Arbeitskonflikt bei der Migros: Oranger Riese im Krebsgang

«Nicht unsere Sache», sagte die Migros, als die Gewerkschaften sie wegen Problemen im Verteilzentrum Suhr zur Rede stellten. Kurz darauf musste sie einlenken.

Der Konflikt mit den Gewerkschaften Unia und VHTL um das Verteilzentrum im aargauischen Suhr hat die Migros an einem schwachen Punkt erwischt. Als Lohndrücker und knausrige Arbeitgeber im Januar von der «Rundschau» von SF DRS an den Pranger gestellt zu werden, muss den Vertretern des «sozialen Kapitals» weh getan haben. Die Migros-Spitze versuchte den Spiess umzudrehen und beschuldigte die Gewerkschaften, den Gesamtarbeitsvertrag zu verletzen. Statt an die Öffentlichkeit zu gehen, hätte ein Anruf genügt, schreiben die Migros-Verantwortlichen in einem Brief an den VHTL.

Was ist passiert? Im letzten Jahr erhielt die Unia in Aarau einen besorgten Brief eines Arztes: «Herr X musste von mir kürzlich wegen Beschwerden bei Überlastung vorübergehend krank geschrieben werden. Die weitere Untersuchung und Befragung hat ergeben, dass Herr X in seinem Arbeitsort im Verteilzentrum der Migros in Suhr zwar einen Arbeitsvertrag mit 45 Wochenarbeitsstunden besitzt, dass er und seine Mitarbeiter aber regelmässig bedeutend mehr, zeitweise bis zu 70 Stunden pro Woche arbeiten.»

Verstoss gegen GAV

Siv Lehmann von der Unia Aargau schaltete daraufhin das für die Einhaltung des Arbeitsgesetzes zuständige Amt für Wirtschaft und Arbeit ein. Ihr gegenüber habe der Zuständige von einem Chaos gesprochen, sich in der Öffentlichkeit allerdings zurückhaltend ausgedrückt. Migros-Sprecher Urs Peter Naef bestätigt den Sachverhalt. Es seien keine Sanktionen verhängt, hingegen sei ein Massnahmenkatalog erarbeitet worden.

Lehmann erfuhr auch, dass die Hälfte der 700-köpfigen Belegschaft nicht von der Migros, sondern von den beiden Temporärfirmen Adecco und Allbecon angestellt ist. «Das verstösst gegen den Gesamtarbeitsvertrag, der für alle Migros-Angestellten ab dem dritten Monat gilt.» Damit nicht genug: Die Löhne für die Temporärangestellten waren tiefer als die ihrer fest angestellten KollegInnen. «Während der Mindestlohn bei der Migros 3300 Franken brutto beträgt, erhalten die Temporären für die gleiche Arbeit nur 3150 Franken brutto.» Natürlich seien die Temporären auch bei den Sozialleistungen schlechter gestellt, sagt Lehmann. Ganz zu schweigen von Peinlichkeiten wie höheren Kantinenpreisen und dem Fehlen von Arbeitskleidern.

Die Gewerkschaften wurden deswegen bei der Geschäftsleitung des Verteilzentrums vorstellig und vereinbarten einen Gesprächstermin. Kurzfristig wurde dieser aber vonseiten der Migros abgesagt. Der Migros-Genossenschafts-Bund in Zürich habe sich der Sache angenommen. Von dort kam die Kunde, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Temporärfirmen und den Angestellten bestünde und dass die Migros mit diesen Leuten nichts zu tun habe. Naef bestätigt das kurzfristig abgesagte Gespräch: «Solche Diskussionen werden gemäss Gesamtarbeitsvertrag der Migros auf Stufe Paritätische Kommission geführt und nicht in den einzelnen Unternehmen.»

Nervöse Manager

Nach dem Bericht in der «Rundschau» krebste die Migros zurück: «Wir haben inzwischen via Medien zur Kenntnis genommen, dass das Verteilzentrum Suhr zu gewissen Korrekturen bei den Anstellungsbedingungen der Temporärangestellten bereit ist», schreibt der VHTL. «So sollen der Mindestlohn von 3300 Franken bezahlt, eine fünfte Ferienwoche gewährt, die Verpflegungskosten den Festangestellten angepasst und die Überkleider durch die Firma gereinigt werden.» Allerdings sei das nicht ausreichend, VHTL und Unia verlangen, dass Beschäftigte nach drei Monaten Tätigkeit fest angestellt und dem Gesamtarbeitsvertrag unterstellt werden.

Die Migros ist kein knausriger Arbeitgeber: Eine ordentliche Pensionskasse, vorzeitige Pensionierung, Lebensversicherung, 13. Monatslohn, interne Mitbestimmung sind in dieser Branche keineswegs selbstverständlich. Wie aber konnte es so weit kommen, dass die Migros in einem Arbeitskonflikt so schlecht dasteht?

In den letzten Jahren haben sich die Auseinandersetzungen gehäuft. Die Gewerkschaftskampagne «3000 Franken Mindestlohn» traf die Migros unvorbereitet. Weitere Konflikte folgten. Die Migros verweigert den Gewerkschaften den Zugang zu ihren Betrieben. Die Manager sind nervös, die Stimmung ist gereizt. Statt politischem Augenmass dominiert formaljuristische Prinzipienreiterei den Umgang mit den Gewerkschaften. So auch bei der Kündigung des Gesamtarbeitsvertrags mit dem VHTL im Herbst 2003. Dies zumindest ist die Analyse der Gewerkschaften. Naef sieht das anders: «Nicht wir haben ein Problem mit den Gewerkschaften. Es scheint eher, dass einzelne Vertreter der Gewerkschaften die zuständigen Gremien und die im Gesamtarbeitsvertrag ausdrücklich formulierte Friedenspflicht zur eigenen Profilierung missbrauchen.»

Dazu kommen die Probleme der Migros im Verteilzentrum Suhr. Dieses wurde 2002 als Teil eines neuen Logistikkonzeptes eröffnet: eine Hightechanlage, Teil einer «wegweisenden Logistikstrategie» zur Zentralisierung der Warenbewirtschaftung. 350 bis 400 Leute würden hier beschäftigt werden, hiess es bei der Eröffnung. Es waren 2003 aber fast doppelt so viele, die manchmal bis zu 70 Stunden pro Woche arbeiten mussten. Naef bestätigt Schwierigkeiten im Verteilzentrum: «Unsere Annahmen wurden in der Praxis nicht bestätigt. Sie mussten laufend revidiert und angepasst werden. Es gab in dieser weltweit einzigartigen Anlage technische Probleme.»

Für die Gewerkschaften ist der Kampf mit dem Handelsgiganten kein Zuckerschlecken. Mit einem minimalen Organisationsgrad von drei Prozent (Angaben Migros) bis sechs Prozent (Gewerkschaften) sind sie meilenweit davon entfernt, Kampfmassnahmen ergreifen zu können. Auch müssen sie sich gegen die von der Migros unterstützten Personalkommissionen behaupten.
Gewerkschafterin Lehmann weiss, dass der Konflikt erst begonnen hat. Wenn es nicht gelingt, die Leute im Verteilzentrum zu organisieren, nützen die ganzen Bemühungen nichts. «Es gibt viele Leute, die auf einen Job bei der Migros angewiesen sind», sagt sie. «Sie kommen aus dem ganzen Kanton, Junge, Alte, Ausländer, Einheimische, Leute ohne Ausbildung und Leute, die früher in der Maschinenindustrie gearbeitet haben.»