Raphael Gross: «Die Standards sind klar nicht erfüllt»
Der Historiker Raphael Gross hat lange gezögert, die Provenienzen der Bührle-Sammlung zu untersuchen. Im Interview erklärt er, warum sein Team der Spur der Besitzer:innen und nicht jener der Werke folgte.
WOZ: Raphael Gross, Sie leben und arbeiten seit vielen Jahren in Deutschland und haben gewissermassen aus der Ferne auf die Debatten rund um die Sammlung Bührle geschaut. Kunsthaus und Stadt Zürich haben sich mit der Eröffnung des Chipperfield-Baus und der stark kritisierten Präsentation der Sammlung des Waffenhändlers 2021 vor aller Augen ins Elend geritten. Wie haben Sie das wahrgenommen?
Raphael Gross: Ich habe mich nicht so sehr mit der Präsentation der Sammlung beschäftigt. Weil ich die Kritik dazu kannte, habe ich sie mir einmal in der alten Hängung angeschaut. Ich weiss nicht, ob die Hängung das zentrale Problem dieser Sammlung ist.
Unsere Frage zielte auch mehr auf die Kontroversen und wie Sie diese wahrgenommen haben.
Ich glaube, dass mit unserem nun vorliegenden Bericht klar wird, dass diejenigen, die die kritische Vorarbeit geleistet haben, weitgehend richtig lagen. Ich spreche jetzt nur von der Frage der Herkunft dieser Bilder. Die Warnungen – namentlich von Esther Tisa Francini, Anja Heuss und Georg Kreis von der Bergier-Kommission, von Thomas Buomberger und Guido Magnaguagno im «Schwarzbuch Bührle», von Erich Keller in «Das kontaminierte Museum» und vielen weiteren –, dass diese Sammlung im Kunsthaus ein Problem darstelle, haben sich durch unseren Bericht eher bestätigt. Das Thema unserer Untersuchung war aber ein anderes. Wir mussten die Frage beantworten, ob die vorliegende Provenienzforschung der Stiftung Bührle dem heute gängigen Standard genüge, zu dem sich auch das Kunsthaus verpflichtet hat. Und unser Bericht kommt ganz klar zum Schluss, dass das nicht erfüllt wird und es weitere Forschung braucht.
Wie lange mussten Sie überlegen, ob Sie das Mandat der Stadt Zürich und der Kunstgesellschaft annehmen wollten und somit Teil der Kontroverse werden würden?
Es war eine sehr schwierige Entscheidung. Denn wie Sie zu Recht sagen, war das ja ein vollkommen offener Konflikt mit hohen emotionalen Einsätzen. Das ist riskant für einen Wissenschaftler. Ich bin Präsident einer Stiftung und muss auch diese Einrichtung schützen. Ich kann nicht eine Arbeit annehmen, bei der ich schon weiss, dass ich scheitern werde.
Warum sind Sie das Risiko trotzdem eingegangen?
Weil ich es wichtig fand. Vielleicht auch, weil ich aus Zürich komme. Ich bin fünf Minuten vom Kunsthaus entfernt aufgewachsen. Das Thema hat mich mein Leben lang beschäftigt: der Umgang mit dem zentralen Punkt hier, dem Holocaust und der Schweiz. Insofern war mein Interesse stärker als die Bedenken. Wichtig war mir auch, dass ich selber ein Team bilden konnte. Ich musste sicher sein, dass ich die besten Provenienzforscher:innen, die ich kenne, zusammenbekomme. Das ist eine unglaublich diffizile Disziplin. Ich bin selber kein Provenienzforscher und deshalb darauf angewiesen, dass die wissen, wie es geht. Und ich brauchte ein juristisches Team. Ohne juristischen Rat hätte ich das nicht machen können. Fast alle meine Ansprechpartner:innen sind ja Jurist:innen.
Der Beizug der Jurist:innen zeigt die Dimensionen des Falls. Verweist er auch auf das viele Geld, um das es bei diesen Auseinandersetzungen geht?
Ich glaube, dass es vor allem um einen historisch zentralen Punkt geht, um etwas sehr Emotionales aufgrund der verschiedenen historischen Gedächtnisse, die da zusammenkommen. Das ist noch entscheidender als die Frage einzelner Provenienzen. Es ist ein Echoraum, der alles sehr viel grösser macht. In diesem Raum befindet man sich, und dort herrscht ein grosser Druck.
Sie praktizieren in Ihrem Bericht eine radikal personenzentrierte, opferorientierte Provenienzforschung, suchen nach Vorbesitzer:innen der Werke. Warum war dieser Perspektivenwechsel nötig, was rückt dadurch in den Blick?
Eine objektbezogene Provenienzforschung ist limitiert, weil das Objekt zunächst nicht viel hergibt – selbst dann, wenn hinten auf dem Bild ein Name oder zwei draufstehen. Und oft steht da gar nichts. Hier geht es ja gewissermassen um eine neue Disziplin, die nach der Washingtoner Erklärung von 1998 ein ganz neues Anforderungsprofil erhalten hat: Man sucht NS-verfolgungsbedingt entzogene Bilder. Oder genauer: Man erforscht, ob es begründete Hinweise auf einen solchen Hintergrund, also auf Opfer der Verfolgung, gibt. Wenn man personenorientiert vorgeht, schaut man sich andere Quellengruppen an. Dann gucke ich: Wo taucht in den bereits existierenden Datenbanken eine Auffälligkeit oder eine Lücke auf, zu der ich weitere Nachforschungen anstellen kann?
Was ist die Schwierigkeit dieser Herangehensweise?
Wir haben versucht, die Fragen ganz offen anzugehen. Das ist ein Gutachten, kein aktivistisches Projekt. Es geht nicht darum, zu sagen: Eine Seite hat recht, und für die kämpfe ich. Alle Dokumente wurden ernst genommen. Das war unsere Herausforderung in diesem Feld, in dem die meisten jeweils für die eine oder die andere Seite arbeiten. Wenn man etwa für eine Partei tätig ist, die ein Bild restituieren will, ist man immer auch dem Verdacht ausgesetzt, man habe etwas weggelassen, was vielleicht nicht passt. Aber ich glaube auch an das Vetorecht von Quellen. Die müssen ernst genommen werden.
Ihre Quellenforschung hat nun gezeigt: Viele der 205 Bilder im Kunsthaus hatten offenbar jüdische Vorbesitzer:innen, und zwar viel mehr, als bekannt war. Sie haben allein achtzehn bisher völlig unbekannte jüdische Vorbesitzer:innen eruieren können. Hat Sie dieses Ausmass überrascht?
Nein, es hat mich nicht überrascht, weil ich keine Vorannahmen getroffen hatte. Der Begriff «jüdische Vorbesitzer:innen» gefällt mir übrigens nicht; das ist ein technischer, ein juristischer Terminus. Er meint einzig: Wie viele jüdische Sammler:innen besassen zwischen 1933 und 1945 eines dieser Bilder? Alle anderen, vorher oder nachher, gelten nicht als jüdische Vorbesitzer:innen. Es geht vor allem um die Frage, ob es einen Handwechsel zwischen 33 und 45 gab. Darum ist dieser Begriff missverständlich. Wenn Sie aber insgesamt schauen, wie viele Bilder auch ausserhalb dieses Zeitraums jüdische Eigentümer:innen hatten, kommen Sie auf weit über hundert, also weit über die Hälfte aller Bilder im Kunsthaus.
Was steckt hinter dieser Zahl?
Wenn ich sie als Historiker anschaue, ist sie sehr relevant. Sie bedeutet: Mehr als die Hälfte dieser Bilder wurde einst von jüdischen Sammler:innen gekauft, sie haben sich für diese Bilder interessiert. Sie waren Teil ihrer Kultur, und sie haben diese Art der Kunst durch ihre Ankäufe von Werken damals oft noch umstrittener oder unbekannter Künstler:innen aktiv gefördert. Und nun sind die Bilder Teil dieser Bührle-Sammlung. Darum schreibe ich auch am Ende des Berichts: In der Geschichte dieser Sammlung spiegeln sich Bührle, die Schweiz, aber eben auch diese jüdisch-europäische Kulturgeschichte. Das ist das Interessante.
In Ihrem Bericht konstatieren Sie auch, dass in der Provenienzforschung der Bührle-Stiftung die Begriffe «jüdischer Vorbesitz», «Juden», «jüdisch» irritierenderweise kaum auftauchen. Warum nicht?
Dazu kann ich Ihnen nichts sagen, das müssen Sie die Stiftung fragen.
Was war Ihrer Ansicht nach das Hauptinteresse der Bührle-Stiftung und ihrer Provenienzforschung?
Uns schien, dass das Hauptinteresse war, Werk für Werk zu prüfen, um zeigen zu können, dass man es einer Öffentlichkeit präsentieren kann. Darauf war ihre Forschung ausgerichtet.
Wie kann diese Sammlung kritischer beurteilt werden?
Wir empfehlen, dass man das sogenannte Berner Ampelsystem benutzt, wie es das Kunsthaus Zürich seit letztem Jahr in seinem Strategiepapier festlegt. Mit diesem System kommt man zu anderen Resultaten als die Bührle-Stiftung. Wenn Sie die Berner Ampel auf die Bührle-Bilder anwenden, stellt sich bei einigen Werken die Frage nach einer fairen und gerechten Lösung. Das heisst nun nicht, dass das alles Raubgut ist. Aber man muss es nochmals anschauen. Ich jedenfalls würde ohne weitere Forschung nicht ruhig schlafen.
Neben den Bildern im Kunsthaus gibt es noch eine Schattensammlung, etwa 400 weitere Bilder im Privatbesitz der Bührles. Sollten diese nicht auch überprüft werden?
Das hat nichts mit unserem Gutachten zu tun, ausser in einem Punkt: Man kann vermuten, dass diese anderen Bilder in einer ähnlichen Weise wie die gut 200 im Kunsthaus erworben wurden, nämlich zwischen 1936 und 1956. Die Herkunft der Gelder und die Herkunft der Bilder sind hier wie dort teilweise problematisch. Wenn man jetzt weiterforschen würde, käme man wahrscheinlich auf zusätzliche Erkenntnisse, die auch für die Bilder im Kunsthaus relevant wären. Etwa die Frage, welche Gruppen von Werken wo angekauft wurden. Die nicht erforschten privaten Teile der Sammlung können für eine öffentliche Einrichtung, die eine Teilsammlung unter dem Namen Bührle ausstellt, ebenfalls zum Problem werden.
Wissen Sie, wo sich die anderen Bilder der Bührle-Sammlung heute befinden?
Das weiss ich nicht. Wahrscheinlich zum Teil noch bei der Familie. Einiges wurde verkauft. Genau weiss ich es nicht.
Raphael Gross (57) wuchs in Zürich auf und studierte Geschichte, Philosophie und Literatur. Er promovierte zum Thema «Carl Schmitt und die Juden. Eine deutsche Rechtslehre». Von 2006 bis 2015 war er Direktor des Jüdischen Museums in Frankfurt am Main, 2017 wurde er zum Präsidenten der Stiftung Deutsches Historisches Museum in Berlin ernannt.
Kommentare
Kommentar von Robert Cohen
Do., 04.07.2024 - 14:09
Die Berichte von Surber & Co. gehören zum Besten und Wichtigsten, was die WoZ in den vergangenen Jahren gebracht hat.