvorsitzende der Linken, tritt zur Wahl im Mai nicht mehr an. An den Wänden ihres Eckbüros hängen Demoaufrufe und kämpferische Plakate, vor dem Fenster protestieren KurdInnen lautstark für die Freilassung ihres Anführers Abdullah Öcalan. «Heute Morgen waren mehr als 20 000 Jugendliche zum Klimastreik hier», sagt die 63-Jährige gut gelaunt.
Frau Zimmer, wir kommen gerade aus Jaywick Sands, wo die wenigsten Menschen noch etwas von der EU erwarten. Was würden Sie als linke EU-Parlamentarierin diesen Leuten sagen?
Gabi Zimmer: Die Frage ist, ob die EU den ökonomischen Niedergang und die sozialen Probleme in diesen Regionen verursacht – oder ob diese nicht eher die Folge von Fehlentwicklungen nationaler Politik sind. Gerade in Grossbritannien resultiert die Situation noch aus Thatcher-Zeiten. Ich glaube, es haben wirklich alle versagt: Grossbritannien selbst wie auch die EU. Die Erwartungshaltung der Konzerne an die EU ist, dass sie ihnen auf dem Weltmarkt Wettbewerbsvorteile bringt. Um den Konzernen entgegenzukommen, hat man bewusst ignoriert, dass es für viele ums Überleben geht. Ich kann den Leuten in den ärmsten Regionen nicht vorwerfen, dass sie für den Austritt gestimmt haben.
Was hat die EU in den letzten Jahren dafür getan, dass Europa sozialer wird? Was wäre denn die dringlichste Massnahme?
EU-weite Mindestlöhne. Bis heute lassen die EU-Verträge das zwar nicht zu. Aber immerhin haben wir dafür schon Mehrheiten im Parlament. Ansonsten dominiert oft das Denken, dies sei ein Eingriff in die nationale Sozialpolitik. Wir müssen aber begreifen, dass wir die Forderungen, die wir auf EU-Ebene stellen, auch in den Mitgliedsländern durchsetzen müssen. Man muss den Leuten klarmachen, dass es in ihrem eigenen Interesse ist, wenn es auch dem Nachbarn gut geht.
Viele scheinen nicht zu spüren, dass auf europäischer Ebene für eine sozialere Union gekämpft wird. Das zeigen ja Proteste wie jene der Gilets jaunes.
In Ostdeutschland, wo ich herkomme, ist diese Diskussion noch stärker ausgeprägt. Da brauchen Sie schon ganz konkrete Beispiele, ansonsten glauben Ihnen die Leute nicht mehr. Die haben ja immer wieder erlebt, dass sie die Gelackmeierten sind. Bei den Gilets jaunes finden sich sehr viele Menschen mit unterschiedlichsten Beweggründen zusammen, weil sie die Nase voll haben.
Wut als grösster gemeinsamer Nenner …
Ja, darüber, dass man sie über Jahrzehnte ignoriert hat. Seit Ewigkeiten reden sie davon, dass es in ihrer Region so nicht weitergehen kann: dass man ihnen nicht die Busverbindung wegnehmen kann, die Post schliessen, den letzten Lebensmittelladen oder das Jugendzentrum. Der häufigste Satz, den ich schon aus den neunziger Jahren kenne, ist: «Die machen ja sowieso, was sie wollen.» Dieses Gefühl bricht sich wieder mehr Bahn. Da kann dann jeder auf den Zug aufspringen und irgendwas versprechen.
Viele Protestierende haben klassisch linke Anliegen. Warum erreicht die Linke diese Leute nicht?
Weil grosse Teile der Linken völlig selbstbezogen sind: Sie streiten sich lieber darum, wer die reinere Lehre vertritt. Wir brauchen aber eine neue politische Kultur, was Kooperationen betrifft: Wir müssen einsehen, dass wir nicht alles selbst erfinden müssen und dass nicht alles nur gut ist, wenn es von uns kommt. Das vermisse ich bei vielen Linken. Weil man die Auseinandersetzungen nicht allein gewinnen kann, beschränkt man sich darauf, sich untereinander zu bekämpfen.
Um die Schranke vor dem Eurostar zu passieren, muss man seinen Pass von einer Maschine scannen lassen. Smarte Grenzen.
Wie gestaltet sich die Kooperation im Parlament?
Uns ist gelungen, dass Sozialdemokraten, Grüne und Linke bis hin zu Teilen der Konservativen bereit sind, in existenziellen Fragen mitzumachen. Je nach personeller Zusammensetzung kriegen wir auch mit den Cinque Stelle Mehrheiten hin. Das Zünglein an der Waage sind im Moment aber immer die Liberalen. Wenn sich das nächste Parlament konstituiert, dauert es ein Jahr, bis diese Prozesse wieder in Gang sind. Wo Allianzen möglich sind, stellt sich dann in den ersten Verhandlungen heraus. Meistens lassen sich dann eher in der zweiten Hälfte der Legislatur Mehrheiten für soziale und ökologische Fragen erreichen.
Warum braucht es aus linker Sicht die EU? Auch in der Linkspartei, der Sie angehören, ist diese Frage ja umstritten.
Mit meiner Erfahrung eines zerbrochenen Staates, einer implodierten Gesellschaft, in der auf einmal die Betriebe leer waren, die Leute wegliefen und jene, die nicht weglaufen konnten, ohne Arbeit waren, bin ich vorsichtig, bevor ich rufe, etwas müsse weg. Die EU ist für mich genauso imperialistisch wie die Bundesrepublik Deutschland. Aber ich rufe ja auch nicht, dass die BRD wegmuss. Warum soll ich gegen die EU kämpfen, wenn ich die BRD akzeptiere?
Viele kritisieren, dass die EU undemokratisch sei. Wo orten Sie das grösste Defizit?
Viele Entscheide werden über den Kopf jener Menschen hinweg getroffen, die sie direkt betreffen, vieles ist durch EU-Richtlinien vordefiniert. Es gibt zwar einen Ausschuss der Kommunen und Regionen, der aber nur eine beratende Funktion hat. Es bräuchte ein Mitspracherecht. Ich bin zudem dafür, dass wir die Europäische Bürgerinitiative ausbauen: Eine Petition gegen die Wasserprivatisierung wurde von mehr als 1,2 Millionen Menschen unterschrieben – und dann ist gar nichts passiert. Ein weiterer Punkt ist das Parlament: Es muss das Recht bekommen, Gesetzesinitiativen selber zu entwickeln. Und es muss generell gestärkt werden.
Für Bürgerinitiativen bräuchte es in der Bevölkerung ein höheres Interesse an der EU.
Ich glaube, dass über eine Ausweitung der Rechte auch ein höheres Interesse entstünde. Wenn es um konkrete Fragen geht, interessieren sich die Leute auch. Ich habe oft mit Erstaunen festgestellt, dass die Leute vor Ort zehnmal besser erklären können, wie welche EU-Richtlinie funktioniert. Sie sagen dann ganz konkret, was sie von mir als Parlamentarierin wollen.
Wagen wir eine Prognose: Wo steht die EU in fünf Jahren?
Ich halte es da mit dem französischen Philosophen Étienne Balibar, der sagt: «Wir sind als Linke in einem Dilemma. Wir wissen, die EU ist notwendig, es gibt keine Alternative. Und wir wissen, so wie sie ist, kann sie nicht bleiben.» Nun versuchen Sie mal, in der schwachen Position, in der die Linke im Moment ist, eine Strategie zu entwickeln, um die EU tatsächlich zu verändern! Doch wenn wir das nicht tun, wird sie zusammen mit ihren Mitgliedstaaten untergehen.
Widerstandsnester
Von Gabi Zimmer, die dem proeuropäischen Flügel der deutschen Linkspartei angehört, erhofften wir uns eine Einordnung unserer Erlebnisse in Frankreich und Grossbritannien. Vielleicht auch etwas Hoffnung, dass eine sozialere Union nicht nur ein Traum bleiben muss; dass es auch in Brüssel Personen gibt, die auf diesen Traum hinarbeiten. Zimmers Erfahrungen in ihrer ostdeutschen Heimat haben sie zur Europäerin gemacht. Also reisen wir dorthin. In eine Region, die zwar im Herzen Europas liegt und doch in so vieler Hinsicht an den Rand gedrängt wurde.
Wenn Sachsen einen Farbton hat, ist es Pastell. Viele der hübschen Einfamilienhäuschen in den leer gefegten Kleinstädten erstrahlen in pastellfarbenem Anstrich. Und Sachsen ist Schlösserland. Die Trostlosigkeit können die biederen Pastellfarben und die pompösen Burgen aber auch nicht übertünchen.
Wer an Sachsen denkt, hat schnell Städtenamen im Kopf: Hoyerswerda etwa, Chiffre für die rassistischen Ausschreitungen der neunziger Jahre. Zwickau, wo die rechtsextreme Terrorgruppe NSU untertauchte. Dresden mit den Pegida-Demos. Oder Chemnitz, wo im vergangenen Sommer Neonazis durch die Stadt marschierten. Wer an Sachsen denkt, denkt auch daran, dass sich die Wende zwar bald zum 30. Mal jährt, die Geister der Vergangenheit aber noch lange nicht verschwunden sind.
Die Trostlosigkeit in Sachsen können auch die biederen Pastellfarben und die pompösen Burgen nicht übertünchen.
Der Zusammenbruch der DDR habe eine implodierte Gesellschaft hinterlassen, hatte uns Gabi Zimmer in Brüssel gesagt. Wo plötzlich ein Vakuum entsteht, wird vieles möglich, Euphorie und Hoffnungslosigkeit, Ausnahmezustand oder Stillstand. Vielleicht alles zusammen. Was wir in Sachsen zu finden hoffen, ist Widerstand.
Tobias Burdukat, der sich selbst seit der Schulzeit «Pudding» nennt und auch von allen so genannt wird, sitzt im einzigen beheizten Raum einer alten Fabrik am Stadtrand von Grimma. Der Qualm seiner selbstgedrehten Zigaretten erfüllt den Raum. Draussen liegt Schnee. Es ist kalt in Sachsen. Früher wurde hier Rohware für Produkte aus Spitzen hergestellt, zwischendurch diente die Fabrik als Waffenlager, dann musste der Betrieb eingestellt werden. Irgendwann wurde Burdukat auf den hellen Backsteinkomplex mit dem riesigen Gartengrundstück aufmerksam.
Der G8-Gipfel in Heiligendamm 2007, langjähriger Referenzpunkt der deutschen Linken, politisierte auch ihn. «Ich merkte, dass es zu einfach ist, in der Stadt utopische Gesellschaftsentwürfe zu leben», sagt Burdukat. «Die Nazis gehen ja nicht weg.» Nicht weit vom links geprägten Leipzig ist Grimma eine Hochburg der rechtsextremen Szene. Dunkeldeutschland. Burdukat, Jahrgang 1983, übernahm nach dem Studium die Leitung eines kirchlich betriebenen Jugendzentrums. Was ihm vorschwebte, liess sich in den starren Strukturen aber nicht umsetzen. Und während sich Freundinnen und Kollegen in die städtischen Utopien oder ins Private flüchteten, sich das Fehlen einer ganzen Generation auf dem Land manifestierte, rief Tobias Burdukat das «Dorf der Jugend» ins Leben.
In seinem Büro spricht Burdukat über das utopische Potenzial der Jugend. «Jugendkulturen entstehen einfach, sie können nicht gesteuert werden. Heute jedoch wird immer alles ausdifferenziert, die Ideale der Jugendlichen werden völlig verwaschen. So geht das Revoluzzermoment völlig verloren.» Mit dem «Dorf der Jugend» will er dem entgegenwirken, zusammen mit den Jugendlichen selbst Angebote schaffen, die in der leer gefegten Kleinstadt ansonsten fehlen. «Ich will, dass kein junger Mensch solche Erfahrungen machen muss wie ich in meiner Jugend.»
Als Burdukat in den neunziger Jahren aufwuchs, waren die meisten in seiner Klasse Nazis. Konflikte trug man auf den Dorffesten aus. Wer keine Glatze hatte und keine Nazimusik hörte, wurde verprügelt. Burdukat rappelte sich auf, ging wieder an die Feiern, wurde wieder verprügelt. «Irgendwann gibt es einen ‹point of no return›.» Heute meide er dunkle Gegenden, selbst in Leipzig.
Im «Dorf der Jugend» am Stadtrand von Grimma gibt es einen Skatepark und eine Feuerstelle, einen Container, aus dem im Sommer Getränke an PassantInnen verkauft werden, und eine Halle, in der Konzerte stattfinden. «Die Jugendlichen hängen auf der Strasse rum, keiner kümmert sich», sagt Burdukat. Die Jugendarbeit würde dann von Identitären und Nazis übernommen. Das Zentrum ist auch ein Projekt gegen Rechts.
Was Burdukat mit den Jugendlichen aufgebaut hat, ist nicht nur ein Ort des Widerstands, sondern auch ein Schutzraum für jene, die nicht Teil des Mainstreams sind. Gern gesehen ist dieser Ort nicht. «Ich werde ständig an meiner Arbeit gehindert», sagt Burdukat und zeigt einen Brief der Behörden. Antrag auf Förderung: abgelehnt. Auch in den Schulen werde davor gewarnt, das «Dorf der Jugend» zu besuchen. In Grimma, da ist der Mainstream eben rechts.
Fahrt durch Dunkeldeutschland
Je länger das Gespräch dauert, desto mehr legt sich Traurigkeit über den Raum. Burdukat, der sich eben noch über jene ausgelassen hat, die es sich in den linken Blasen bequem machten, wirkt plötzlich müde. Das Projekt sei auch eine Selbsttherapie, gibt er zu.
Viele, die geblieben sind, waren irgendwann ausgebrannt. Sind die Strukturen des Widerstands einmal zerstört, kann sich die Rechte umso leichter ausbreiten. Inzwischen überlegt sich auch Tobias Burdukat wegzugehen. Er fühle sich einsam, sagt er. «Ich allein mit den Jugendlichen: Das ist alles bissl strange.» Dieses Jahr wird in drei von sechs ostdeutschen Bundesländern gewählt, in Sachsen könnte die AfD in die Landesregierung einziehen. «Wenn das passiert, weiss ich ohnehin nicht, ob ich hierbleiben kann.»
Johanna Bahr, die wir in einem Leipziger Innenstadtcafé treffen, war von Anfang an im Kernteam von Burdukats Jugendzentrum. Die Neunzehnjährige, die gerade zum Studieren in die Stadt gezogen ist, erzählt von Schulhofrealitäten, die erschaudern lassen: Hitlergrüsse auf dem Pausenplatz, antisemitische Beschimpfungen. «Man kann heute leichter gegen die Erwachsenen rebellieren, wenn man rechts ist», glaubt sie.
Bahr erzählt aber auch davon, wie das «Dorf der Jugend» mit seinen Konzerten und Lesungen dabei hilft, auf die lokale rechte Szene aufmerksam zu machen. Auch wenn es schwer sei, Leute ausserhalb des erweiterten Freundeskreises zu erreichen. Und sie erzählt davon, wie der «Flüchtlingssommer» sie politisiert und in ihrem Engagement bestärkt habe. Manchmal, sagt sie, fühle sie sich hilflos. Doch sie hofft, dass sich weiterhin genügend Leute finden, um dagegenzuhalten.
Mit einem Knall ist mit der Wiedervereinigung die DDR-Welt verschwunden. Und damit auch das antifaschistische Selbstverständnis eines Landes, in dem es offiziell keinen Rassismus gab. Je mehr sich die Identitäten verloren, desto schneller kam gerade auf dem Land Hässliches zum Vorschein. Was revolutionär begann, verkehrte sich ins Gegenteil. Nach den Verlusterfahrungen der Wende rappelten sich viele irgendwie wieder auf. Dann kam die Finanzkrise. Die Teilung, die in den Sonntagsreden der PolitikerInnen längst überwunden scheint, sie dauert offenbar auch in den Köpfen jener fort, die deutlich später geboren sind.
«Siehst du dich selbst als Ostdeutsche oder als Deutsche?», fragen wir Johanna.
«Eher als Ossi. Viele Jugendliche hier definieren sich so.»
Wo Sachsen nicht pastellfarben ist, ist es weiss. Schnee bedeckt die hügeligen Landschaften, als wir nach dem Besuch der ehemaligen Spitzenfabrik mit unserem Mietauto übers Land fahren. Das Radio spielt «Hits von den Achtzigern bis heute» in Dauerschleife. Backstreet Boys und Klassiker des New Wave. Viel besser würde Rio Reiser passen.
Zauberland ist abgebrannt
Und brennt noch
Irgendwo
Zauberland ist abgebrannt
Und brennt noch
Lichterloh
Kurve um Kurve nimmt die Trostlosigkeit zu, wird Pastell zu Grau. Kurve um Kurve erscheinen die Freiräume kleiner, Dunkeldeutschland immer dunkler.
In Döbeln, nicht mehr weit von Dresden, finden wir ein zweites Widerstandsnest: das Kulturzentrum Treibhaus, das seit zwanzig Jahren Anlaufpunkt für jene ist, die nicht mit dem rechten Strom schwimmen wollen. Eigentlich wollen wir hier nur schnell einen Kaffee trinken, dann kommen wir mit Stephan Conrad ins Gespräch, der wie Tobias Burdukat Sozialarbeiter ist und heute hinter dem Tresen steht. Auch Conrad erzählt davon, wie der NPD-Stadtrat Spielplätze sauber macht. Rechtsradikale Communityarbeit. Auch er berichtet, wie der Verein hinter dem «Treibhaus» jedes Jahr aufs Neue um Gelder bangen muss. Auch er spricht von jenen, die es irgendwann hier nicht mehr ausgehalten haben und gegangen sind. Wie Burdukat in Grimma ist Conrad in Döbeln geblieben.
Während wir uns unterhalten, sind ein paar Geflüchtete hereingekommen, zielstrebig schreiten die Jugendlichen an uns vorbei zum Tischfussballkasten. Auch für sie ist das «Treibhaus» ein Schutzraum. Die Zukunft des Zentrums sei einmal mehr ungewiss, erzählt Conrad. Er hat Angst, dass die Gelder endgültig gestrichen werden, sollte die AfD bei der nächsten Wahl stärkste Kraft werden. Angst, dass Döbeln seinen Schutzraum verliert.
III. Von Prag nach Sopron: Ein Gewerkschafter lädt zur osteuropäischen Seelenkunde. Der Dichter Adam Zagajewski will nicht nur Blumen betrachten. Und auf einem Feld in Sopron wird an ein Picknick für Europa erinnert.
Nummer 358 kennt kein Erbarmen. Erst schmunzeln wir noch darüber, wie akribisch er und sein junger Kollege nach der tschechischen Grenze unsere Interrailtickets studieren. Das Lachen vergeht uns, als der Bahnbeamte sechzig Euro verlangt und eine Quittung aus seiner kleinen Maschine rattert. «Fraud» steht darauf, Betrug.
Unsere Tickets steckt sich der Kondukteur selbstzufrieden in die Tasche. «Nicht mehr gültig», sagt er. «Hier», er deutet mit dem Finger auf die Tabelle, in der man die Reisedaten eintragen muss. Wir hatten beide an der gleichen Stelle aus einer Drei eine Vier gemacht – keine komplizierte Sache, sie hat mit der Benutzung des Nachtzugs zu tun. Nummer 358 aber will keine Erklärungen hören. Wutschnaubend hält er stattdessen am Ende eines langen Disputs seine Dienstmarke in die Handykamera. Da hätte wohl auch ein Anruf bei Dr. Doppelbauer nichts genützt.
Die freie Fahrt endet also in Prag. Wir stranden im Hotel Olsanka, einem Ungetüm aus Sowjetzeiten, ausserhalb des Prager Zentrums an einer nichtssagenden Kreuzung. Kein schlechter Ort, um über den Osten nachzudenken.
Bevor uns Nummer 358 die Laune verdarb, waren wir dabei gewesen, uns einen Überblick zu verschaffen: über das «Grossexperiment kontinentalen Ausmasses», wie es der Historiker Philipp Ther in seinem Buch «Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent» nennt, das in den letzten Tagen zu unserer Reiselektüre gehörte. Darin zeichnet er nach, wie die ehemaligen Ostblockstaaten nach der Wende auf den «funkelnden Expresszug» namens Neoliberalismus gesetzt wurden.
Patin für die umfassenden Privatisierungen und andere Radikalreformen in Ländern wie Polen habe Margaret Thatcher gestanden, die bereits im Grossbritannien der siebziger Jahre vorgemacht hatte, was Austeritätspolitik bedeute, schreibt Ther. Die Folgen von Thatchers Politik hatten wir gerade in Jaywick gesehen.
Im «Olsanka» findet in diesen Tagen ein Gewerkschaftskongress der Visegrad-Staaten Polen, Ungarn, Tschechien und Slowakei statt. Wir sind hier, um Adam Rogalewski aus Warschau zu treffen, der früher in Zürich für die Unia polnische ArbeiterInnen organisierte. Heute steht er der internationalen Sektion des polnischen Gewerkschaftsbunds vor. Rogalewski hat nicht viel Zeit, streckt nur ab und zu vertröstend den Kopf in die Bar. Die Stunde, die der 34-Jährige dann schliesslich an unserem Tisch verbringt, wird zum Schnelldurchlauf in osteuropäischer Seelenkunde. Seine Erzählung handelt von falschen Versprechen, Kränkungen und Identitätskrisen.
«Vor der Wende hatten wir eine riesige Industrie», meint Rogalewski. «Dann sagte man uns, mit der Liberalisierung und Privatisierung werde alles super. Aber wir haben einen hohen Preis gezahlt.» Er glaubt, das sei der Nährboden für den Rechtspopulismus im Osten. «Wir sind seit zwanzig Jahren der Juniorpartner des Westens. Der kleine Bruder, der alles schlechter macht und dankbar sein soll.» Rogalewski spricht von Stolz. Zwischen dem Fall des Eisernen Vorhangs und dem Beitritt Polens zur EU habe das Land keine eigene Identität entwickeln können, «und in diese Bresche springen jetzt die Nationalisten».
Der Gewerkschafter sieht nur einen Weg aus dem Dilemma: die Bedingungen der osteuropäischen Integration neu zu verhandeln. Für viele Menschen in Polen sei der grösste Gewinn, dass sie auswandern könnten. Gleichzeitig sind Länder wie Polen oder Tschechien, die wirtschaftlich besser dastehen als Nachbarn wie Bulgarien oder die Ukraine, längst selbst zu Anziehungspunkten geworden. Eine endlose Migrationskette.
Rogalewski fordert deshalb die europaweite Harmonisierung von Löhnen und Arbeitsbedingungen. Ein kleiner Erfolg ist für ihn die Verschärfung der sogenannten Entsenderichtlinie, der die EU-Staaten 2017 zustimmten. Sie soll bei den Dienstleistungen einen rechtlichen Rahmen für den Europäischen Binnenmarkt schaffen, zu dem auch die Schweiz gehört: «Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort.» Rogalewski reicht das nicht: Ähnlich wie Gabi Zimmer in Brüssel fordert er internationale Gesamtarbeitsverträge, um die Löhne auch in den osteuropäischen Ländern anzuheben. «Billiglohnländer sind vom Westen gewollt», sagt er. «Europa war immer nur ein Binnenmarkt. Über eine soziale Union diskutiert man nicht.»
Adam Rogalewski kämpft auf verlorenem Posten. «Die Gewerkschaften des Ostens sind wie Dinosaurier», sagt er. «Ein Überbleibsel aus dem Kommunismus, das keinen mehr interessiert.» Die Linke im Allgemeinen? Auch so gut wie versteinert. Mit sozialen Versprechen gewännen im Osten die Rechten. «Es gibt nur die Wahl zwischen Ultraliberalen und Rechtspopulisten. Für uns ist das ein riesiges Problem. Wen sollen wir unterstützen? Soziale Rechte sind wichtig, aber fundamentale Rechte sind noch wichtiger. Es gibt also nur die bessere schlechte Wahl.»
Rogalewski hat in Prag viel von Polen gesprochen, am nächsten Morgen fahren wir selbst hin, nach Krakau. Ein Sitznachbar im privat betriebenen Leo Express ist mit seiner Frau aus den Südafrikaferien zurückgekehrt. Zur Feier des Tages gönnt er sich Wildgulasch und Rotwein. Er freut sich sichtlich über die Konkurrenz im Schienenverkehr: «Ist ja wie im Flugzeug hier.» Der Mann erzählt von seinen Fahrten als Buschauffeur durch Europa, auch in Zürich sei er schon gewesen. Besonders beeindruckt haben ihn die Schnellzüge der Deutschen Bahn. «Wenn ich mit dem Bus neben dem ICE herfahre, brauche ich nur zu blinzeln, und dann ist er auch schon weg. Sind Sie auch schon damit gefahren?», fragt er voller Ehrfurcht.
Im Aufbruch stecken geblieben
Olha Menko ist eine von zwei Millionen. So viele UkrainerInnen leben Schätzungen zufolge derzeit in Polen: die wohl grösste Migrationsbewegung innerhalb Europas. Die UkrainerInnen füllen die Lücken, die in der polnischen Volkswirtschaft mit der Arbeitsmigration in den Westen entstehen. Sie arbeiten in Cafés, in Shops, am Busbahnhof. Manche gründen Start-ups oder unterrichten Sprachen. Olha Menko ist 23 und Journalistin. In einem Café in der Fussgängerzone von Krakau isst sie bedächtig ein grosses Frühstück. Menko lebt seit anderthalb Jahren hier. Sie ist gekommen, weil ihr Freund einen Job bei Shell gefunden hatte. In die Stadt habe sie sich sofort verliebt, sagt sie. Um das zu verstehen, muss man über die Ukraine reden. Dort, sagt Menko, wirke noch immer die Sowjetunion nach. Das Misstrauen zwischen den Leuten sei nicht verschwunden. Der Stress genauso wenig. «Viele sind immer noch im Überlebensmodus, sie leben von Tag zu Tag, können gar nicht perspektivisch denken.»
Olha Menko stammt aus der westukrainischen Stadt Kowel. Sie ist gut ausgebildet, hat Musik, Religion und Journalismus studiert; in Krakau ist sie mit ihrer Arbeitssuche dennoch erst einmal gescheitert. «Anfangs ging ich nicht ohne Handy aufs Klo, weil ich immer mit der Antwort auf eine Bewerbung rechnete», sagt sie, «aber nach ein paar Monaten hab ich das Handy auch mal zu Hause gelassen.» Heute leitet die junge Frau ein Onlineportal für UkrainerInnen in Krakau.
«Es gibt nur die Wahl zwischen Ultraliberalen und Rechtspopulisten», sagt Adam Rogalewski. «Es gibt also nur die bessere schlechte Wahl.»
Ein polnischer Radiosender hat es gegründet, weil immer mehr UkrainerInnen in der Stadt leben. Sie kommen nicht nur wegen des besseren Gehalts. Viele stammen aus dem Kriegsgebiet im Osten des Landes. «Man merkt es ihnen an», sagt Menko. «Sie sind stärker, aber auch härter im Umgang.» Menkos Heimat ist zerrissen, ihre Generation mitten im Aufbruch stecken geblieben. Glaubt sie an das europäische Versprechen? Es sei kompliziert, sagt sie. Mitten in die Hoffnung hinein sei in der Ukraine der Krieg geplatzt. Die Menschen versprächen sich von der EU zwar eine bessere Entwicklung. «Aber gleichzeitig sind viele sehr enttäuscht davon, wie sich Europa in der Ukrainekrise verhalten hat. In meinem Land wächst jetzt eine weitere Generation mit der Erfahrung des Kriegs heran.»
Menko sagt, dass sie verstehen könne, wenn sich manche Leute in der Ukraine nun wieder Russland zuwendeten, dass sie Angst vor Veränderungen hätten. «Viele haben nichts von der Welt gesehen. Aber wenn du immer am gleichen Ort bleibst, bist du leichter zu manipulieren. Dann weisst du nicht, was gut ist und was schlecht. Ob es anderswo besser ist. Dann glaubst du, es sei überall so.»
Zwischentermin: Beim europäischen Dichter
Der Eiserne Vorhang: Adam Zagajewski erinnert sich noch gut, was er bedeutete. Der Lyriker stellte sich im kommunistischen Polen offen gegen die Regierung – und wurde dafür mit einem Publikationsverbot belegt. Später lebte er als Dissident in Paris. Wir sind im Krakauer Buchcafé De Revolutionibus mit dem 73-Jährigen verabredet, einem Treffpunkt für die vielen StudentInnen der Stadt. In Zagajewskis Augen funkelt noch immer der Widerspruchsgeist von damals.
Herr Zagajewski, Sie und andere Autorinnen und Autoren haben das «Manifest europäischer Patrioten» unterschrieben. Was steht auf dem Spiel?
Adam Zagajewski: Europa. Die Einheit. Vielleicht ist sie nur eine Illusion – aber eine lebenserhaltende. Es geht um einen Raum, wo die Zusammenarbeit mehr wiegt als Hass und politische Konflikte. Zu meiner Zeit als Dissident in Polen war Europa ein Traumland für uns. Klar, eine Vision kann nie wirklich erlebt werden. Der Dissidententraum war edler und idealistischer als das, was wir haben. Aber was wir haben, ist nicht schlecht.
Können Sie diesen Traum genauer beschreiben?
Vor der Wende hatten wir das Gefühl, in einer schlechten Version Europas zu leben. In einem Teil des Kontinents, wo man nicht reisen durfte, sich nicht frei äussern konnte und wo es keine Pluralität gab. Über die Schattenseiten des Kapitalismus wollten wir nicht nachdenken. Im Vordergrund stand dieses Land der Freiheit, und dazu gehörte auch eine anständige Existenz im materiellen Sinn. Unser Traum war es, den Eisernen Vorhang abzuschaffen.
An welchem Punkt sehen Sie Europa heute?
Heute erlebe ich die Angst, dass die alten Dämonen zurückkehren. Ich hasse den Nationalismus, er ist stupide und gefährlich. Wie der Kommunismus. Das waren die beiden bösen Seiten des 20. Jahrhunderts.
Was macht für Sie die Idee Europas aus, nebst den Freiheiten, die Sie angesprochen haben? Und braucht es dafür die EU?
An Europa ist für mich besonders, dass es ein kultureller Gedanke ist, mit allen Strömungen und Widersprüchen. Es ist keine einheitliche Idee, es ist kompliziert und dialektisch. Die EU ist für mich ein Instrument, das uns helfen soll, diese komplexe Struktur zu erhalten. Man muss sie ständig reformieren, sie muss lebendig sein. Nicht so versteinert. Ohne die EU wären wir wieder auf Feld eins, wo Kriege möglich sind und schamlose Erpressungen. Und wo radikale Ideologien Platz haben.
Glauben Sie, dass Europa heute noch als Versprechen taugt?
Nicht mehr für so viele Menschen wie früher. Im Osten war die Sehnsucht nach Europa grösser. Und jetzt sind wir auf dem Niveau technischer Erwägungen und politischer Debatten, deshalb ist der Horizont ein wenig verschwunden. Aber wenn die EU einmal so richtig in Gefahr ist, kommt der Traum wahrscheinlich zurück.
Würden Sie sagen, dass Sie ein politischer Dichter sind?
Ich wurde 1945 nach dem Krieg in Lembergs Ruinen hineingeboren, habe noch mit Leuten gelebt, die Spuren des Leidens trugen. Schon als Kind wusste ich, dass das meine Landschaft war. Ich bin geprägt vom Holocaust. Der ist politisch – vielleicht sogar im metaphysischen Sinn. Seine Folgen sind es auch. Man kann keine Partei gegen den Holocaust gründen. Aber ich sehe, was passieren kann, und frage mich, ob die schreckliche Zeit zurückkommen könnte. Deshalb bin ich nicht einfach ein schuldloser Dichter, der nur Blumen beobachtet.
Kann man es sich heute als Intellektueller überhaupt leisten, sich nicht politisch zu äussern?
Das Problem mit den Populisten ist, dass sie einen zwingen, politisch zu sein. Es gibt natürlich keine universellen Regeln, aber ich muss mich äussern. Ich habe zwar kein Millionenpublikum – aber doch einige Leser in verschiedenen Ländern. Und ich will, dass meine Leute wissen, was ich denke. Gerade in diesem Land, das so gespalten ist.
Wie erleben Sie diese Spaltung?
Es ist eine menschliche Katastrophe. Es gab einen wertvollen Moment, der von Solidarität, der Sehnsucht nach Freiheit und der Zusammenarbeit zwischen den sozialen Kräften geprägt war. Aber das ist längst Geschichte. Für die PiS-Regierung ist das Spalten der Gesellschaft Methode. Und sie ist sehr erfolgreich damit. Es gibt Familien, in denen man nicht mehr miteinander spricht. Eines der stärksten Motive ist die Furcht vor Migranten, obwohl wir in Polen gar keine haben. Unser kleiner Führer Kaczinsky sagte einmal, die Flüchtlinge würden Krankheiten und Bakterien bringen – wie aus dem Wörterbuch der Nazis. Es gibt Umfragen, die zeigen, dass die polnische Gesellschaft vor 2015 gegenüber Migration offen war. Dann folgte der Umbruch, und der war künstlich erzeugt.
Wie wirkt sich dieser Umbruch aus?
Die PiS will die Bildung im nationalistischen Sinn umgestalten. Zum Beispiel in Bezug auf die sogenannten verstossenen Soldaten, die Untergrundarmee, die bis in die späten vierziger Jahre gegen den Kommunismus kämpfte. Unter ihnen gab es gute Menschen, die einfach den Kommunismus hassten. Aber es gab eben auch Kleinkriminelle, und einige waren Antisemiten, die Juden getötet haben. Die Regierung verklärt nun alle zu Heiligen. Dasselbe gilt für die Rolle Polens im Zweiten Weltkrieg, die ja sehr kompliziert war. Es gab Helden, die Juden gerettet haben. Aber es gab auch jene, die Juden denunzierten.
Gerade aus Ländern wie Polen oder Ungarn wandern viele gut ausgebildete, regierungskritische Leute aus. Was macht das mit einer Gesellschaft?
Das gilt vielleicht für Ungarn, wo die Macht der Populisten viel verfestigter ist. Hier erlebe ich es umgekehrt: Die schlecht Ausgebildeten gehen. Und es gibt einen Elan der Résistance. Niemand wird verhaftet, die Presse ist frei. Von meinen Freunden ist niemand emigriert, und in Krakau ist es schwer, jemanden zu finden, der die PiS wählt. Die Politik ist hier ein grosses Thema, die Leute wollen teilnehmen, das ist schon ein Erfolg der Demokratie.
Haben Sie das Gefühl, dass der Westen den Osten oft undifferenziert betrachtet?
Ein älterer Schriftstellerkollege erzählte mir, wie er mit Jean-Paul Sartre sprach, als dieser nach Warschau kam. Vor einer Gruppe Schriftsteller sagte Sartre: «Aber bitte, ihr müsst weiter Kommunisten sein! Ihr dürft den Kommunismus nicht wegwerfen, das ist die Zukunft!» Da kam also ein Bourgeois, der in Paris ein gutes Leben hatte, und wollte uns belehren. Ein grosser Teil der damaligen europäischen Linken war für uns lächerlich, weil sie die Misere des Ostens nicht sehen wollten. Doch es gab auch andere. Kurz nach der Wende kam der französische Chansonnier Yves Montand nach Polen, um für die Solidarnosc zu agitieren. Das hat mir gefallen.
Man kann den europäischen Traum als den Traum einer Generation begreifen, die totalitäre Systeme erlebt hat. Wie empfinden Sie es, dass Europa nun wieder aufs Spiel gesetzt wird?
Das ist für mich eine Leichtfertigkeit, eine Frivolität gar. Die Leute handeln aus Unwissenheit. Dabei wäre es so leicht. Es gibt Bücher, Filme. Die Vergangenheit ist keine geheime Wissenschaft. Doch natürlich gibt es auch erfreuliche Ausnahmen. Jugendliche in Polen etwa, die sich mit der jüdischen Vergangenheit beschäftigen.
Vergessen die Leute, was Totalitarismus bedeutet?
Das ist für mich eine schreckliche Einsicht: dass es keine Kontinuität gibt, keine Weisheit, die man durch Leid erobert und die dann weitergegeben wird. Ein britischer Journalist berichtete einmal, wie er nach Berlin gefahren war, um die Geschichte der Stadt zu erforschen. Als er einen Jugendlichen fragte, was er über den Kommunismus denke, antwortete dieser: «Es ist mir peinlich, aber als wir in der Schule darüber sprachen, war ich krank.» Eine gute Vermittlung des Wissens ist unglaublich schwierig. Seit dem Krieg sind über siebzig Jahre vergangen, das sind fast drei Generationen. Man könnte also auch sagen: Bravo, die Menschheit in Europa hat lange gebraucht, um wieder stupid zu werden.
Ohnmacht und Hoffnung
Immer kleiner wird der Bahnhof von Krakau, der Zug kriecht im Schneckentempo davon. Das Paar im Abteil nebenan hat einen Essensvorrat dabei, der für eine Grossfamilie reichen würde. Ob sie wissen, dass es länger gehen könnte? Dann kommt der erste Zwischenhalt: Oswiecim, der polnische Name für Auschwitz. Irgendwo hinter den Bäumen liegt der dunkelste Ort des 20. Jahrhunderts. Auch darauf sollte die Gründung der EU eine Antwort sein.
Nach sechs Stunden, quer durch Tschechien und über die slowakische Grenze, vorbei an grauen Landstrichen und den Schloten ehemaliger Fabriken, erreichen wir Bratislava. Oben auf dem Berg leuchten die Türme der berühmten Burg im Scheinwerferlicht.
Langsam geht unsere Reise zu Ende. Fast drei Wochen waren wir unterwegs, von West nach Ost, quer über diesen europäischen Kontinent im Umbruch. Zuweilen in atemberaubendem Tempo. Als hätten wir versucht, ein Europa einzuholen, das uns entgleitet. Ob wir nun besser verstehen, was die Menschen in der EU bewegt? Vielleicht reicht es schon, dass wir etwas besser begreifen, was auf dem Spiel steht.
Was wir in unseren Begegnungen vielfach spürten, war ein Gefühl der Ohnmacht. Die Ohnmacht jener, die den Versprechen der EU keinen Glauben mehr schenken. Jener, die diesen Versprechen ohnehin nie geglaubt haben. Oder von ihnen ausgeschlossen bleiben. Manche unserer Begegnungen waren aber auch voller Hoffnung. Der Hoffnung jener, für die Europa weit mehr ist als Reisen ohne Visum.
Hier auf der letzten Etappe, im Grenzgebiet zwischen Österreich, Ungarn und der Slowakei, wird noch einmal klar, welche Schönheit dem Projekt Europa eben auch innewohnt. Hier liegt das symbolträchtige letzte Ziel dieser Reise: zwei Orte, an denen die jahrzehntelange Teilung des Kontinents beendet wurde. Und an denen das Versprechen der Bewegungsfreiheit seinen Anfang nahm.
Als wir mit dem kleinen gemieteten Skoda Citigo Bratislava verlassen, versinkt die Szenerie im Nebelmeer. Zum ersten Mal an diesem Tag überqueren wir eine Grenze. Die erste Station: das ungarische Hegyeshalom. Im Frühling 1989 sorgten hier Soldaten und Einheimische dafür, dass der Eiserne Vorhang einen ersten Riss bekam. Für kurze Zeit wurde der Ort zum Mittelpunkt der Welt.
Heute zeugt nicht mehr viel davon, dass hier einmal Geschichte geschrieben wurde. Die Strassen sind voller Schlaglöcher. Und menschenleer. Die Häuser könnten ein bisschen sächsischen Pastellanstrich vertragen. Im Wirtshaus gegenüber dem Bahnhof ist noch nicht viel los. Junge Männer in Jogginghosen trinken Bier und scherzen, die Älteren diskutieren eifrig, ebenfalls mit Bier in der Hand. An den Holzwänden hängen Plaketten mit den Emblemen von Fussballteams, dazwischen Karten, die ungarische Gebietsverluste dokumentieren. Von der klebrigen Tischdecke blicken Wildschweine.
Auf die Frage, ob er sich noch an den Frühling 1989 erinnere, erzählt ein Mittfünfziger von Verwandten, die sich während des Ungarnaufstands im Jahr 1956 davonmachten. «Über dreissig Jahre lang wussten wir nicht, wo sie sind.» Auch über die Zeit vor dem Ende der Sowjetherrschaft spricht er: «Überall warteten Menschen aus der DDR mit ihren Koffern darauf zu fliehen.» Am liebsten redet der Mann aber nicht von der Vergangenheit: «Hier bei uns gibt es praktisch keine Arbeit, doch seit die Grenzen offen sind, kann ich saisonweise in Österreich arbeiten.» Die Mitgliedschaft in der EU habe dem Land gutgetan.
Bevor Ungarn 2007 dem Staatenbund beitrat, war zwischen Hegyeshalom und Nickelsdorf ein bedeutender Grenzübergang. Die Posten von damals stehen noch, und seit im «Flüchtlingssommer» Tausende die Region passierten, wird wieder strenger kontrolliert. Uns nickt der junge österreichische Beamte nur freundlich zu.
Europa ein Denkmal bauen
Nun also das Burgenland. Land der Kreisel. Niemand hat die Leerstellen europäischer Infrastrukturprojekte schöner besungen als Die Goldenen Zitronen: «Österreichische Kreisverkehre. In St. Pölten, in Lindau, in Sopron. In Europa.»
Inzwischen hat sich der Nebel verzogen. Wer über die Grenze fährt, spürt sofort, wie die Atmosphäre leichter wird. Nicht nur, weil die Landschaften weicher werden: Weinreben, so weit das Auge reicht. Auf einem kargen Feld zwischen St. Margarethen und dem ungarischen Sopron schliesslich: der Ort, an dem ein harmloses Picknick den Kontinent veränderte.
Beliebt scheint das weite Feld vor allem bei den HündlerInnen. Umringt von Wiesen und einigen Bäumen stehen Tische und Bänke, man kann sich vorstellen, wie hier im Sommer auch heute noch gepicknickt wird. Tafeln erinnern daran, was hier vor dreissig Jahren geschah. Ausgestellt ist auch ein Stück Originalstacheldraht, im Hintergrund steht noch der Wachturm. Sie erinnern daran, dass die Hürden damals unüberwindbar waren, die Grenze mehr als vierzig Jahre lang hermetisch abgeriegelt.
Für einen Tag im Sommer 1989 sollte sich die Grenze symbolisch während ein paar Stunden öffnen. Das «Paneuropäische Picknick» war angesetzt, eine Feier für die europäische Einheit. Salbungsvolle Reden wurden gehalten, als plötzlich Menschen durch den Übergang nach Österreich stürmten, insgesamt mehr als 600 Personen aus der DDR, die Polizei schaute weg. Eine Zeitenwende. Zwar hatte sie schon vorher begonnen, doch nach diesem Tag im August gab es kein Zurück mehr.
Ein ungarisches Paar, sie Anfang vierzig, er etwas älter, liest sich durch die Erinnerungstafeln. Er erzählt von den Trabis, die damals überall herumstanden. «Dann hörte ich die frohe Kunde in den Nachrichten!» Das Ende des Ostblocks sei toll gewesen, nicht nur für Ungarn. Wie es heute ist? «Schwierig», sagt der Mann, «viel Arbeit, aber wenig Brot.» Seine Frau fügt hinzu: «Die Preise auf dem Markt von Sopron sind wie jene in Österreich, nur verdienen wir die Hälfte.» Optimistisch sind beide. Spätestens in zehn, zwanzig Jahren werde alles besser.
Später sprechen wir auf dem Parkplatz mit zwei älteren Männern, die von der Gedenkstätte zu ihrem Auto eilen. Wilhelm, Jahrgang 1945, stammt aus dem nahe gelegenen Eisenstadt. Auch er erinnert sich noch gut daran, wie die DDR-Flüchtlinge über die Grenze kamen. «Die Österreicher haben die Leute begrüsst und versorgt», erzählt er. Jene, die heute fliehen, würden hingegen kriminalisiert. Wilhelm bedauert das. «Inzwischen kann niemand mehr kommen, weil die Grenzen dicht sind», sagt er.
Die beiden Männer diskutieren über den nahenden Brexit, über Ängste, die von PopulistInnen geschürt werden. In Krakau hatte uns Adam Zagajewski gesagt, dass die Jugend schnell vergesse. Diesen Eindruck hat auch Wilhelm. Man müsse Schulklassen an diesen geschichtsträchtigen Ort führen, er sei genauso wichtig wie die Berliner Mauer. «Sie sollen den Wachturm dahinten genau anschauen und sich dann fragen, ob sie das noch mal wollen.»
Unsere Reise, die an einem Mahnmal für ertrunkene Flüchtlinge begann, geht an einem Denkmal für Bewegungsfreiheit zu Ende. Hier, wo ein tiefer Graben einst den Kontinent entzweite. Wo Europa sich vor dreissig Jahren zum Besseren wandelte.
Auf einer Tafel zum «Paneuropäischen Picknick» ist das Manifest von damals abgedruckt: «Bis zum Ende des 20. Jahrhunderts soll man erreichen, dass Europa zum gemeinsamen Haus der europäischen Völker werde (…). Im Geiste dieser Zukunft möchten wir jedes Jahr (…) ein Treffen organisieren. Dazu erwarten wir all jene, die mit diesem Gestus demonstrieren möchten, dass der Wunsch des kleinen Menschen das freie, friedliche Europa ist.»
Dieser Text ist ursprünglich in der wobei-Beilage der WOZ Nr. 12 vom 21. März 2019 erschienen. Aus Anlass des 40-Jahr-Jubiläums der Wochenzeitung WOZ haben wir unser Archiv nach Perlen durchsucht, die wir erneut veröffentlichen, und das Tag für Tag bis hin zur Jubiläumsausgabe, die am 30. September 2021 erscheint.