Es sah aus wie die Feier der PortugiesInnen nach dem Finaleinzug 2004, glich zahlenmässig der FCZ-Meisterfeier 2006, war ein Vorgeschmack auf die Europameisterschaft 2008 und hatte dennoch mit Fussball nichts zu tun: das Fest der Kosovo-AlbanerInnen auf dem Zürcher Helvetiaplatz vom vergangenen Sonntag. Zu Tausenden waren sie gekommen, um die proklamierte Unabhängigkeit ihres Landes zu feiern. Männer drückten in stehenden Autos auf die Hupen, Frauen und Kinder schwenkten Fahnen aus den Fenstern, Jugendliche kletterten auf Bäume, Denkmäler, Ampeln, ältere Paare hielten rot-schwarze Schals in die Höhe, über ein Verkehrsschild war ein Trikot der albanischen Nationalmannschaft gestülpt. Gleichentags in Belgrad: «Mehrere Hundert Fussballhooligans lieferten den serbischen Ordnungskräften an diversen Schauplätzen gewalttätige Auseinandersetzungen.»
Einst kaufte sich Silvio Berlusconi die AC Milan und machte die Fussballlosung «Forza Italia» zum politischen Programm. Heute weist beinahe jede Menschenansammlung Anleihen aus dem Fussball auf. In Belgrad, wo die erwähnten Anhänger von Roter Stern und Partizan gewaltsam gegen einen unabhängigen Kosovo demonstrierten, glich der Wahlkampf Tadic-Nikolic einem Derby, wenn auch ohne die üblichen Verletzten: Fahnen und Transparente hier, Leuchtfackeln, Gesänge und Schlachtrufe dort. Als Johannes Paul II. selig zum letzten Mal Deutschland besuchte, drängten sich jugendliche Eiferer ans Absperrgitter und skandierten «Johannes Paul der Zweite, wir stehn auf deiner Seite» – ein Bild wie aus dem Stadion. Am SVP-Aufmarsch vom vergangenen Oktober in Bern blies der Haustrompeter der Nationalmannschaft zum Marsch, und die Chäppli und T-Shirts mit Schweizer Kreuz, mit denen sich die UmzugsteilnehmerInnen von allem Ausländischen abzugrenzen versuchten, waren dieselben, die die Nati-Fans 2006 an der WM in Deutschland trugen.
Doch es sind nicht nur Demonstrationen und Feiern, an denen fussballspezifische Gepflogenheiten zu beobachten sind. Der Fussball ist überall, er durchdringt sämtliche Lebensbereiche. Zeitungen, auch die kostenpflichtigen, lassen in ihren Titeln Manager ins Abseits laufen, reden von Foulspielen, Coachs, Anhängern, wähnen Verhandlungen in der Nachspielzeit, lassen PolitikerInnen kontern oder (zum Beispiel in der WOZ) die Belegschaft in Inseraten ganzseitig als Fussballteam auflaufen. Von Postfinance habe ich als Geschäftskonto-Inhaber kürzlich eine Einladung zu einem Abend mit Exschiedsrichter und Kleinunternehmer Urs Meier erhalten. Der weitgereiste Weltbekannte werde auf inspirierende Art von seinen Erfahrungen erzählen. Urs Meier ist heute Schiedsrichterobmann und stellt in dieser Funktion öffentlich seine Exkollegen bloss, weil diese nebst vielen richtigen auch einige falsche Entscheide getroffen haben. Hätte Urs Meier mit Fussball nichts am Hut, käme Postfinance kaum auf die Idee, die Schweizer Geschäftswelt müsse sich genau von diesem Mann etwas sagen lassen.
Wer entzieht sich noch?, lautet die bange Frage. Niemand mehr, glaube ich. «For the game, for the world» heisst der neue Slogan der Fifa, und vor zwei Jahren lud mich selbst die Heilsarmee in grossen Lettern in ihr gesegnetes WM-Studio; Lahm Gottes, du nimmst hinweg die Sünde der Welt. Calcio, halleluja. Ausgerechnet in einer Rubrik, die dem Fussball wöchentlich huldigt, für eine Rückbesinnung zu plädieren, ist absurd. Doch fürchte ich, dass sich Fussball und Alltag nicht nur oberflächlich angleichen. Vorbehaltlos parteiisch sein, erklärt subjektiv, den andern nichts gönnen, sie verhöhnen, verspotten, verachten, auf Eigennutz bedacht, auch gegen die Regeln, solangs keiner merkt, Siege überheblich feiern, die Fehler bei den andern suchen, fluchen, ausrasten, abwinken, nach dem Totengräber rufen, wenn sich einer am Boden wälzt; das ist Fussball, und das kann der Fussball absorbieren. Im wirklichen Leben aber, da hat er nichts verloren.
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