Tagebuch-Eintrag vom Weltsozialforum in Dakar: Wie die FischerInnen zu überleben versuchen
Am Dienstag ist die 55-köpfige Schweizer Delegation in Dakar eingetroffen, wo das Weltsozialforum 2011 (6. bis 11. Februar) stattfindet. Mit dabei sind sechs ParlamentarierInnen (vier grüne Nationalratsmitglieder und zwei von der SP), eine Gewerkschaftsgruppe von der Unia, eine Handvoll Medienleute und zahlreiche VertreterInnen verschiedener nichtstaatlicher Organisationen (NGOs). Ich habe die Ehre, diese bunte Truppe – die grösste, die von der Schweiz je an ein Weltsozialforum reiste – zu koordinieren, zusammen mit KollegInnen von E-Changer, Fastenopfer und Heks.
Es ist Tradition, dass wir vor dem eigentlichen Forum unser eigenes Besuchsprogramm absolvieren. Das gibt uns Gelegenheit, die sozialen und politischen Realitäten des jeweiligen Gastlandes kennenzulernen, als etwas zu schnuppern. Das ist bei Senegal speziell interessant, denn welche Medien berichten in der Schweiz schon über Westafrika?
Natürlich sind die Aufstände in Tunesien und Ägypten bei politisch interessierten Menschen auch hier ein grosses Thema. Bei allen Unterschieden hoffen so manche auf eine Sogwirkung. Gründe dafür gäbe es auch hier genug.
Von den Sorgen, welche die Menschen Senegals plagen, erzählten uns heute Morgen die charismatische Aktivistin und Landwirtschaftsspezialistin Mariam Sow von der NGO Enda Pronat und der linke Oppositionspolitiker Ibrahmine Sène. Sie berichteten etwa von den dauernden Stromunterbrüchen, welche den BewohnerInnen der Grossregion Dakar dermassen das Leben erschweren, dass sie mitunter mit Strassenblockaden und Barrikaden gegen das Versagen des Staates protestieren. Viele Menschen können bloss dank prekären Aktivitäten im informellen Sektor mehr schlecht denn recht überleben; fast zwei Drittel der Bevölkerung gilt als unterbeschäftigt. Die bäuerliche Landwirtschaft ist von diversen «Modernisierungsprogrammen» zugrunde gerichtet, die die Weltbank, der Internationale Währungsfonds IWF und andere internationale Agenturen vorangetrieben haben. Sie vermag die Menschen schon lange nicht mehr zu ernähren. Über die Hälfte der Nahrungsmittel muss importiert werden, fast ein Drittel der Bevölkerung kann sich nicht mit genügend Kalorien versorgen.
Und trotzdem bietet die Regierung Hand für eine riesige Landnahme durch die Saudis. Die wollen im fruchtbaren Gebiet des Senegalflusses auf 200 000 Hektaren Reis anbauen lassen; siebzig Prozent der Ernte soll nach Saudi-Arabien exportiert werden, die heutigen Bauern und Bäuerinnen finden sich bestenfalls als Lohnabhängige wieder. Eine «Win-win-Situation» nennt die Weltbank solche Landnahmen.
Wenig Grund zur Zuversicht haben auch die Verantwortlichen von Fenagie, einem Zusammenschluss von Interessengruppen des Fischereisektors. Um uns den potenziellen Reichtum dieser Branche sinnlich nachempfinden zu lassen, haben uns die Fenagie-Leute zuerst zu einer Degustation eingeladen. Obwohl die Fischerei nur gut zwei Prozent ans Bruttoinlandsprodukt beisteuert, ist sie für viele SenegalesInnen lebenswichtig: Ein Sechstel der aktiven Bevölkerung findet hier ein Auskommen, und das, was sie fangen und verarbeiten, liefert siebzig Prozent der verzehrten Proteine. Doch die einst reichen Fischgründe Senegals sind völlig überfischt, der Ertrag hat drastisch abgenommen.
Auf Druck der kleinen Fischer hat sich die Regierung zwar geweigert, ein Abkommen mit der EU zu erneuern, das der Europäischen Union einst gegen ein bescheidenes Entgelt Fischereirechte in senegalesischen Gewässern übertrug. Doch Senegal, so erklärt uns Fenagie-Generalsekretär Samba Gueye, ist nicht in der Lage, die Gewässer wirklich zu kontrollieren. Viele Fischer, vor allem junge, versuchten über das Meer der Armut und Perspektivlosigkeit zu entkommen. Doch selbst diese Lösung – wenn man das überhaupt eine Lösung für ihre Probleme nennen kann – ist ihnen heute verwehrt: Die Küsten werden mit Unterstützung der EU rigoros überwacht. Der Landweg über Marokko oder Libyen nach Europa ist ebenfalls dicht.
Fenagie ist Mitglied der internationalen Kleinbauernorganisation Via Campesina. Sie versucht, Strategien für eine nachhaltigere, stärker regulierte Fischerei zu entwickeln und durch Selbsthilfe die Verdienstmöglichkeiten der vom Fischfang abhängigen Menschen zu verbessern. Dabei hat sie keineswegs nur die Fischer im Blick, eine auch in Senegal traditionelle Männerdomäne. Denn sechzig Prozent ihrer 16 000 Mitglieder sind Frauen. Sie verkaufen den Fang der Männer oder verarbeiten ihn weiter. Über fünfzig dieser Fisch-Verarbeiterinnen bereiten uns in Mbao, unweit von Dakar – in wunderschöne, traditionelle Gewänder gehüllt – einen herzlichen Empfang. Rund 130 Frauen der Lebou-Ethnie arbeiten dort auf einem weiten Gelände. Am Strand räuchern sie in kleinen, glimmenden Häufchen aus Pflanzenabfällen, Karton, Holz und Sand einen Tag lang Sardinien. Dann säubern und köpfen sie sie, salzen sie grosszügig ein und trocknen sie auf geflochteten Bastmatten zwei Tage lang an der Sonne. Das Resultat ist ein sehr protein- und salzhaltiges Lebensmittel, das sechs bis acht Monate lang aufbewahrt werden kann.
Reich werden die Frauen damit nicht. Aber dank ihrer Selbstorganisation (die unter anderem vom Schweizer Hilfswerk Fastenopfer unterstützt wird) gelingt es ihnen immerhin, die harte Zeit der «soudure» (die «Durststrecke» im Winter bis zur nächsten Ernte beziehungsweise zu besseren Fangerträgen) zu verkürzen und eine Verschuldung zu Wucherzinsen zu vermeiden. Das tönt nach wenig, aber für viele ist es existenziell.
Pepo Hofstetter arbeitet bei Alliance Sud und koordiniert die Schweizer Delegation am Weltsozialforum 2011 in Dakar.