Jetzt, wo sie sozusagen da ist, zieht es mir plötzlich die Mundwinkel hoch. Zum ersten Mal gemerkt hab ichs in Basel, vor einem Monat. Es war heiss, ich ging zu Fuss vom Bahnhof zum Stadion, da sah ich die Wegweiser, frisch montiert, schöne Piktogramme, gastfreundlich, einladend. Ich wünschte mir, ich wäre ein Fremder, sei zu Besuch in dieser Stadt, in diesem Land, sei gekommen um Fussball zu schauen, mit Leuten zu reden, in der Sonne zu sitzen, in Flüssen zu baden, Kneipen zu entdecken, den Durst zu stillen. Nüchtern betrachtet ist die Schweiz wohl keine so schlechte Destination für Fussballreisende, obwohl das Bier hier viermal so viel kosten wird wie vor vier Jahren in Portugal. Aber ich bin kein Fussballreisender, dieses Jahr nicht. 2012, daran halte ich mich fest. Odessa 2012.
Es hat ja keinen Sinn, in einer Stadt zu wohnen und zu arbeiten, in der drei Wochen lang alle durchdrehen, und dabei drei Wochen lang einen sauren Grind zu machen. Es hat keinen Sinn, und es geht auch nicht. Es wird jetzt, wo alle nahe am Überschnappen sind, auch einfach lustig. In unserem Coop haben sie dekoriert, vor einem Monat. Das Coop-Dekoteam hatte vierzig Quadratmeter Rasenteppich, sechzehn Landesfahnen und einen dicken Edding zur Verfügung. Das Resultat ist grossartig. Und das von Hand zwischen die beiden Rolltreppen gemalte Spielfeld gehört ins Museum. «EM 2008» hat jemand neben die Cornerfahne geschrieben. Oben beim Coop-Kiosk verkaufen sie Blumentöpfe in Fussballschuhform.
Die Zeitungen machen hübsche Beilagen. Die «Weltwoche» präsentiert sechzehn Teamporträts, «geschrieben von der ersten Garde des europäischen Fussballjournalismus». Dazu zählt offenbar auch der Sportchef des französischen «20 Minutes». Und der Italiener, «Star-Autor», schreibt:
«Im Moment wird das italienische Team von den Leuten geliebt wie zu alten Zeiten.» Beim letzten Testspiel gegen Belgien in Florenz wussten nur 12 500 Unentwegte von dieser Hingabe.
Im NZZ-EM-Magazin schreibt der Stilberater über Trikotmode. Eine wunderschöne Doppelseite, die 24 Spieler sauber freigestellt. In der zweiten Reihe, dritter von links, der Uefa-Präsident im Adidas-Trikot, den gallischen Hahn, das alte Logo des französischen Verbandes, auf der Brust. Der Stilberater: «Captain Michel Platini denkt in einem blauen Shirt von Le Coq Sportif über die richtige Strategie nach.»
Auch die Didaktikzeitschrift «Die neue Schulpraxis» beugt sich dem Diktat der Zeit und liefert in ihrer aktuellen Ausgabe eine «Länderkartei zur Fussball-EM» zum Kopieren und Ausschneiden für begeisterte Schülerinnen und Schüler und solche, die es noch werden wollen.
Die Länder werden mit ihren wichtigsten Merkmalen vorgestellt, die es auswendig zu lernen gilt. Das geht dann so: «Deutschland Essen/Trinken: Wurst, Bier», «Schweiz. Bekanntes: Rotes Kreuz, Matterhorn, Roger Federer», «Niederlande. Essen/Trinken: Edamer, Erbsensuppe».
Im Radio spielen sie unterdessen EM-Songs. Vor allem «Bring en hei». Er wird zum erfolgreichsten Schweizer Song aller Zeiten. Die weniger erfolgreichen spielen sie nicht. Obwohl sie besser sind. «Stönd uf» zum Beispiel des Luzerners Johnny Burn, der offizielle EM-Song zum inoffiziellen Sammelalbum des «Tschuttiheft.li»: «Mer stönd uf ond singid au, Köbi, du geili Sau.»
Wer sich die Mühe macht, den Song auf Myspace zu hören, sollte sich auch Johnny Burns beispiellose Ode an das dachlose Fahrvergnügen gönnen: «Ich fahr BMW, Cabe-ri-olé, ohni Dach, ich mach jedi flach, ich schwör, ich schwör, ich schwör.»
Auf meinem morgendlichen Arbeitsweg stehen jetzt überall Zelte. Mit dem Velo kommt man nicht mehr durch. Ab Montag werde ich deshalb zu Fuss gehen. Steige auf dem Hinweg über einen betrunkenen Holländer und umarme dann auf dem Heimweg eine feiernde Tschechin. Das ist gesund und macht glücklich.
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