Neue Bührle-Studie: Die Heimsuchung der verdrängten Provenienzen
Mindestens ein Drittel der Bührle-Bilder im Chipperfield-Bau muss näher untersucht werden – zu diesem Schluss kommt die Untersuchung von Raphael Gross. Ein desaströses Ergebnis für die Stadt Zürich, das Kunsthaus und die Bührle-Stiftung.
Geheimhaltung wurde grossgeschrieben: Über ein Jahr lang schwieg Raphael Gross eisern, gab keine Interviews zu seiner Überprüfung der Kunstsammlung von Emil Georg Bührle. Die Unabhängigkeit des Historikers sollte nicht infrage gestellt werden: Die Auftraggeber:innen der Studie – Stadt und Kanton Zürich sowie die Zürcher Kunstgesellschaft – erhielten seinen Bericht erst zwei Tage vor Veröffentlichung zugestellt. Wie viel auf dem Spiel stand, zeigte auch die juristische Absicherung: Ausser bei seinem wissenschaftlichen Forschungsteam bedankte sich Gross an der öffentlichen Präsentation am letzten Freitag auch bei renommierten Anwaltskanzleien in Deutschland und der Schweiz, die mehr als tausend Stunden ehrenamtliche Arbeit geleistet hätten. Dann stellte er im Zürcher «Filmpodium» vor einer internationalen Medienschar seine Ergebnisse vor. Und die haben es in sich.
Bei 62 der 205 Werke aus der Bührle-Sammlung konnten Gross und sein Team für den Zeitraum von 1933 bis 1945 einen jüdischen Vorbesitz eruieren. Der jeweilige Handwechsel der Bilder dürfte also mutmasslich unter dem Druck der NS-Verfolgung stattgefunden haben. Insgesamt stammen gar 133 Werke und damit fast zwei Drittel der gesamten Bührle-Kollektion von jüdischen Sammler:innen. «Der Holocaust war auch ein Raubmord, der die Kultur der europäischen Juden zu einem grossen Teil auslöschte», schreibt Gross in seinem Bericht. Und an anderer Stelle: «Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden spiegelt sich vielleicht in keiner anderen Sammlung so deutlich wider wie in der von Bührle.»
Existenzielle Zwangslagen
Was das konkret bedeutet, zeigt die Untersuchung anhand von fünf «Tiefenerschliessungen». Eine davon rekonstruiert die Geschichte des jüdischen Sammler:innenehepaars Nothmann, das bei der Machtergreifung der Nazis bereits im Pensionsalter war. Nach 1935 wurden die Nothmanns systematisch enteignet und mit einer «Reichsfluchtsteuer» geschröpft. 1939 flohen sie mit ein paar ihrer Bilder im Gepäck nach London. Diese Bilder mussten sie nach und nach veräussern, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Über Zwischenhändler landeten zwei der Gemälde nach dem Krieg bei Bührle: eine Landschaft von Paul Cézanne, deren Geschichte schon der Historiker Erich Keller dokumentiert hat (siehe WOZ Nr. 49/20), und ein Dahlienbild von Auguste Renoir. Dass Letzteres ebenfalls aus der Sammlung Nothmann stammt, wurde erst durch die vertiefte Überprüfung durch Raphael Gross und sein Team klar.
Die Geschichte zeigt eindringlich das aus «historischer Sicht moralisch Unbefriedigende an der rechtlichen Situation», wie Gross schreibt. Da der Verkauf an Bührle nicht zwischen 1933 und 1945 stattfand und sich die Bilder in diesem Zeitraum im angelsächsischen Kunsthandel befanden, gilt der Erwerb als unproblematisch – sogar gemäss strengen Kategorisierungen. Trotzdem geschah er offensichtlich aus einer existenziellen Zwangslage heraus, die mit der nationalsozialistischen Verfolgung zusammenhing. Im Bericht ist ein Brief abgedruckt, den die einst wohlhabende Martha Nothmann an ein Amt in Berlin schreibt mit der Bitte um Entschädigung, die abgelehnt wurde. Sie starb 1967 völlig verarmt in der Nähe von New York, ihr Mann noch während des Kriegs in London.
Auch für diejenigen europäischen Jüdinnen und Juden, die von der physischen Ermordung verschont blieben, hatte die NS-Verfolgung «massive Auswirkungen auf ihr gesamtes späteres Leben», wie es im Bericht heisst. Was hier ebenfalls sichtbar wird, ist ein grotesker Kulturgütertransfer: Bilder aus dem Besitz einer angesehenen jüdischen Industriellenfamilie, die im Krieg alles verlor, wurden vom Waffenhändler Emil Georg Bührle akquiriert, der durch ebendiesen Vernichtungskrieg und Raubmord zum reichsten Mann der Schweiz wurde.
Plötzliche Kehrtwende
Die Ergebnisse sind in der Summe vernichtend für die hauseigene Provenienzforschung der Bührle-Stiftung. Deren früherer Direktor, Lukas Gloor, hatte die Herkunft sämtlicher Werke der Stiftung nach seinem eigenen Klassifikationsschema als «unproblematisch» eingeordnet, die Begriffe «Juden», «jüdisch» oder «jüdischer Vorbesitz» kamen in seinen ansonsten akribischen Auflistungen der Handänderungen schon gar nicht vor. «Die bisherige Provenienzforschung der Stiftung Bührle ist nicht ausreichend, um den Standards der Zürcher Kunstgesellschaft zu genügen», heisst es dazu im Bericht.
Vor allem aber sind die Resultate desaströs für die Zürcher Politik. Um die Tragweite zu verstehen, muss man in der Geschichte um die Kontroverse der Sammlung einige Jahre zurückblättern. Denn wenn etwas bei der Planung des Erweiterungsbaus für das Kunsthaus Zürich, der explizit für die Bührle-Sammlung als Leihgabe errichtet wurde, nicht infrage gestellt werden durfte, dann waren das die Provenienzen der Bilder.
Zwar galten diese unter Kritiker:innen schon lange als verdächtig. Doch beim Zürcher Stadtrat und bei der für die Kultur verantwortlichen Stadtpräsidentin Corine Mauch stiessen diese damit auf taube Ohren. Bereits im Jahr 2010, also noch vor der Volksabstimmung über den Erweiterungsbau, behauptete die Stadtregierung in einer Antwort auf eine Interpellation: «Die Provenienzforschung der Sammlung Bührle ist aktuell auf einem Stand, der jedem von der öffentlichen Hand getragenen Museum gut anstehen würde.» 2016 setzte Mauch während einer Ratsdebatte noch einen drauf und behauptete gar: «Die Sammlung Bührle gilt als eine der am besten erforschten Sammlungen weltweit.» Als Stadt und Kanton ein Jahr später einen Forschungsauftrag an Geschichtsprofessor Matthieu Leimgruber vergaben, um vor der Eröffnung des Neubaus die Entstehung der Sammlung historisch zu beleuchten, wurde die Provenienzforschung explizit ausgenommen.
Erst als im Oktober 2021 die Eröffnung des Erweiterungsbaus international für negative Schlagzeilen sorgte («A Nazi Legacy Haunts a Museum’s New Galleries», titelte etwa die «New York Times») und Mitglieder der früheren Bergier-Kommission zur Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg eine unabhängige Überprüfung der Provenienzen forderten, machten Stadt, Kanton und Kunsthaus eine Kehrtwende. Sie beriefen einen runden Tisch ein, der den Direktor des Deutschen Historischen Museums, Raphael Gross, für die Überprüfung der Provenienzen vorschlug. Ob den Verantwortlichen die Dimension des Problems klar war, darf bezweifelt werden: Praktisch zur gleichen Zeit setzte das Kunsthaus mit der Bührle-Stiftung einen neuen Vertrag auf, in dem es wörtlich heisst, dass die Kunstgesellschaft als Betreiberin künftig für die Provenienzforschung der ausgeliehenen Bilder verantwortlich sei – und dafür auch sämtliche Kosten übernehmen werde.
Kosten in Millionenhöhe
Das Ignorieren der Provenienzen – oder deutlicher ausgedrückt: die Leugnung eines gravierenden historischen Problems – hat nicht nur zu einem riesigen Imageschaden für die Stadt Zürich geführt. Es dürfte sie nun auch sehr viel Geld kosten: Die erste Empfehlung im Bericht von Raphael Gross lautet, dass weitere Provenienzforschung nötig sei, insbesondere zur Aufklärung der Geschichte der 62 Bilder mit jüdischem Vorbesitz. Die Forschung von Gross, die 730 000 Franken kostete, bringt den Wissensstand auf ein völlig neues Niveau. Dennoch dürfte die weitere Forschung Millionen benötigen. Angesichts des 4,5-Millionen-Defizits der Kunstgesellschaft müssen dafür nach der aktuellen Vertragslage die Subventionsgeber:innen Stadt und Kanton Zürich aufkommen. Konflikte sind programmiert.
Weiter fordert Gross ein Gremium, das für alle Gemälde im Kunsthaus ein Prüfschema entwickelt und im Fall von NS-verfolgungsbedingt entzogenen oder verkauften Werken Empfehlungen für allfällige Restitutionen abgibt. Sein dritter und letzter Ratschlag lautet schliesslich, eine Debatte über den Namen «Sammlung Bührle» zu führen. Die Ausstellung der Bilder «nobilitiere» dessen Namen, schreibt Gross im Bericht. «Es stellt sich die Frage, ob eine öffentliche Einrichtung dies mit ihrer moralisch-ethischen Haltung in Übereinstimmung bringen kann.»
Stadt, Kanton und Kunsthaus wollen sich bis voraussichtlich Mitte Juli – also zur besten Sommerferienzeit – zum Bericht äussern. Auch der Bührle-Stiftung, die der Untersuchung zuvorkommen wollte, indem sie unter gütiger Mithilfe des Kunsthauses schon einmal fünf Gemälde abhängen liess, scheint es fürs Erste die Sprache verschlagen zu haben: Man werde «den Bericht prüfen und zu gegebener Zeit Stellung nehmen». Die Stiftung sei nicht involviert, die Untersuchung richte sich «an die Auftraggeber:innen – Stadt, Kanton und Kunstgesellschaft Zürich», heisst es in einem dürren Communiqué.
Der ganze Bericht kann hier nachgelesen werden: www.stadt-zuerich.ch.
Kommentare
Kommentar von Igarulo
Do., 04.07.2024 - 11:02
In Sachen Kunsthaus weiss die Linke, was die Rechte tut und tut dasselbe. Einen Prestigebau forcieren und dabei alle Probleme verdrängen, bis es nicht mehr geht. Die Linke kann's eben auch nicht besser.