Vor ein paar Jahren stand Jörg Stiel für eine Kultursendung vor der Kamera. Er lehnte an einen Torpfosten im Espenmoos und las der staunenden Monika Schärer laut aus Javier Marías' «Alle unsere frühen Schlachten» vor. Stiel trug eine randlose Brille und verhaspelte sich kaum. Inszeniert als intellektuelles Schlachtross eines einsilbigen Berufsstandes, war er Hoffnungsträger und Feigenblatt vieler Linken. Später, angestellt im Ruhrgebiet, kämmte er seine langen Haare mit viel Gel nach hinten und überraschte die deutschen Sportreporter, weil er als Schweizer Deutsch sprach und nicht unschlau schien.
Heute steht der ehemalige Nationaltorhüter als Pappfigur in der Migros herum, trägt eine Schürze und hält mit einer Grillzange eine Bratwurst in die Höhe. Die Brille fehlt. Am Abend muss er als Experte dem SF-Kommentator Dani Kern und den ZuschauerInnen vor den Fernsehern und Leinwänden erklären, was sie nicht schon selber wissen. Javier Marías klingt dabei nicht an, dafür das metallische Klappern einer Grillzange, die M-Budget-Würste wendet.
Der «Tages-Anzeiger» stellt fest, dass die SF-Sportreporter mit der Zuhilfenahme der Experten Finke, Polster, Fringer und Stiel an ihrer Selbstauflösung arbeiten und schrittweise verstummen. In Deutschland wären sie froh, hätten sie solche Probleme. In der «Frankfurter Rundschau» schreibt Autor Jürgen Roth: «Immer mehr Leute merken, dass wir im Irrenhaus sitzen.» Die Leute, die Roth meint, halten die Kommentatoren nicht mehr aus. Und Roth weiss, warum: «Sie sind dumm, schamlos, eitel. Sie können nichts, sie wissen nichts.» Johannes B. Kerner (ZDF) fülle «unverdrossen seinen Mund mit Wörtern, die sich gegen ihre Einspeichelung nicht wehren können». Monica Lierhaus spreche Bundestrainer Löw Respekt aus «für den Mut, sich ihren Fragen zu stellen. Derweil Rolf Töpperwien in Otto Rehhagels Enddarm verschwindet.»
Verschwunden ist nun auch Köbi Kuhn. Mitgeholfen, dass der Abgang kein elender wird, hat Hakan Yakin. Vor zwei Jahren hatte ihn Kuhn noch aus dem WM-Kader gestrichen mit dem kryptischen Verweis auf ungünstige charakterliche Voraussetzungen. Yakin war dann doch noch dabei, nachgerückt für Verletzte, charakterlich Einwandfreie.
Im April, sechs Wochen vor der EM, hörte ich in St. Gallen einen Vortrag zu Spielsystemen und Taktik im Wandel der Zeit, gehalten von einem langjährigen Verbandsinstruktor und angesehenen Techniker. Am Ende der Veranstaltung fragte ein Zuhörer, wie sich der Referent die Aufstellung im Testspiel gegen Deutschland erkläre, wo Barnetta statt auf der Seite im Zentrum hinter den Spitzen gespielt und die Schweiz so kolossal versagt hatte (0:4). Er könne sich, antwortete der unverdächtige SFV-Instruktor den gut hundert Anwesenden, die Massnahme eigentlich nur so erklären: Kuhn habe gehofft, das Experiment gelinge, um damit endgültig alle Rufe nach Hakan Yakin verstummen zu lassen.
Das Experiment misslang. Und dann verletzte sich Frei. Und so kam es, dass Hakan Yakin, der eigentlich unter keinen Umständen hätte spielen sollen, an der Europameisterschaft 2008 alle drei Tore für die Schweiz erzielte. Damit er sich dabei nicht zu gut fühlt, ist im Nachgang nun aber hauptsächlich von den andern dreien die Rede: von jenen, die er nicht gemacht hat. Von jenen, die jeder andere im Team, jeder aus dieser endlosen Reihe hochtalentierter Schweizer Offensivspieler und überhaupt jeder Geschminkte mit Crazy-Fan-Hut mit Sicherheit blind gemacht hätte.
Am Kiosk neben der Migros mit dem Karton-Stiel wirft sich Polo Hofer auf einer Packung Mars in Rockmusikerpose. Aber «Mars» heisst jetzt «Hopp», so wie «Raider» jetzt «Twix» heisst (und Haider «Wix», wie die «Titanic» einmal reimte). Tranquillo Barnetta beisst vor der Tiefkühltruhe dutzendfach in ein Tranquillo-Barnetta-Glacé-Sandwich. Aber bis jetzt wars zu kalt für Glacé. Das Tranquillo-Barnetta-Glacé-Sandwich sieht seinem Ablaufdatum entgegen. Zur falschen Zeit am falschen Ort.
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