Das Teilnehmerfeld steht, es könnte losgehen. Doch: Von Miesmacherei ist die Rede, von Kleinkariertheit und Defaitismus. Die Schweiz wolle sich partout nicht auf die EM freuen, beklagen Zeitungskommentare, und das sei nicht nur beschämend, sondern auch peinlich. Statt Euphorie: Zänkereien und Schwarzmalerei. Und das wenige Monate vor Beginn des drittgrössten Turniers, das die Sportwelt kennt.
In Basel legen sich Gastbetriebe am Rheinufer mit der Uefa an. Sie möchten während der EM gerne so arbeiten und ausschenken, wie sie das bis anhin getan haben, Sommer für Sommer, Jahr für Jahr. Die Uefa ist dagegen und verweist auf Sonderrechte. Sie schlägt den WirtInnen vor, die Terrasse an die Uefa zu verpachten, die Uefa-Getränkekarte zu übernehmen (gegen eine tägliche Gebühr im vierstelligen Bereich) oder die Wirtschaft mit einem Zaun von der Fanmeile abzutrennen. Drei Optionen, eine dreister als die andere. Ist, wer sich hier auf die Seite des lokalen Gastgewerbes schlägt, kleinkariert?
In Brügge, im Juni 2000, war auch EM. Fanmeilen gab es noch nicht und auch kein Public Viewing. Dafür «EURO 2000»-Guetsli zum Kaffee, inoffiziell und ambushig, aber nett. Von den schätzungsweise dreihundert Biersorten, die Belgien zu bieten hat, waren sämtliche zu haben, auch der «Straffe Hendrik», Brügges Braustolz. Die Stadt sah aus wie fünf Jahre zuvor, als ich mit dem Velo dort war, nur dichter bevölkert. Von den Kanalbrücken hingen keine McDonalds- oder Carlsberg-Transparente, sondern tschechische, spanische und englische Fahnen, die die Leute mitgebracht hatten. Abends bildeten sich um die Kneipen Trauben von Menschen, die einen Blick auf den kleinen Fernseher erhaschen wollten.
Brügge 2000 hatte etwas Normales, Überschaubares, trotz all der Leute. Auch in Portugal 2004 hatte ich als Besucher nicht den Eindruck, hier hätte sich ein Land in erster Linie auf Massenabsorption eingestellt. In Leiria stand zwar eine Leinwand mitten im Städtchen, doch hiess die damals noch «screen», nicht «public viewing». Rund um den Platz leerten kleine Bars und Kneipen ihre Vorratsräume; überwältigt vom Ansturm, aber bemüht, niemanden verdursten zu lassen. Ähnliches galt für Porto, Aveiro, Lissabon: Nirgends schien man gefasst auf diese Masse und diesen Durst, doch wurde gezapft und gebraten, so schnell es ging. Ich erinnere mich an das Eröffnungsspiel in einem Restaurant mitten in Lissabon, zur Zimmerstunde: Ein Kellner schmiss zusammen mit einem Hilfskoch das innert Minuten zum Bersten volle Lokal. Speisekarten waren längst hinfällig geworden, der Koch haute alles in die Pfanne, was die Vitrine hergab. Die Gäste warteten lange, aber sie warteten. Die Stimmung war gut.
2008, auf das sich so viele leider noch nicht freuen mögen, lockt mit kilometerlangen Ess-, Trink- und Spasszonen an bester Lage, alles durchorganisiert. Ausgeschenkt wird überall dasselbe. Man wird bereit sein, das Würstchen warm (oder auch nicht), das Bier mit Schaum (oder auch nicht), ruck zuck zack zack. 38 Jahre nach Cabaret Rotstifts identitätsstiftendem Deutschen-Bashing namens «Skilift» hat die Schweiz ein Ziel: so zu sein wie Deutschland 2006. Das gefällt nicht allen. Einige, AnwohnerInnen oder Gewerbetreibende, beklagen sich, sie seien nie gefragt worden. Doch auf einmal spielt das keine Rolle mehr. In einem Land, zu dessen Selbstverständnis gehört, das Volk anzuhören, wird plötzlich zum Miesmacher, wer Fragen stellt. Während der Street Parade, der als Demo getarnten Sommerfasnacht, fliehen viele Ortsansässige aus Zürich. Ihnen wurde noch nie Defaitismus vorgeworfen. Die Uefa Euro 2008™ verspricht, zur dreiwöchigen Street Parade zu werden. Warum ist, wems davor graut, Defaitist?
Wir organisieren den drittgrössten Sportanlass der Welt und würden nur die Mängel sehen. Seit ich diese Klage zum ersten Mal vernommen habe, suche ich nach ihrer inneren Logik. Ist Kritik umso weniger angebracht, je grösser der zu kritisierende Anlass ist? Wie gross darf ein Anlass maximal sein, damit Bedenken noch vorbehaltlos geäussert werden dürfen? Ab welcher Umsatzstärke und TV-Reichweite gilt Euphoriepflicht? Ist gross gut?
Es werden Leute zu uns kommen, Tausende. Sie werden laut sein, lustig und nett. Sie werden essen, trinken und in Brunnen pinkeln. Darauf freue ich mich, wenns dann soweit ist. Aber jetzt ist erstmal Winter.
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