Tagebuch-Eintrag vom Weltsozialforum in Dakar: Touche pas à ma terre!
Das Weltsozialforum ist nicht nur der Ort von täglich mehr als 500 Veranstaltungen, Diskussionsrunden und Vernetzungstreffen. Das Weltsozialforum ist auch ein Ort der Begegnung, des kulturellen Austausches und der Demonstrationen vieler Anliegen sonst von der Welt vergessener Volksgruppen. Das Markttreiben auf dem Universitätsgelände wird jeden Tag grösser, die Vielfalt der angebotenen, meist westafrikanischen Spezialitäten wie Speisen, Süssigkeiten, Stoffen, Kleider, Schmuckstücke, handwerklicher Kunst und Raritäten immer grösser.
Ich habe noch nie in meinem Leben auf so kleinem Raum fast die ganze Welt getroffen! Oft denke ich (und hoffe es), dass genau dieser friedliche, dynamische und inspirierende Austausch der Anfang für eine andere, gerechtere Welt sein könnte. In diesen Momenten würde ich mir wünschen, dass genau diese Stimmung und Hoffnung auch meine Kinder und viele andere Jugendliche aus der Schweiz erleben könnten.
Dieser Weltbasar macht das Sozialforum gerade zu dem, was es sein soll. Es ist eben kein abgehobenes Meeting von Staatschefs in formell abgehaltenen Sitzungen mit anschliessenden Pressekonferenzen, wo die Resultate verkündet werden. Es ist zuerst einmal ein Austausch der Betroffenen über ihre Probleme, dann ein gemeinsames Suchen nach Lösungen. Hier wird nichts von oben nach unten diktiert.
Dass solche Veranstaltungen aber genau so wohlgeordnet und gut organisiert ablaufen können, haben gestern die Organisatoren einer Konferenz zum Thema des bäuerlichen Landverlustes in Westafrika durch Grossgrundbesitz und Spekulation aufgezeigt. Die Grünen des EU-Parlamentes luden zusammen mit der afrikanischen Konsumentenorganisation in den grossen Saal einer Kirche. Sie war bis in die hinterste Reihe gefüllt mit aufmerksamen Bauern und Bäuerinnen aus ganz Westafrika. Es war eindrücklich, wie die sieben Vertreter von lokalen Bauernorganisationen ihre Situation vor Ort schilderten, immer wieder von Beifall unterbrochen.
Sie erzählten uns, dass viele BäuerInnen ihr Landwirtschaftsland wegen ihrer Verschuldung und oft auch aufgrund des Drucks von lokalen geistlichen Führern (Marabouts) verkaufen müssen. Oft sind es die Marabouts selber, die dieses Land aufkaufen und dann an ausländische Unternehmen absetzen. Es entstehen Grossplantagen, deren Gemüse oder Obst für den Export bestimmt ist und die Preise der kleinbäuerlichen Produkte drücken. Nicht selten werden so Bauern zu Landarbeitern und arbeiten auf ihrem ehemaligen Land für zwei Euro am Tag. Es stellt sich hier die entscheidende Frage: Export oder die Ernährung der eigenen Bevölkerung? Und wie ist es möglich, dass dieses Landwirtschaftsland auf diese Art geraubt wird?
Das grösste Problem ist, dass nirgends schriftlich festgehalten ist, wem das Land gehört. Die Familien in den Dörfern haben sich während vieler Jahrhunderte das Land aufgeteilt und an die nächste Generation weitergegeben. Es gibt kein Grundbuch wie bei uns, keine Raumplanung. Will eine Bauernfamilie ihr Land vermessen lassen, dann kann sie diese Kosten nicht bezahlen. Wer über grosse Ländereien verfügt, hat hingegen keine finanziellen Probleme und kann oft sogar noch auf staatliche Hilfe zählen. Die Bauern und Bäuerinnen sind verzweifelt, weil diese Landwegnahme in den letzten Jahren zunimmt.
In der engagierten Diskussion unter den KonferenzteilnehmerInnen über mögliche Lösungen wurde klar, dass es mehr Fakten braucht, aber auch mehr Aufklärung in den Dörfern. Es braucht gemeinsamen bäuerlichen Widerstand. Es braucht die politische Forderung an den Staat nach einer Raumplanung und Ordnung der Besitzverhältnisse, die der ländlichen Bevölkerung ihre angestammten Rechte der Existenz garantiert. Und dies, so wurde zu Recht festgehalten, ganz im Interesse aller. Denn die Bauernfamilien sind diejenigen, die bis heute in Afrika und überall auf der Welt die Menschheit zum überwiegenden Teil ernähren. Auf den T-Shirts senegalesischer Bauernorganisationen steht daher zu recht: «Touche pas à ma terre – La terre c’est ma vie!» Auf Deutsch übersetzt: «Hände weg von meinem Land – Das Land ist mein Leben»