Sie muteten ein bisschen seltsam an, die Solidaritätsbotschaften an die Adresse der Familie Sandri. Zu sehen waren sie in verschiedenen Stadien ausserhalb Italiens, auch in der Schweiz, und zu lesen war meist «Assassini» (Mörder) und «Ehre dem toten Gabriele» oder etwas in der Art. Gabriele Sandri, Anhänger von Lazio Rom, starb vor etwas mehr als zwei Wochen, getroffen von der Kugel eines Polizisten nach einer Rauferei mit Juve-Tifosi auf einer Autobahnraststätte. Der Polizist, der anfänglich von einem Versehen sprach, steht inzwischen unter Mordanklage. Was genau passiert ist, ist noch Gegenstand der Ermittlungen und wird vielleicht nie restlos geklärt werden.
Der Tod von Filippo Raciti ist ebenfalls noch nicht geklärt. Nachdem zu Beginn klar schien, der Polizist sei bei den Ausschreitungen in Catania im Februar dieses Jahres durch einen harten Gegenstand aus den Händen eines Ultra gestorben, geisterte irgendwann die Version durch die italienischen Medien, Raciti sei im Verlauf der Tumulte von einem Polizeifahrzeug überfahren worden. Während Ultras verschiedener Länder in der Causa Raciti nicht müde werden, die ungeklärten Umstände und die mutmassliche Unschuld der Fans zu betonen, gilt der Mord an Gabriele Sandri als Fakt.
Wer sich im Krieg «sie gegen uns» wähnt, lässt die Vernunft aussen vor. Mit der Familie Sandri zeigt man sich tief verbunden, weil Gabriele Fussballfan war. Das reicht als gemeinsamer Nenner. Wie er dachte, mit wem er verkehrte, wen er wählte, wo sein Herz schlug, egal. Er war «einer von uns». Die pathetische Pose, im heroischen Kampf gegen Polizeigewalt schon wieder einen tapferen Mitstreiter verloren zu haben, ist schwer auszuhalten. Ob Sandri selber sich gefreut hätte über die Instrumentalisierung seines Todes, fragt niemand; ist die Polizei im Spiel, lässt man Tote nicht ruhen. Gefangen im System des internationalen Ultratums, wird alles ausgeblendet, was die enge Sicht zu erweitern droht.
Immer enger wurde es auch in den Köpfen jener FCZ-Ultras, die nach zahlreichen Aktionen gegen Anhänger des Stadtrivalen schliesslich auf die Idee gekommen waren, bei einem der Feinde einzubrechen und ihn mitzunehmen, um auf diese Art ihre geklauten Fahnen zurückzuerhalten. Es war wohl ihr grosses Glück, kam ihnen die Polizei auf die Spur, sodass sie den Genötigten laufen liessen. Wozu sie in ihrer bizarren Sehnsucht nach grossstädtischen Ghetto-Verhältnissen letztlich imstande gewesen wären, möchte man sich lieber nicht ausmalen.
Was diese Zürcher Geschichte mit der Solidaritätswelle für Sandri verbindet, ist der dogmatische Irrglaube an die Unfehlbarkeit der Kurve und die Umnachtung, die dieser Glaube mit sich bringt. So ist – so vieles auch im Argen liegt bei der Bekämpfung der sogenannten Gewalt im Fussball – die Repression nicht an allem schuld. Und es ist zu bezweifeln, ob das Leid der Familie Sandri auch nur im Geringsten gelindert wird, wenn im Ruhrgebiet oder im Mittelland irgendwelche Scheinbetroffenen ihre Verschwörungstheorien auf Transparente malen.
Was das eigene Verhältnis zu gegnerischen Fans betrifft, bietet der Advent Zeit zur Besinnung. Eine Kurve, aus deren innerster Mitte Leute losziehen, um systematisch irgendwelche «Gegner» zu drangsalieren, hat ein Problem. Es liegt vielleicht darin, dass das Streben nach Vorherrschaft und Grösse zwangsläufig in Chauvinismus mündet. Und dass, wer den Gegner zu oft als «Scheisse» besingt, es irgendwann glaubt.
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