Bericht vom Weltsozialforum Belém (20.1.2009): Brasilianische Begegnung – und ihr Bezug zur Schweiz

Nr. 5 –

Walter Suter

Die Ankunft in Belém, dieser Metropole im nordöstlichen Amazonien Brasiliens, hat uns schweizerische TeilnehmerInnen am diesjährigen Weltsozialforum (WSF) auf einen Schlag in die vielfältige Realität unseres Planeten versetzt. Plötzlich erhält das Wissen um die globalen Unterschiede konkrete Konturen. Sie wird als Wirklichkeit fassbar und verhilft uns – beinahe körperlich spürbar – zu einer neuen Wahrnehmung der Umwelt: Zeitgleich mit den winterlichen Verhältnissen zuhause steckst Du mitten in dieser heiss-feuchten, tiefgrünen tropischen Stadt, siehst Schritt auf Tritt die Kontraste von arm und reich und begegnest der Vielfarbigkeit von Menschen, Vegetation und Stadtbild.

Kurzum, das WSF findet am richtigen Ort statt: Nicht die sterile weisse Farbe des Weltwirtschaftsforums, sondern das Pittoreske und das Lebendige prägen das Treffen von 80'000 Menschen, die ohne Ansehen von Hautfarbe, kultureller Herkunft oder Religion gemeinsam den Aufbruch in eine Zukunft gestalten wollen. Sie haben die Solidarität, das heisst das Teilen zwischen allen BewohnerInnen der Erde, und nicht die Habgier mit all ihren verheerenden Folgen wie Ausbeutung, Unterdrückung und Krieg, zu ihrem Leitstern erkoren. Die WSF-TeilnehmerInnen sind – in der gegenwärtigen weltweiten finanziellen und wirtschaftlichen Krise nun noch deutlicher – der Überzeugung, dass «eine andere Welt möglich ist».

Eine Basisgemeinschaft entsteht

Dank Heks, E-changer und Alliance Sud erhielten wir Mitglieder der schweizerischen Delegation Einblicke in den konkreten Aufbau dieser «anderen Welt» auf lokaler brasilianischer Ebene. Hier ein Beispiel: Im Bewusstsein, dass alle Menschen Mitverantwortung für die Gestaltung ihrer Lebensbedingungen und jene ihrer Gemeinschaft als Ganzes tragen, haben BewohnerInnen einer besuchten Gemeinde vor etwa zwanzig Jahren beschlossen, ihre bisherige Empfänger-Haltung gegenüber Staat und Unternehmertum aufzugeben und das Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen. Die dort vorherrschende Zuckerindustrie hatte damals wegen veränderter Marktbedingungen den Betrieb eingestellt und die Arbeitsplätze für die Lokalbevölkerung ersatzlos gestrichen.

Folge: Durch gezielte Aus- und Fortbildung sowie Vernetzung sind Frauen und Männer zu selbständigen Kleinbäuerinnen, FischerInnen, aber auch SchiffbauerInnen geworden, die in der Lage sind, die Erzeugnisse ihrer Arbeit auf dem lokalen Markt zu existenzsichernden Bedingungen abzusetzen. Und durch die Kooperation mit gleichgesinnten sozialen Organisationen auf nationaler Ebene haben die InitiantInnen an Einfluss auf die öffentliche Politik gewonnen. So ist vor kurzem zum ersten Mal einer der ihren zum Bürgermeister gewählt worden. Einer, der die Anliegen der Basisgemeinschaft auch auf staatlicher Ebene vertritt.

Eine ebenso wichtige, für die längerfristige Wirkung dieser «anderen Welt» gar entscheidendere Konsequenz dieser Gemeinschaftsarbeit, scheint mir die Tatsache zu sein, dass die Beteiligten das Bewusstsein erworben haben, Mitgestaltende der gemeinsamen und eigenen Zukunft zu sein. Sie handeln selbst- und nicht mehr fremdbestimmt und sind jetzt Subjekt, nicht Objekt des Staates. Damit verbunden ist das aus meiner Sicht Wertvollste: Diese Menschen erfahren endlich den Respekt vor ihrer angeborenen Würde und erwerben ein neues Selbstwertgefühl, das sie befähigt und ermächtigt, künftig als Bürgerinnen und Bürger ihres Staates aktiv an der Gestaltung der sie betreffenden Politik zu partizipieren.

Basisdemokratie – nicht verkrustet

Als Bürger der Schweizerischen Eidgenossenschaft, die auf eine über 130-jährige, ununterbrochene Erfahrung direkter Referendums-Demokratie zurückblickt, kommt bei mir angesichts der Verhältnisse in dieser Amazonasgemeinde unwillkürlich der Wunsch auf, Parallelen zu unserem eigenen staatsbürgerlichen Verhalten zu ziehen … Wenn ich auf die jeweils relativ geringe Stimmbeteiligung blicke und den jüngsten finanzpolitischen Staatsstreich von Bundesrat und Nationalbank in Rechnung stelle, bei dem diese unter Umgehung der zuständigen politischen Instanzen den Grossbanken über Nacht einen Kredit von 68 Milliarden Franken gewährt haben – dann scheint mir der Zeitpunkt gekommen, uns dringend und ernsthaft um die Erneuerung unseres Bewusstseins um die Bedeutung der partizipativen Demokratie zu kümmern.

Was zurzeit hier in Brasilien und anderswo auf dem lateinamerikanischen Kontinent an Energie und Dynamik bei der Umsetzung basisdemokratischer Strukturen zu beobachten ist, müsste eigentlich jedes helvetische Herz höher schlagen lassen. Wir dürfen also getrost vom neuen Lateinamerika, das hier am Weltsozialforum an vorderster Front kämpft, lernen und uns zu einer Wiederbelebung unserer leicht verkrusteten direktdemokratischen Gewohnheiten inspirieren lassen.




Walter Suter ist Mitglied der SP und war früher Botschafter der Schweiz in verschiedenen Ländern, zuletzt in Venezuela.

Diese Serie aus Belém ist ein Gemeinschaftsprojekt der WOZ und der Alliance Sud www.alliancesud.ch