Migros-CEO Anton Scherrer: «Das sind gefährliche Gedanken!»

Warum hat er die genossenschaftlichen Strukturen der Migros umgebaut? Und was hält Anton Scherrer von Migros-Gründer Duttweilers Idee, mit dem orangen Riesen die Schweiz zu verändern?

WOZ: Herr Scherrer, wäre es möglich, einen Externen unvorbereitet an die Spitze der Migros zu setzen? Und wie lange würde der dort überleben?
Anton Scherrer: Eine schwierige Frage. Ich stiess auch von aussen zur Migros, führte anfangs aber nur elf unterstellte Industriebetriebe. Die Führung des Migros-Genossenschafts-Bundes (MGB) verlangt einen Zacken mehr. Es gäbe sicher Leute, die das könnten. Aber das Risiko wäre beträchtlich.

Die Welt der Migros-Gremien ist ziemlich kompliziert. Braucht man interne Verbündete, um so einen Laden zu führen?
Bei uns muss man durch Überzeugung führen. Wir haben flache Hierarchien, die Dossiers sind zugänglicher als anderswo, und am Schluss wird abgestimmt. Ohne Vertrauen kommen Sie da nicht durch.

Sie haben kürzlich eine Unternehmensreform durchgezogen. Warum haben Sie Ihren Posten vom Primus inter Pares zum CEO umfunktioniert?
Mit dem Wechsel vom Präsidenten der Verwaltungsdelegation zum Präsidenten der Generaldirektion – Sie sagen dem CEO, ich brauche das Wort nicht so gern – hat sich für mich nicht viel geändert. Die Migros hat jetzt eine moderne Unternehmensorganisation mit klar zugewiesenen Aufgaben. Früher teilten sich an der Spitze fünf Leute die Verantwortung. Wenn ein Fehler passierte, war niemand schuld.

War Gottlieb Duttweiler wahnsinnig, als er ein solches Führungsmodell einführte? Oder wollte er die Migros-typische Mischung von Demokratie und persönlicher Macht? Auch Ihre Vorgänger, Jules Kyburz und Pierre Arnold, waren ja durchaus Sonnenkönige im orangen Reich. Kurz: Sind die Strukturen der Migros nur mit grosser Autorität meisterbar?
Das hat etwas. Es braucht eine Persönlichkeit mit einem natürlichen Autoritäts- und Führungsanspruch, um einen solchen Laden zu führen.

Sie haben auch die Löhne der oberen Kader auf das Dreizehnfache eines Ungelernten heraufgesetzt, zu unserem Erstaunen mit dem aus der Privatwirtschaft bekannten Argument: Man bekomme sonst keine Topleute mehr. Aber ist die Migros überhaupt im Arbeitsmarkt? Macht man nicht eher intern Karriere?
Die Kader holen wir zu mindestens zwanzig Prozent von aussen. Und als ich einen neuen Chef für unser Reiseunternehmen Hotelplan suchte, merkte ich, wie schwierig das bei unseren Löhnen ist.

Sind die hohen Spitzenlöhne nicht demotivierend für die unteren Schichten? Und ist Ihr Job nicht faszinierend genug, dass man ihn auch für 500 000 Franken im Jahr tun würde?
Zur Migros gehören total fünfzig Gesellschaften, zum Beispiel auch die Migrosbank, die Nummer sechs der Schweiz. Glauben Sie, der Präsident der Direktion einer Bank sei bereit, zu einem Löhnli zu arbeiten? Wir mussten uns den Realitäten des heutigen Arbeitsmarktes anpassen. Und diese Leute sind mir unterstellt. Diese Diskussion ist wirklich daneben, denn früher verdienten die Kader bei uns nicht mittelmässig, sondern untendurch, und heute liegen die Löhne im Mittelfeld.

Wenn die Kaderlöhne von selber steigen, während über Mindestlöhne gestritten werden muss, hat man den Eindruck, die Migros sei allmählich ein ganz normales Unternehmen. Wäre die Schweiz eigentlich anders, wenn es Migros und Coop nicht gäbe?
Dann würde der Detailhandel von privaten und börsenkotierten Unternehmen kontrolliert, bei denen der Gewinn in Richtung Shareholder abfliesst. Die Migros ist eine konsumentenorientierte Genossenschaft mit dem Zweck, qualitativ gute Dienstleistungen und Waren möglichst günstig abzugeben.

Okay, einige Dinge wären fünf bis zehn Prozent teurer. Und sonst?
So wenig ist das nicht. Bei 14 Milliarden Umsatz ergibt das 700 Millionen Franken, die wir jedes Jahr an die Konsumenten weitergeben. Und es gibt weitere Dimensionen. Über das Kulturprozent führt die Migros 120 Millionen ab für Konzerte und anderes, davon gehen 60 Millionen allein in die Migros-Clubschulen. Es gibt die Dimension Fitness und Wellness, wo die Migros als grösste Anbieterin Erhebliches leistet für die Volksgesundheit. Oder Golf: Die Migros hat diesen elitären Sport mit ihren Anlagen für den Durchschnittsbürger zugänglich gemacht. Kein gewinnmaximierendes Unternehmen macht solche Dinge.

Haben Sie jetzt den Gedanken des sozialen Kapitals erläutert?
Sicher. Die Migros will der breiten Bevölkerung Lebensqualität zugänglich machen. Das macht sie einzigartig.

Und das ärgert das Finanzestablishment, zum Beispiel die NZZ: In grossen Kommentaren klagte sie, dass Coop und Migros einen grossen Brocken der Schweizer Volkswirtschaft der Börse entziehen. Freut Sie deren Ärger?
Das interpretieren Sie jetzt so.

Das ist eine Frage.
Ob die uns mit der Sicht auf entgangene Geschäfte betrachten, weiss ich nicht. Die NZZ schrieb so vor einigen Jahren. Heute, nachdem grosse Zweifel an der Führung gewisser Aktiengesellschaften aufkamen, würde sie nicht mehr so schreiben.

Beneidet man Sie bei der Konkurrenz, weil Sie in Ruhe arbeiten können und nicht irgendwelchen Shareholdern Rechenschaft ablegen müssen?
Insofern als wir längerfristig denken können, ja. Aber in Ruhe arbeiten können wir auch nicht: Der Konsument kontrolliert uns scharf und bestraft uns für Fehler an der Ladenkasse.

Die Migros hat in den letzten Jahren Globus, Interio und viele weitere Aktiengesellschaften eingekauft. Werden Sie die eines Tages vergenossenschaftlichen?
Daran denken wir nicht. Der MGB als Genossenschaft besass immer schon AGs.

Wäre es nicht ein starkes Zeichen für das soziale Kapital, wenn die Migros die allmähliche Vergenossenschaftlichung der Schweiz vorantreiben würde?
Genossenschaften einer Genossenschaft zu unterstellen, wäre rechtlich kompliziert, und am Sinn der Sache würde sich nichts ändern.

Genossenschaftlichkeit ist doch nicht nur eine Frage der Verteilung von Besitz, sondern auch der Machtstrukturen?
Das ist richtig. Die regionalen Migros-Genossenschaften besitzen zusammen ja den MGB. Wir sind also ein Koordinations- und Führungszentrum. Das oberste Entscheidungsgremium im MGB ist die Delegiertenversammlung (DV), in die jede Genossenschaft ihre Leute schickt.

Bei den Wahlen in dieses formell höchste Gremium stellen die regionalen Genossenschaftsräte immer Einheitslisten auf: Wie schafft man es auf eine solche?
Das soll ja ein Thema sein, habe ich in der WOZ gelesen. Ich nehme an, die Delegierten werden im Normalfall über das Bekanntennetz rekrutiert.

Und dabei entstehen Einheitslisten ...
... ach wissen Sie, es gibt ja Amtszeitbeschränkungen. Und besonders kämpferisch ging es in meiner Zeit wirklich nie zu und her.

Warum eigentlich nicht? Theoretisch sollte der Einsitz im obersten Entscheidungsgremium des orangen Riesen doch eine begehrte Sache sein.
In der Regel finden die Ausscheidungen vor den Wahlen statt.

Sollte man besser nicht von offenen Wahlen reden?
Richtig. Es kann auch nicht jeder teilnehmen.

Man muss Genossenschafter werden – eine Formalität –, um wählen zu dürfen. Und nach einem Jahr als Genossenschafter ist man wählbar.
Ja. Und dann wird man sie befragen. Weil man das Gefühl haben will, dass sie einen positiven genossenschaftlichen Geist entwickeln können.

Nach einer persönlichen Befragung kommt man per Einheitsliste in ein Kontrollgremium, das sich unseres Wissens noch nie gegen die Verwaltung auflehnte – sind das nicht demokratische Verhältnisse wie in der DDR?
Schon nicht. Aber es wäre auch vermessen, die Migros mit einer direkten Demokratie zu vergleichen. Die Migros ist ein wirtschaftendes Unternehmen, ihre hohe Leistungskultur darf nicht durch irgendwelche Scherze aufs Spiel gesetzt werden.

Klar. Aber was bedeutet Demokratie für Sie oder die Migros im Alltag? Ist das etwas, womit man sich leider arrangieren muss, weil es da ist?
Ich möchte nicht das Wort Demokratie voranstellen, sondern eher von der genossenschaftlichen Idee sprechen. Der fühlen wir uns verpflichtet, indem wir uns fragen, wofür die Migros da ist: für günstige Produkte, für das kulturelle Leben, für gute Arbeitsbedingungen.

Wir haben den Eindruck, dass die Migros in den letzten Jahren an Visionen verlor. Sie sagen gern, dass eine starke Migros sich an den Realitäten orientieren müsse, am Arbeitsmarkt etc. Gottlieb Duttweiler dachte umgekehrt. Er wollte eine starke Migros, um damit die Realität zu verändern. Sein Motto war «Die Fantasten sind die wahren Realisten». Darum hat er mit dem LdU auch eine politische Partei geschaffen.
Eine eigene Partei zu betreiben oder zu fördern, halten wir für nicht mehr zeitgemäss. Die sozialliberale Haltung der Migros aber blieb, auch in der Unternehmenskultur. Und was erwähnten Sie noch von Duttweiler?

«Die Fantasten sind die wahren Realisten.» Die Idee, mit der Migros die Arbeitswelt zu gestalten.
Das sind Zitate. Und da stecken gefährliche Gedanken drin. Denn niemand kommt gegen einen Trend auf, kein Staat und keine Migros. Wenn die Frauen keine Kinder mehr wollen, dann wollen sie einfach keine Kinder mehr. Wie wollen Sie das verändern?

Wenn die Migros ein grosses Kinderkrippenprogramm starten würde, wäre das a) für die Migros interessant, vielleicht sogar finanziell, b) wäre es ein Zeichen c) bei der derzeitigen politischen Diskussion eine Frechheit und d) genau das Richtige. Sie könnten sagen «Wir schaffen in der Schweiz so viele Krippenplätze, wie Schweden schon hat», nämlich Plätze für achtzig Prozent der Kleinkinder.
Da wende ich nichts ein. Eine Gesellschaft, die sich nicht mehr reproduziert, muss ein familienfreundlicheres oder frauenkarrierenfreundlicheres Umfeld schaffen.

Wie wärs, wenn Sie im Kader nur noch Teilzeitstellen anbieten würden?
Das sind so theoretische Gedanken. Wenn Sie mich fragen, warum die Migros die Arbeitszeiten nicht stärker flexibilisiert, auch die der Kader, dann ist die Frage für mich okay.

Dann ist sie aber auch sehr langweilig und sehr neutral.
Wenn wir brauchbare Programme zur Förderung von Frauenkarrieren entwickeln können, bin ich sofort dabei. Mit dieser Einsicht tue ich mich nicht schwer.

Führen Sie in der Migros-Spitze interne Debatten über solche Trends? Diskutieren Sie Visionen?
Als Marktführer können wir die neuen Möglichkeiten in einer sich verändernden Gesellschaft untersuchen. So sind wir beispielsweise mit dem Internetportal LeShop eine Partnerschaft eingegangen, um Leute in Zeitnot oder immobile Menschen bedienen zu können. Auch in der ethischen Dimension geschieht sehr viel, zum Beispiel unser Engagement zur ökologischen und sozialen Herstellung von Palmöl, das von der Uno ausgezeichnet wurde.

Sie sind 62 und möchten noch einige Jahre im Amt bleiben. Was wollen Sie noch erreichen? Und welches Projekt macht Ihnen am meisten Spass?
Mir macht die Migros und die Aufgabe als solche Spass. Es gibt eigentlich keine Aufgaben, die ich nicht lieben würde.

Haben Sie nie das Gefühl, es wäre interessant, mit der Migros noch ein, zwei grosse Zeichen zu setzen? Zwei wilde Projekte? Die Krippensache zum Beispiel? Oder eine eigene Krankenkasse?
Was Sie da ansprechen, ist mir ein Anliegen. Es gärt. Ich kann Ihnen nur noch nichts Fertiges präsentieren.

Der Migros-Chef

Anton Scherrer, wuchs auf einem Bauernhof auf, studierte Ingenieur-Agronomie, dissertierte über die «Bakteriellen Ursachen schlechter Biergeschmäcker» und leitete von 1984 an die Brauerei Hürlimann. 1991 wechselte er als Chef der konzerneigenen Industriebetriebe zur Migros. Es folgten zehn Jahre in einem Dschungel unzähliger Migros-Gremien. (Zehn Genossenschaften werden von einem mit ihren Chefs bestückten Gremium kontrolliert, das wiederum eine Art Bundesrat delegiert, der von weiteren spezialisierten Ausschüssen beraten wird – ganz zu schweigen von zehn regionalen Parlamenten und einem aus diesen delegierten Parlament.)
2001 wurde Scherrer eher überraschend nach heftigen Machtkämpfen an die Spitze der Migros gewählt. Gegen den Widerstand der konzerneigenen Stiftung führte er eine Verwaltungsreform durch. Ihre wichtigsten Punkte: Scherrer selbst als erster CEO der Migros, die Abschaffung des Initiativrechts sowie höhere Kaderlöhne.
Scherrer Hobbys sind klassische Musik und die Jagd: Rehe, Wildschweine, Füchse.