M-Frühling: Frühlingsputsch im Migros-Land

Über die Migros die Gesellschaft verändern: Ähnlich wie Sorgim wollte der Verein M-Frühling 1980 mitbestimmen. Damals kam man einen Schritt weiter und baute KandidatInnen für die Genossenschaftswahlen auf.

Hier ein Aufmucken, dort eine Pressemeldung. Aber so richtig Spannung kam dieses Jahr bei Sorgims Aktion nicht auf. Das könnte anders sein. Es war einmal anders. Es war Dezember im Jahre 1979, und eine Gruppe kritischer Köpfe lud zur Pressekonferenz. Der neue Verein M-Frühling hatte Umstürzlerisches im Sinn: Man wollte KandidatInnen aufbauen, im Juni 1980 offene Migros-Wahlen erzwingen und mitbestimmen über die Verwendung des «Sozialen Kapitals». Die Migros-Chefs reagierten nervös auf eine mögliche Konzernübernahme. Die Vereinsmitglieder vertraten das links-grüne Spektrum – Engagement für die Dritte Welt, für den Umweltschutz und für eine alternative Lebensweise. Oppositionsführer Hans A. Pestalozzi stammte selbst aus dem Machtzentrum des Migros-Kosmos: Der einst enge Vertraute des Migros-Gründers hatte das Gottlieb-Duttweiler-Institut (GDI) aufgebaut und zu einer europaweit einzigartigen Denkfabrik für ökologisch zukunftsweisende Ideen gemacht. 1979 hatte der immer zeitkritischer auftretende Institutsleiter die fristlose Kündigung erhalten. Seine zunehmende Referierlust – etwa zur Phänomenologie durchschnittlicher Manager – war der Migros-Zentrale zu viel geworden.

Der Verein «M-Frühling» war ein Sammelpool grün-alternativer Akteure, denen es nicht nur um die Migros ging. In deren Gremien mitzubestimmen war sozusagen eine Etappe auf dem Weg zu weiter reichenden Zielen – man wollte Alternativen zum Wirtschaftssystem aufzeigen und dessen Demokratisierung vorantreiben. Bei der Migros anzusetzen lag auf der Hand: Veränderungen im grössten Schweizer Binnenkonzern sollten eine nachhaltige und humane Wirtschaft und Gesellschaft hervorbringen. Auch offene Charaktere der politischen Mitte unterstützten solche Ideen: Die entwicklungspolitisch engagierte Thurgauer FDP-Grossrätin Ursula Brunner kandidierte für das zweithöchste Migros-Amt. Pestalozzi selber wollte an die Spitzenposition und war Kandidat für das Präsidium des Migros-Genossenschafts-Bundes.

Alternativen des Frühlings

Schon im Vorfeld zum Wahlkampf kam es zu verbissenen Geplänkeln. Die Migros-Leitung – erstmals mit einer offenen Wahl konfrontiert – legte die Statuten sehr restriktiv aus: Die KandidatInnenlisten für die Wahl in die Migros-Gremien benötigten tausende von Unterschriften, die nur gültig waren, wenn sie mit der jeweiligen GenossenschafterInnen-Nummer der SympathisantInnen versehen waren. Aber wer trägt schon ständig einen Genossenschaftsanteilschein für allfällige UnterschriftensammlerInnen mit sich herum? Der Opposition drohte das vorzeitige Aus. Erst vor Gericht bekam man das Recht, die fehlenden Nummern aus dem Mitgliederregister abzuschreiben.

Der eigentliche Wahlkampf wurde mit einem 250-seitigen Manifest eröffnet: «M-Frühling – Vom Migrosaurier zum menschlichen Mass». Zudem erschien monatlich eine Zeitung des Vereins M-Frühling. Währenddessen erreichte die Migros ihre über eine Million GenossenschafterInnen mit dem wöchentlichen «Wir Brückenbauer». Darin durfte sich dann die Opposition auf einer einzigen Seite kurz vor den Wahlen vorstellen. Dies waren die Forderungen:
Der M-Frühling will eine Demokratisierung der Migros. Anstelle der Fortpflanzung der herrschenden Manager «in stiller Wahl» soll eine ständige Diskussion innerhalb der Genossenschaften treten.
Der M-Frühling will eine Dezentralisierung der Migros. Die blindwütige Expansionspolitik der letzten Jahre hat aus der Migros einen unheimlichen Giganten gemacht. Die Folgen sind bekannt: Lädelisterben, wirtschaftliche Abhängigkeit der landwirtschaftlichen Produzenten, Verschlechterung der Qualität der Arbeitsplätze.
Der M-Frühling will eine umweltfreundliche Migros. Der M-Frühling will keine industrielle Tierhaltung, keine zentralisierte Brotproduktion, keine Mammut-Einkaufszentren.
Der M-Frühling will eine entwicklungspolitisch verantwortliche Migros. Die Migros bietet mehr und mehr Produkte aus der Dritten Welt an und beeinflusst damit die Situation tausender von Landarbeitern in diesen Ländern.
Der M-Frühling will nicht nur Kritik üben. Wir wollen Alternativen entwickeln und zur Diskussion stellen.

Duttweilers Erben?

Im April und Mai 1980 rief der Wahlkampf ein lautes Medienecho hervor. In den Regionalgenossenschaften der ganzen Schweiz stellten die jeweiligen GegenkandidatInnen sich und ihre Argumente vor. Hans A. Pestalozzi einerseits und der amtierende Chef Pierre Arnold andererseits waren die grossen Gegenspieler im Kampf um das Präsidium des Migros-Genossenschaftsbundes. Pierre Arnold, der 1976 die Migros-Spitze übernommen hatte, galt als Motor einer rasanten und in den Medien viel kritisierten Expansionspolitik. Vorzugsweise thematisierte der M-Frühling die Megaeinkaufszentren auf der grünen Wiese: Das Bild brachte die Schlagworte Zentralismus, Gigantismus und Umweltschädlichkeit in logischen Zusammenhang mit dem orangen Riesen. Die Migros-Chefs ihrerseits verwiesen auf ihre vorbildlichen Anstrengungen für den Umweltschutz und unterstrichen zudem, dass nur sie alleine legitimiert seien, Duttweilers Erbe zu bewahren.

Obwohl man die Erfolgschancen der Opposition von Beginn weg als gering einschätzte, machten ihr die Migros Verantwortlichen keinerlei Geschenke. In der Auseinandersetzung prallten letztlich verschiedene Mentalitäten zusammen, wie sie der Kulturkampf in den siebziger Jahren hervorgebracht hatte. Immerhin darf man der Migros zugute halten, dass sie ihre Verpflichtung zu diesem schweizweiten und kostspieligen Wahlprozedere nie in Frage stellte. Gleichzeitig aber raubte sie der Oppositionsgruppe mit einem Beharren auf dem Majorzprinzip jegliche Chance auf Erfolg. Trotz zwanzig Prozent Stimmenanteil erhielt deshalb kein einziger Gegenkandidat Einsitz in die Genossenschaften. Eine 1981 in einer «nichtöffentlichen Delegiertenversammlung» beschlossene Erhöhung der Wahlhürden demotivierte die Opposition zusätzlich und schwächte ihre Reihen erheblich. Nach Gerichtsprozessen betreffend Wahlstatuten warfen sich Kandidaten des M-Frühlings nochmals in regionale Migros-Wahlen. In Basel scheiterten sie 1984, in St. Gallen 1988. Danach waren Wahlen kein Thema mehr. Doch bis zu seiner Auflösung 1995 blieb der Verein M-Frühling für Migros-Kreise unangenehm. Mit einer eigenen vierteljährlichen Zeitung und somit als quasi grün-alternative Institution blieb der M-Frühling bis 1995 auch in Bezug auf Konsumenten-, Umwelt- und Tierschutz im Gespräch.

Zum Autor

Beat Mahler schreibt eine Lizenziatsarbeit zum Thema «Migros-Frühling als Beispiel grün-alternativen Protests».