Auf allen Kanälen: Bührles Arbeiterinnen

Nr. 35 –

Neue Recherchen belegen Zwangsarbeit in einer Spinnerei des Zürcher Kunsthausmäzens Bührle. Dabei wollte die Kunstkritik doch endlich «raus aus der Schuld-Neurose».

Im Frühsommer 1954 schuftet die achtzehnjährige Elfriede Steiger unfrei und ohne Lohn im sankt-gallischen Dietfurt. Sie ist Zwangsarbeiterin in einer Spinnerei von Emil G. Bührle, der mit Waffenverkäufen im Zweiten Weltkrieg zum reichsten Schweizer geworden war. Ebenfalls im Juni 1954 berichtet Bührle im vierzig Kilometer entfernten Zürich vor erlauchten Kreisen feingeistig «Vom Werden meiner Sammlung». Bührles Vortrag, eine der seltenen Verlautbarungen des Kunstsammlers, wurde zigfach reproduziert. Elfriede Steigers Schicksal ist Thema einer neuen Recherche des «Beobachters». Yves Demuth belegt darin, wie in Bührles Spinnerei junge Frauen aus sogenannt schwierigen Verhältnissen Zwangsarbeit leisten mussten, unter Bedingungen, die freiwillig niemand auf sich nehmen wollte. Rekrutiert wurden sie in enger Zusammenarbeit mit kantonalen Fürsorgebehörden. Ausserhalb der Schichten waren sie eingesperrt im Marienheim des Klosters Ingenbohl, wo sie zu weiterer Arbeit angehalten wurden. Floh eine, wurde sie im «Schweizerischen Polizeianzeiger» gesucht.

Rücksichtsloser Schöngeist

Die diesen jungen Zwangsarbeiterinnen abgequälten Franken haben das riesige Vermögen Bührles kaum signifikant vergrössert. Aber die genaue Recherche wirft neues Licht auf die rücksichtslosen Geschäftspraktiken Bührles, die seine schöngeistigen Fluchten in die Kunst – und die dabei angestrebte gesellschaftliche Anerkennung – begleiten. Sein Vortrag von 1954 endet mit den Worten «Auf Wiedersehen am Heimplatz». Vier Jahre später wurde der von Bührle finanzierte Kunsthaus-Erweiterungsbau am Heimplatz eingeweiht, dazu eine Ausstellung mit «Meisterwerken» aus seiner Sammlung.

Die Geschichte wiederholt sich. Auch 2021 sieht man sich am Heimplatz wieder. Anfang Oktober wird das Kunsthaus Zürich erneut einen Erweiterungsbau feierlich eröffnen, den es so nur dank der Unterstützung und der Bildersammlung der Familie Bührle gibt. Zeitnah zur Eröffnung wurde eine neue Sammlungsgeschichte publiziert, die ästhetische Kriterien der Kunstbetrachtung und -geschichte in den Vordergrund stellt. Die Gefahr sei heute, dass die Schattenseiten des «Schöpfers» der Sammlung all das verdeckten, schreibt Lukas Gloor, Direktor der Bührle-Stiftung.

Die Kunstkritik doppelte bereitwillig nach: Kunst sei frei, auch «ohne Rücksicht auf ihren einstigen Sammler betrachtet zu werden», so die NZZ. Das erstaunt. Immerhin überwog noch 2020 die Erkenntnis: «Es geht um mehr als um Kunst.» Doch schon ein Jahr später will die «NZZ am Sonntag» wieder «Raus aus der Schuld-Neurose!»: Die Vorderseite der Bilder (die Kunst) solle strikt von ihrer Rückseite (Herkunft, Beschaffung) getrennt werden. Zu einem Kinderbild von Edgar Degas fragt die NZZ: «Sind diese Mädchen nun böse, nur weil sie bei Bührle wohnten?»

Auch dumme Fragen verdienen eine Antwort: Nein, die Mädchen von Degas sind nicht «böse», weil die Frauen in Dietfurt ausgebeutet wurden. Aber dass der Erbe des alten Bührle heute nicht einmal den Telefonhörer in die Hand nimmt, wenn der «Beobachter» ihn um eine Stellungnahme zur Zwangsarbeit unter seinem Grossvater bittet, sagt viel über die Arroganz und das anhaltend fehlende Verantwortungsbewusstsein des Clans.

Kultur und Barbarei

Und die öffentliche Hand, mit 88 Millionen Franken Steuergeldern und weiteren Beteiligungen zweitgrösste Geldgeberin des neuen Kunsthauses? Sie hat 2017, quasi in letzter Minute, einen Historikerbericht zu den Waffengeschäften Bührles in Auftrag gegeben, der 2020 publiziert wurde. Die Ergebnisse dieses Berichts sollen im Neubau in einem separaten Dokumentationsraum dargelegt werden, der Kunstgenuss darf also ungestört bleiben. Konfrontiert mit den «Beobachter»-Recherchen teilt das Kunsthaus mit, die Zwangsarbeit sei in diesem Raum kein Thema. Damit ist die historische Dokumentation bereits zur Eröffnung veraltet. Und Kunsthaus und Sammlung Bührle werden wohl auch in Zukunft heimgesucht werden von weiteren Erkenntnissen zu Bührles Verwicklungen, deren Aufarbeitung sie jahrzehntelang verschlampt haben. «Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein.» Diese alte Wahrheit von Walter Benjamin begleitet die Sammlung Bührle und den neuen Kunsttresor am Heimplatz als hartnäckiger Schatten.