Tagebuch aus Tunis: Wir sind WeltbürgerInnen! – Sind wir das?

Urs Sekinger

Was die diplomierten Erwerbslosen – die Diplômés chômeurs – vom Weltsozialforum (WSF) in Tunis denn erwarten, wird Belgacem Ben Abdallah, arbeitsloser Lehrer und Mitglied der nationalen Führung der Bewegung der Diplômés chômeurs, zum Ende seiner Ausführungen vor der Delegation aus der Schweiz gefragt. Er sei noch nie an einem Sozialforum gewesen, antwortet er, aber er hoffe, dass die Zehntausenden von Menschen, die in den nächsten Tagen hier zusammenkämen, ihre Erfahrungen austauschen und sich gegenseitig weiterbringen können. Die Arbeitslosigkeit beispielsweise sei kein nationales Problem, sondern ein globales, das gemeinsam angegangen werden müsse. Wir seien Weltbürger.

Die Schweizer Delegation logiert im Hotel Yadis Ibn Khaldoum. In den Tagen vor dem Forum trifft sie hier VertreterInnen von verschiedenen sozialen Bewegungen und Organisationen, um über die Lage im Land und die Erwartungen ans Forum zu diskutieren. Am 23. März ist ein Vertreter der Diplomés Chômeurs eingeladen. Es ist vielleicht eine Viertelstunde verstrichen, die mit Informationen zum WSF bestens ausgefüllt waren, als Belgacem atemlos im Raum erscheint und sich für die Verspätung entschuldigt. Erwerbslose seien in Tunis eben zu Fuss unterwegs, ein Taxi liege nicht drin und die öffentlichen Verkehrsmittel seien schlecht.

Doch dann legt er los: Über den Kampf der Diplômés Chômeurs gegen das Ben Ali-Regime, den Sieg im Januar 2011 und die Enttäuschung darüber, dass unter der islamistischen Ennahdah-Regierung in sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht alles weitergehe wie zuvor. Dabei müsste in der schwierigen Übergangszeit hier in Tunesien der Staat eine führende Rolle übernehmen und vor allem Arbeitsplätze schaffen. Insbesondere für die vielen Vierzigjährigen, die meist seit zehn und mehr Jahren erwerblos sind und deren Chance auf eine Stelle mit jedem Tag sinkt. Aber die aktuelle Regierung hänge nach wie vor einer neoliberalen Wirtschaftspolitik an und verkaufe funktionierende Staatsbetriebe lieber an ausländische Firmen, wodurch die Arbeitslosigkeit weiter zunehme.

Engagiert beantwortet Belgacem alle Fragen und strahlt dabei einen Optimismus aus, wo ich immer wieder staune, woher Menschen wie er diesen hernehmen. Er, der zu Fuss durch Tunis laufen muss, weil er an einer privaten Schule für vier Dinar (umgerechnet zwei Euro) pro Tag arbeitet, was nicht zum Leben reicht.

Auf die Migration von jungen Menschen aus Tunesien nach Europa angesprochen, wird Belgacem nachdenklich, überlegt einen kurzen Augenblick und antwortet mit einer kleinen Geschichte: Kürzlich sei er an ein Treffen von Erwerbslosen nach Marseille eingeladen worden. Etwa 120 Euro habe allein das Visum gekostet. Bei der Einreise hätten die Beamten ihn gefragt, ob er ein Rückreisebillet habe, von wem genau er eingeladen sei, wo er wohne. Es sei ihm vorgekommen wie bei einem Polizeiverhör unter der Ben Ali-Diktatur, ohne jeglichen menschlichen Respekt. Sind wir WeltbürgerInnen? Belgacem, wir sind in Tunesien angekommen, danke!