Sammlung Bührle: Ein Cézanne in den Wirren des Zweiten Weltkriegs
Emil Georg Bührle lieferte Waffen an die Nazis und wurde so zum reichsten Schweizer. In seiner Gemäldesammlung, die bald öffentlichkeitswirksam ins Kunsthaus Zürich wandern wird, findet sich auch ein Landschaftsbild von Cézanne, dessen Geschichte in den Herkunftsangaben zum Gemälde vertuscht wird.
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Bald werden die Bilder aus der Sammlung Bührle aus ihrem Dornröschenschlaf geweckt. Ein Tross an Sicherheitspersonal wird ihre Verschiebung aus einem unterirdischen Lager in den Zürcher Kunsthausneubau begleiten: ein Umzug, der das Museum in einen Erinnerungsort verwandelt. Denn ohne den Zweiten Weltkrieg gäbe es diese Gemäldesammlung nicht, und auch das Kunsthaus Zürich, wie wir es heute kennen, würde nicht existieren ohne die enormen, über den eigenen Tod hinausgehenden Zuwendungen Emil G. Bührles.
Dass Bührle und seine Kunstsammlung politisch brisant sind, war von Anfang an klar. Um dennoch eine möglichst reibungslose Verschiebung vom privaten in den öffentlichen Raum zu gewährleisten, wurde die Erforschung ihrer Vergangenheit in zwei Bereiche aufgespalten. Zum einen geht es um die Herkunft der Geldmittel, die Bührle in den Sammlungsaufbau steckte, zum anderen um die Frage, woher die Bilder stammten, die er damit kaufte. Den ersten Bereich hat die Universität Zürich untersucht. Die wissenschaftliche Studie wurde mit öffentlichen Geldern finanziert und stand unter einer – wie sich zeigen sollte – problematischen Begleitung durch einen Steuerungsausschuss, in dem InteressenvertreterInnen aus Politik, Museumswelt und Wirtschaft sassen.
Ganz anders die Voraussetzungen für den zweiten Bereich: Die Erforschung der Bilderprovenienzen fand im stillen Kämmerlein der Bührle-Stiftung selbst statt. Durchgeführt hat die Untersuchung zur Geschichte der Bilder der Kunsthistoriker Lukas Gloor, Kurator und Direktor der Bührle-Stiftung. Zweck seiner Recherchen sei es gewesen, der Sammlung den Weg in den Kunsthausneubau «zu ebnen», wie er kürzlich in der Publikation «Eigentum verpflichtet» offen bekannte. Auf Mandatsbasis beratend zur Seite stand ihm die US-Provenienzforscherin Laurie Stein – auch sie bezahlt von der Bührle-Stiftung. Finanziert wird diese in unbekannter Höhe von der IHAG Holding. Hervorgegangen ist die Holding aus der 1949 von Emil G. Bührle gegründeten IHAG Privatbank. Auch heute noch ist die Holding und damit die Bank im Familienbesitz.
Diese eigenartige Konstellation führt zu einem verengten, im Detail gar verfälschenden Blick. Am Beispiel des spätimpressionistischen Gemäldes «Paysage» von Paul Cézanne lässt sich zeigen, wie die Bührle-Provenienzforschung Sachverhalte verschleiert und durch fehlerhafte Quellenzitate die Umstände unterschlägt, unter denen die früheren BesitzerInnen – das jüdische Ehepaar Nothmann – unter direktem Verfolgungsdruck durch den NS-Staat Cézannes Bild verkaufen mussten.
Begriffe sind relevant
Schon 2015 bezeichnete der Historiker Thomas Buomberger im «Schwarzbuch Bührle» die Herkunft des Gemäldes als problematisch. Es sei auf ungeklärte Weise in die USA gelangt. Dort hatte es der umtriebige St. Galler Kunsthändler Fritz Nathan im Juni 1947 entdeckt und gekauft. Nach Buombergers Ansicht muss es als Fluchtgut gelten.
Der Begriff «Fluchtgut» wurde von der Bergier-Kommission geprägt, um die Herkunft von Kulturgütern fassen zu können, die ausserhalb des direkten Einflussgebiets der NationalsozialistInnen verkauft wurden, in Ländern also wie der Schweiz, England oder den USA. Es handelt sich um Verkäufe, die nach jeweils geltendem Recht legal gewesen sein mögen, deren Ursache aber in der Verfolgungs- und Beraubungspolitik des NS-Staats lag. Der Begriff «Fluchtgut» wird mittlerweile kritisiert. Die Schweiz solle den in Deutschland gängigen Rechtsbegriff «NS-verfolgungsbedingter Vermögensentzug» übernehmen, fordert etwa der Jurist Andrea F. G. Raschèr, der die Anlaufstelle Raubkunst des Bundesamts für Kultur aufgebaut hat. Damit würden die Kategorien Raubkunst und Fluchtgut juristisch unter denselben Titel gestellt.
Die Vorwürfe Buombergers über den Fluchtgut-Hintergrund von Cézannes «Paysage» wurden von der Bührle-Stiftung zurückgewiesen. Sie gibt zwar zu, dass die Provenienz nicht lückenlos geklärt ist. Das Bild sei aber 1947 in den USA unter Angabe seiner Provenienz gehandelt worden – eine Behauptung, die indes nicht belegt ist. Genauso wenig weiss man, in welcher Galerie Nathan den Cézanne erworben hatte und zu welchem Preis. Für 25 000 Franken verkaufte er das Bild im September 1947 an Emil G. Bührle weiter. Käme das Gemälde heute auf den Markt, würde es wohl einen ein- bis zweistelligen Millionenbetrag einbringen.
Gemäss den stiftungseigenen Provenienzrecherchen gehört «Paysage» in die Kategorie A. Diese hat die Stiftung für Bilder vorgesehen, deren Herkunft als geklärt und unproblematisch gilt. Freimütig gibt Stiftungsdirektor Lukas Gloor in einem Dokument zu, dass sich in den Kategorien A und auch B+ durchaus auch Werke befinden, «die als sogenanntes ‹Fluchtgut›» gelten könnten. Die Bührle-Stiftung aber ignoriert diesen Begriff und weigert sich auch, die historische Forschung zu diesem Themenkomplex anzuerkennen.
Über die Herkunft des Cézanne-Bildes, ehe es in Bührles Besitz gelangte, erfährt man auf der Website der Stiftung Folgendes: 1926 oder 1927 wurde es im Luzerner Ableger der Galerie Bernheim Jeune & Cie. von Berthold Nothmann erworben. Zwanzig Jahre später, am 10. August 1947, wandte sich dessen Witwe Martha Nothmann in einem Brief an den bekannten Winterthurer Kunstsammler Oskar Reinhart. Sie glaubte, dieser habe den Cézanne gekauft. Die Stiftungswebsite gibt die entscheidende Briefstelle wie folgt wieder: «Wir waren gezwungen, 1939 Deutschland zu verlassen, konnten aber alle unsere Bilder mitnehmen. In der Zeit lebten wir vom Verkauf unserer Bilder. Mein Mann starb leider vor 5 Jahren. Nun höre ich, dass mein zuletzt verkauftes Bild, eine Landschaft von Cézanne, in Ihren Besitz übergegangen ist. Da wir, ein kinderloses Ehepaar, unsere Bilder wie Kinder liebten, freue ich mich unendlich, dass eines unserer ‹Kinder› in ein so schönes Heim gekommen ist.»
Verschleierte Wege
Ein Gang ins Oskar-Reinhart-Archiv in Winterthur zeigt nun aber, dass der Brief erstens falsch zitiert und zweitens sinnentstellend ins Englische übersetzt wurde. Martha Nothmann schreibt in ihrem Brief nicht, dass sie «alle» Bilder mitgenommen hätten. Und sie schreibt auch nicht, dass sie «in der Zeit», also während des nicht näher bezeichneten, erzwungenen Verlassens Deutschlands, vom Bilderverkauf lebten, sondern seither. Der exakte Wortlaut ist: «Wir waren gezwungen, 1939 Deutschland zu verlassen, konnten aber unsere Bilder mitnehmen. Seit der Zeit leben wir vom Verkauf unserer Bilder.»
Die Provenienzergebnisse sind auf der – ansonsten deutschsprachigen – Website der Bührle-Stiftung ausschliesslich in englischer Sprache wiedergegeben, Ausnahme sind direkte Zitate wie das obige. In der englischen Zusammenfassung der deutschen Quelle heisst es: «when they left Germany in 1939». So wird aus der erzwungenen Flucht der Nothmanns eine ganz banale Ausreise. Der Grund, weshalb sie Deutschland verlassen hatten, wird unterschlagen: Die Nothmanns waren jüdisch und als solche Opfer des NS-Terrors. Auf den jüdischen Hintergrund früherer Besitzverhältnisse wird in der Bührle-Provenienzforschung auch sonst an keiner Stelle hingewiesen. Dies ist angesichts der Tatsache, dass viele Bilder wegen antisemitischer Verfolgung verkauft werden mussten, unverständlich. Die Bührle-Stiftung wurde von der WOZ mit den drei Punkten konfrontiert: den Abweichungen beim Briefzitat, der Ausblendung von Krieg und Verfolgung bei den Provenienzangaben sowie der Nichtanerkennung der Kategorie Fluchtgut. Die Stiftung nahm dazu keine Stellung.
Das Gros seiner Sammlung hatte Bührle auf dem transatlantischen Kunstmarkt erworben, der in der Nachkriegszeit boomte wie nie zuvor. Grund waren die Translokationen, also Verschiebungen von Kulturgütern: Als Folge der antijüdischen Verfolgungen und Beraubungen wurden Sammlungen aufgelöst, und unzählige Kunstobjekte kamen in die USA. Heute sind es oft Nachkommen, die Recherchen über Bilder anstellen, die sich früher im Familienbesitz befunden hatten. Berthold und Martha Nothmann selbst hatten keine Kinder, kamen aber beide aus weitverzweigten Familien. Würden also noch lebende Angehörige mehr über Cézannes «Paysage» herausfinden wollen, wäre die Stiftungswebsite eine ihrer ersten virtuellen Anlaufstellen. Und sie würde funktionieren wie ein Filter, der die entscheidenden Sachverhalte zurückbehält. Da sich vermutlich noch weitere Gemälde mit einer NS-Fluchtgeschichte in der Sammlung befinden, betrifft dieser Umstand potenziell auch weitere Fälle.
Die Nothmanns hatten gemäss eigenen Angaben nicht ihre komplette Gemäldesammlung aus Deutschland mitgenommen. Durch den veränderten Wortlaut auf der Website der Bührle-Stiftung entsteht ausserdem der falsche Eindruck, Bilder aus der Sammlung Nothmann seien einzig um 1939 verkauft worden. Damit wären sie in ihrer Herkunft unproblematisch – zumindest aus Sicht der Bührle-Stiftung, die Verkäufe aufgrund antisemitischer Verfolgung als unbedenklich deklariert. Aktuelle Forschungsergebnisse aus Deutschland zeigen aber auch: Die Nothmanns hatten schon in NS-Deutschland selbst mindestens ein Kunstwerk aus ihrer Sammlung verloren. Auch in Bührles Sammlung findet sich ein weiteres Werk aus der Sammlung Nothmann: Cézannes «Paysage du Nord» kam bereits 1937 in Bührles Besitz, also zwei Jahre bevor die Nothmanns nach London fliehen mussten. Dieses zweite Landschaftsbild von Cézanne ist nicht Teil der Auswahl, die ins Kunsthaus zieht. Das Gemälde mit einer offenkundig problematischen Provenienz bleibt in den Privatsammlungen der Familie Bührle vor der Öffentlichkeit verborgen.
Die Veränderungen am Briefwortlaut zeitigen noch einen weiteren Effekt: Sie verharmlosen die anhaltende Notlage, in der sich die Nothmanns befanden. Drehen wir die Blickachse also um und erzählen die Geschichte vom Verkauf von Cézannes «Paysage» aus ihrer Sicht, aus der Sicht der Opfer.
Berthold Nothmann wurde 1865 in einem oberschlesischen Dorf als Sohn eines mittellosen Klempners und Dachdeckers geboren. 1894 heirateten Martha Bender und Berthold Nothmann. In seinen unpublizierten Memoiren von 1936 blickt er in die jüdisch-deutsche Welt seiner Kindheit zurück, die von den NationalsozialistInnen in den kommenden Jahren vollkommen ausgelöscht werden sollte. Er schildert die jüdischen Bräuche, Riten und Familienfeiern, die für ihn zwar sehr prägend waren, die er aber im Sog der anbrechenden Moderne hinter sich liess. Gerne wäre er Kunstmaler geworden, doch die Umstände hätten ihn in die kaufmännische Richtung gezwungen. Ihm gelang in der Folge ein beachtlicher sozialer Aufstieg in der Schwerindustrie bis zum Direktor der Oberschlesischen Stahlwerksgesellschaft. Damit verbunden war, dies wissen wir aus zahlreichen anderen jüdischen Selbstzeugnissen dieser Zeit, die Hoffnung auf «Assimilation» – also darauf, ganz in der deutschen Gesellschaft aufgehen zu können. Ein Traum, der, wie Nothmann 1936 in seinem Haus in Berlin Wannsee schreibt, nun ausgeträumt sei. Im Jahr zuvor waren die antisemitischen Nürnberger Gesetze erlassen worden: Mit ihnen begann, was der Historiker Saul Friedländer «die Einkreisung» nennt.
Flucht in die Armut
Die Nothmanns «verliessen» Deutschland nicht, als sie sich 1939 nach London aufmachten – sie retteten ihr nacktes Leben, indem sie sich der letzten grossen jüdischen Fluchtbewegung anschlossen. Danach blockierte der Kriegsausbruch die letzten sicheren Wege aus dem NS-Staat. Im Oktober 1941 begannen die Massendeportationen aus Berlin in die Konzentrationslager, das betagte Ehepaar wäre diesem Naziterror schutzlos ausgeliefert gewesen.
Die Flucht war finanziell ruinös. Um die hohen Kosten begleichen zu können, mussten die Nothmanns alles zu Geld machen, was sie hatten, darunter Bilder aus ihrer Gemäldesammlung. Denn der NS-Staat setzte zur Ausplünderung und Diskriminierung unerwünschter Bevölkerungsgruppen Spezialsteuern und weitere finanzielle Beraubungsinstrumente ein. Angefangen bei der Reichsfluchtsteuer: 25 Prozent ihres Vermögens mussten Jüdinnen und Juden dem NS-Staat überschreiben, wollten sie ihren Wohnsitz ins Ausland verlegen. Für das Steuerjahr 1938/39 – während dieser Periode verliessen die Nothmanns Deutschland – machten die Erträge aus dieser Raubsteuer fast 88 Prozent der gesamten Vermögenssteuern in Deutschland aus. Dazu kamen weitere Zwangsabgaben, darunter die sogenannte Judenvermögenssteuer: Weitere 20, später 25 Prozent ihres Gesamtvermögens zog der Staat von Jüdinnen und Juden ein, als, wie es hiess, «Sühneleistung gegenüber dem deutschen Volk».
Diese antisemitischen Zwangssteuern, die auch der Finanzierung der Aufrüstung und Kriegsführung des NS-Staats dienten, waren Teil der beispiellosen Beraubung der jüdischen Deutschen. Sie führten auch dazu, dass schon vor dem Krieg Kunst- und Kulturgüter aus jüdischem Besitz in die riesigen Kunstsammlungen der NS-Spitze flossen: Konnten die EmigrantInnen ihre Abgaben nicht entrichten, wurden ihre Besitztümer konfisziert.
In London angekommen, setzten die Nothmanns alles daran, in die USA weiterzufliehen. Es finden sich Briefe von englischen Unternehmern, die in ihrem Namen im Mai 1939 an die US-Botschaft schreiben. Doch aus den Monaten im unfreiwilligen Exil wurden – finanziell immer prekärere – Jahre. Die Visaerteilung erfolgte erst Mitte 1942. Um diese Zeit ist Berthold Nothmann gestorben. Genaueres dazu ist unbekannt. Sicher ist, dass Martha Nothmann, mittlerweile 68 Jahre alt, allein in die USA ausreiste. Auf eine Rente konnte sie nicht hoffen, und an Arbeit war angesichts ihres Alters nicht mehr ernsthaft zu denken.
Am 10. August 1947 wandte sich Martha Nothmann in jenem Brief an Oskar Reinhart, den die Bührle-Stiftung falsch in ihrer Provenienzforschung wiedergibt. Sie lebte in Untermiete im kleinen Dorf Stamford in den Catskills, nördlich von New York City. Heute breiten sich dort die Zweitwohnsitze vermögender StädterInnen aus, damals war es eine Armeleutegegend. Seit der Jahrhundertwende hatten sich dort jüdische Familien niedergelassen, die auf der Flucht vor dem in Europa erstarkenden Antisemitismus waren.
Vorsichtig fragt Frau Nothmann 1947 den reichen Winterthurer Sammler Reinhart, ob er vielleicht Interesse an Bildern habe. Sie fügt eine kleine Liste bei und beklagt sich, dass ihre Erfahrungen mit Kunsthändlern unschön gewesen seien, weil die Konditionen für sie sehr schlecht waren. Darum versuchte sie, die letzten Gemälde aus der Sammlung ihres Mannes nun in Eigenregie zu verkaufen. «Entschuldigen Sie bitte, dass ich so direkt an Sie zu schreiben wage, aber die Zeiten sind zu hart. Wir hatten uns unser Lebensende auch einmal anders vorgestellt.» Ob Martha Nothmann jemals erfahren hat, dass Cézannes «Paysage» nicht an Oskar Reinhart, sondern an den Waffenproduzenten im Dienste NS-Deutschlands, Emil G. Bührle, gegangen ist, wissen wir nicht. Mit diesem Brief verlieren sich auch ihre letzten Archivspuren.
Provenienzforschung produziert Rohdaten. Diese zu ermitteln, ist oft sehr aufwendig und bedarf eines erheblichen Rechercheaufwands. Doch was sagen die oft lückenhaften Daten eigentlich aus? Die Bührle-Stiftung hat die Ergebnisse ihrer hauseigenen Forschungen einzig auf ihrer Website publiziert. Nie wurden weiterführende Dokumente veröffentlicht, die etwa Aufschluss über die angewandte wissenschaftliche Methodik oder über ergänzende Forschungsergebnisse von unabhängiger Seite gäben. Dies ist umso erstaunlicher, als bis heute international keine Veröffentlichung zum Kulturgüterraub der NationalsozialistInnen erscheint, ohne den Namen Bührle zu erwähnen. Die massgebliche Datenbank «Lost Art» des Deutschen Zentrums Kulturgutverluste führt seinen Namen konsequenterweise in der Rubrik «Beteiligte Privatpersonen und Körperschaften am NS-Kulturgutraub».
Auf der Bührle-Website erfährt man davon nichts. Stattdessen findet sich zu jedem der rund 200 Sammlungsobjekte eine schwer entzifferbare Auflistung von Handwechseln: Wer hat welches Kunstwerk wann zu welchem Preis gekauft, von wem und wo? Dazu werden Informationen über frühere Ausstellungen, in denen die Bilder zu sehen waren, gegeben sowie weiterführende Literatur, sofern sie der Stiftung genehm ist.
Wer sich durch diese Provenienzdaten der Bührle-Bilder liest, findet sich in einem irrealen Raum wieder. Es ist ein Raum ohne Geschichte, in ihm sind in trügerischer Klarheit Namen mit Zahlen und Orten verknüpft. Es ist die Utopie eines von unsichtbarer Hand geordneten, freien globalen Markts. Dank dieser Daten könnte man mit dem eigenen Zeigefinger auf der Weltkarte jedem der 203 Werke dieser Kunstsammlung auf seinem Weg folgen: von Deutschland etwa in die Schweiz, oder von Frankreich nach Deutschland und von dort weiter nach London, oder von Deutschland über London in die USA – Wege, die immer am selben Ort enden: in Zürich. Ausgeblendet bleiben Flucht und Vertreibung, Beraubung und Krieg – die grundlegenden Voraussetzungen also, die es Bührle überhaupt erst ermöglicht hatten, die Bilder zu kaufen. Nationalsozialistische Verfolgung und Zweiter Weltkrieg spülten die Kunstwerke auf den Markt. Mit dem Zweiten Weltkrieg wurde der Waffenhändler Bührle zum reichsten Mann der Schweiz, einen Teil seines beträchtlichen Vermögens investierte er in Kunst.
Raum ohne Geschichte
Seit Bührles Tod im Jahr 1956 sind die Gemälde und Skulpturen kaum noch bewegt worden, sieht man von der einen oder anderen Ausstellung oder einem Raubüberfall im Jahr 2008 ab. Zurzeit lagern sie an einem geheim gehaltenen Ort in der Nähe von Bern. Bald beginnt ihre vorläufig letzte Reise, und sie werden ihren Platz im Zürcher Kunsthausneubau einnehmen. Wirklich bewegt hat sich die Sammlung in den letzten Jahrzehnten nur noch auf Wertkurven. Knappe vierzig Millionen Franken hatte Bührle zu Lebzeiten für Kunst ausgegeben. Nach seinem Tod wurde sein Kunstschatz wie ein Kuchen aufgeteilt: Je ein Drittel erhielten seine beiden mittlerweile verstorbenen Nachkommen Dieter und Hortense und die Stiftung. Der Schätzwert dieses Stiftungsanteils allein beläuft sich auf gegenwärtig zwei bis drei Milliarden Franken, Tendenz steigend. Doch sind solche Zahlen letzten Endes fiktiv, da die hochkarätigen Werke nie wieder auf dem Markt landen werden. Dafür sorgen die rechtliche Struktur der Bührle-Stiftung, deren Hauptaufgabe es ist, die Sammlung zusammenzuhalten, sowie der mit modernster Sicherheitstechnik bestückte neue Kunstbunker am Heimplatz.
Auch die lange Reise von «Paysage», dieses um 1879 entstandenen Gemäldes von Paul Cézanne, geht nun bald zu Ende. Doch zur Eröffnung des Kunsthaus-Annexbaus muss nun noch die Umsetzung der Forschungsergebnisse vor Ort erfolgen. Dazu werden die beiden Bereiche, die man nie getrennt voneinander hätte untersuchen dürfen, zusammengeführt: der wissenschaftlich fundierte, unter dem Dach der Universität Zürich erstellte und öffentliche Forschungsbericht sowie die stiftungsintern durchgeführte Provenienzforschung der Sammlung Bührle. Wie diese Vermittlung aussehen werde, entscheide man selber, hatte das Kunsthaus Ende 2019 verkündet. Sicher ist, dass auch der Vertreter der Sammlung Bührle, Lukas Gloor, im entscheidenden Gremium sitzt.
In der Stellenausschreibung für die Neubesetzung des abtretenden Kunsthausdirektors Christoph Becker heisst es, man erhoffe sich für den Posten eine Person, die eine «überzeugende Vision und eine zukunftsweisende Strategie» entwickle. Eine solche Vision wird notwendig sein – als Erinnerungsort steht das Kunsthaus in der Verantwortung. Denn in der Auseinandersetzung mit dem Bührle-Komplex brechen zwangsläufig übergeordnete Fragen auf: nach dem richtigen Umgang mit historischem Unrecht und nach einer angemessenen Erinnerungskultur, in der die Opferperspektive nicht ausgeblendet wird.
Der Historiker Erich Keller war Mitarbeiter am universitären Forschungsbericht, der den Bührle-Komplex und die Verknüpfung von Waffen- und Kunsthandel untersucht hat. Aufgrund von inhaltlichen Differenzen schied er vor Vollendung des Berichts aus (siehe WOZ Nr. 34/2020 ). Kellers Buch «Das kontaminierte Museum» soll nächstes Jahr erscheinen.