Tagebucheintrag vom Weltsozialforum in Dakar: Afrika in Bewegung

Nr. 5 –

Peter Niggli

Wer immer noch glaubt, dass die AfrikanerInnen den Anschluss an die «Dynamik der Globalisierung» verpassen, weil sie kulturell behindert seien, sollte wieder mal eine Reise in den schwarzen Kontinent unternehmen. Meine Partnerin und ich sind nun seit fünf Wochen unterwegs; zur Einstimmung durch Burkina Faso und zum Abschluss am Weltsozialforum im Senegal. Wir trafen auf Gesellschaften in starker Bewegung und Politisierung. Keine Spur von der Orientierungslosigkeit und stiller Wut, mit der viele EuropäerInnen und AmerikanerInnen auf die globale Finanz- und Wirtschaftskrise reagieren.

Das war spürbar schon in den Dörfern – im langsam austrocknenden Sahel und in klimatisch bevorzugteren Gegenden. Vielerorts sind Dorfgemeinschaften daran, die Fruchtbarkeit ihrer landwirtschaftlichen Böden durch einfache bezahlbare Methoden zu verbessern. ViehzüchterInnen rehabilitieren ihr Weideland durch Wasserrückhaltebauten und handeln parallel dazu Reglemente aus, wie gemeinsam genutzt und für Futterzwecke bewirtschaftet werden darf, um Konflikte und Übernutzungen zu vermeiden.

Sie werden dabei durch Myriaden von lokalen Vereinigungen unterstützt, die in den letzten zehn, fünfzehn Jahren entstanden sind. Die Vereinigung Nodde Nooto in Dori (Burkina), um ein Beispiel zu nennen, führt ihre Entstehung auf zwei Gründe zurück: (1) Auf die grossen Dürren im Sahel in den siebziger und frühen achtziger Jahren und (2) auf die strukturelle Anpassung, welche die Weltbank Burkina zu Beginn der neunziger Jahre verordnet hatte. Mit der Dürre seien ausländische Hilfsorganisationen in ihrer Gegend ausgeschwärmt. Ein Teil der Mitglieder haben mit diesen gearbeitet, von ihnen gelernt, aber auch den Eindruck gehabt, sie könnten es selbstbestimmt besser machen. Mit der strukturellen Anpassung habe der Staat Tausende von Staatsangestellten entlassen – darunter den ganzen Apparat der landwirtschaftlichen Beratungs- und Vermarktungstellen. Einige dieser Agrarfachleute sind Mitglieder von Nodde Nooto geworden. Nach sieben Jahren suchten sie den Kontakt zu Abdoulaye Tarnagada, einem in Burkina bekannten Agrarspezialisten und Vertreter des Schweizer Hilfswerks Fastenopfer, um zusätzliche Fachunterstützung zu erhalten.

Gleichzeitig sind die Dorfgemeinschaften, mit denen Nodde Nooto arbeitet, daran, mit den Lokalbehörden Investitionsbeiträge auszuhandeln, um die Wasserversorgung zu verbessern und die Bodenverbesserungsarbeiten zu unterstützen. Wir nahmen an einer Dorfversammlung im Freien teil, an der Männer und Frauen für 2011 zeitlich und personell die Fortführung ihrer Bodenverbesserungsarbeiten planten. Die Versammlung verlief äusserst lebendig – alle sprachen mit, zwischendurch wurde es heftig und mehrstimmig. Wir befürchteten, den ganzen Tag zu verplempern, ohne Resultate zu sehen. Nach vier Stunden war der Jahresplan jedoch vereinbart.

Im Senegal hatten wir Gelegenheit, mit der Führung des regierungsunabhängigen Bauernverbandes zu sprechen, der in seinen Anfängen vom lokalen Büro der Schweizer Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza) unterstützt worden ist. Ähnliche Verbände gibt es heute in Mali, Burkina Faso und anderen westafrikanischen Staaten. Ihr Credo – wir sind nicht arm und elend, wir brauchen keine Nahrungsmittelhilfe, um zu überleben. Wir können uns selber und die ganze Bevölkerung versorgen, wenn wir von unseren Staaten nur schon einen Bruchteil der Unterstützung erhielten, den die europäische oder amerikanische Landwirtschaft geniesst. Zusammen lobbyierten sie in den letzten Jahren bei den Behörden der westafrikanischen Zoll- und Währungsgemeinschaft. Sie kämpfen für die Wiedereinführung eines gewissen Zollschutzes gegen die oft subventionierten Nahrungsmittelimporte (mit einem ersten kleinen Erfolg). Und sie überzeugten ihre Regierungen, den Abschluss der sogenannten Partnerschaftsverträge, welche die EU mit den ehemaligen europäischen Kolonien abschliessen wollte, abzulehnen. Diese hätten sogenannte Entwicklungshilfe mit einem weitgehenden Freihandelsabkommen verknüpft.

Offen bleibt die künftige Ausrichtung der Landwirtschaftspolitik. Die Bauernverbände wollen, dass die real existierenden BäuerInnen – die Familienbetriebe – ins Zentrum gestellt werden. Die Regierungen wünschen, die Landwirtschaft künftig als Agrobusiness aufzustellen und fördern deshalb die Übernahme grosser Ländereien durch einheimische Geschäftsleute und ausländische Unternehmen oder Staaten. Was die formlose Enteignung und Vertreibung der BäuerInnen zur Folge hat. Das war eines der heissesten, wenn nicht das heisseste Thema am Sozialforum. Landkämpfe sind im Senegal und in Mali überall im Gang, und an einigen Orten ist die Regierung angesichts des Widerstands zurückgekrebst.

Uns beeindruckte bei diesen Begegnungen mit BäuerInnen und BauernpolitikerInnen die rhetorische Kraft und analytische Schärfe. Worte werden nicht mühsam zusammengesucht und hervorgestammelt, hier hat man Freude am raschen eindringlichen Formulieren, an der gelungenen Metapher und am Witz, der die ZuhörerInnen zum Lachen bringt. Das gilt ebenso für die Intellektuellen, die sich vor akademisch verschraubten Formulierungen hüten.

Es passte zur Erfahrung einer bewegten, politisierten Gesellschaft, dass unsere GesprächspartnerInnen sich über den Sturz Ben Alis in Tunesien freuten und in den letzten zwei Wochen die ägyptische Revolution verfolgten, wie wenn es sie selber beträfe. Die Volksbewegungen in Nordafrika werden in Westafrika gerne auch als Drohung verwendet – seht her, ihr Herrschenden, was geschieht, wenn ihr nicht auf die Proteste des Volkes hört! Tatsächlich rechnen unsere GesprächspartnerInnen jedoch nicht mit Revolutionen in ihren Ländern. Der politische Raum im Senegal ist zu offen organisiert, die Spielräume der sozialen Bewegungen und politischen Kräfte, ihre Anliegen voranzutragen, zu gross, um die explosive Stimmung zu erzeugen, welche der tunesische und ägyptische Polizei- und Folterstaat (und der saudische, libysche oder syrische) in den letzten dreissig Jahren aufgestaut hat. Das Regime in Burkina Faso gewährt weniger Spielräume, hat jedoch gedankenpolizeiliche Praktiken eingestellt und toleriert eine freie zivilgesellschaftliche Organisierung und Meinungsäusserung, solange sich die Presse nicht mit den Praktiken beschäftigt, mit denen Präsident Blaise Compaore und sein weiterer Familienkreis seit 24 Jahren das Vermögen mehrt. Bei den nächsten Wahlen 2015, zeigten sich unsere GesprächspartnerInnen überzeugt, werde er nicht mehr gewählt. Ça suffit! sagten sie uns – gleich wie die beiden jungen Ägypterinnen, die an einem Workshop gestern abend über die Motive, Ziele und Organisierung der Hunderttausenden von DemonstrantInnen in Kairo berichteten.