Knapp daneben: Penalty, Papier, Popanz

Nr. 23 –

Es gibt ja keine fussballlose Zeit mehr. Wenn alles erledigt und entschieden scheint, wird in Dänemark ein Spiel abgebrochen, schlägt Bosnien die Türkei und holt Liechtenstein in Island einen Punkt. Trotzdem: Die gefühlte Zeit ist fussballlos. Erlöst vom täglichen Telegrammstudium, von seitenlangen Nacherzählungen von Spielen, die man in voller Länge gesehen hat, von Tabellen, Analysen, Kommentaren, ist die gefühlte fussballlose Zeit dazu da, all das zu lesen, was der Dringlichkeit des Tagesgeschäfts zum Opfer gefallen ist. Der Stapel ist dick. Ich beginne zuoberst.

«Popanz im neuen Gewand – der schwierige Umgang mit Fussball-Randalierern in Deutschland» heisst ein Text im NZZ-Dossier zu Jugendgewalt. Geschrieben hat ihn der NZZ-Fussballkorrespondent für Deutschland, Stefan Osterhaus. Osterhaus’ NZZ-Texte erscheinen gelegentlich auch in der linken Berliner «tageszeitung», was die NZZ vermutlich weiss, vielleicht aber gerne nicht breitgetreten haben möchte, positionieren sich die beiden Blätter abseits des Fussballs doch recht unterschiedlich. «Popanz im neuen Gewand» skizziert die deutsche Hooligan- und Fussballgewaltszene in einer Differenziertheit, wie sie die NZZ in heimischen Belangen vermissen lässt. Osterhaus schreibt: «Dass repressive Massnahmen allein nicht geeignet sind, dem Problem beizukommen, darin sind sich so ziemlich alle Beteiligten einig.» Er zitiert einen Sprecher des Bündnisses aktiver Fussballfans (Baff), der sich zum gestörten Verhältnis der Fans zu den Ordnungshütern äussert: «Diese Wut hat sich die Polizei in vielen Jahren hart erarbeitet.» Osterhaus dazu lakonisch: «Ob dies das Ergebnis sadistischer Tendenzen oder aber mangelnder Schulung der Beamten ist, sei dahingestellt.» Ebenfalls dahingestellt sei, ob sich die NZZ einen solchen Tonfall auch leisten wird, wenn sie sich das nächste Mal zur Schweizer Szene äussert. Es würde ihre Bergpredigten im Zeichen der Nulltoleranz angenehm auflockern.

«Popanz im neuen Gewand» kommt ins Archiv, zu gut fürs Altpapier. Als Nächstes ein ganzseitiges Inserat, ebenfalls aus der NZZ. Es zeigt im oberen Viertel einen Teil eines Fussballfeldes: Grundlinie, Tor, Fünfmeterraum. Exakt in der Mitte des Fünfers, also zweieinhalb Meter vom Tor entfernt, liegt ein Ball. Darunter steht: «Investment.» Im Tor, hinter der Torlinie: «Hoher Coupon.» Das Bild suggeriert eine Penaltysituation: «Wer investiert, erzielt mit grosser Wahrscheinlichkeit einen hohen Coupon.» So viel verstehe ich. Mehr nicht. «15.00% Julius Baer Triple Ice Units mit Knock-In Schindler / Phonak / Actelion», steht unter dem Bild. Und: «Knock-In-Barrier bei 75.00%. Couponzahlung in CHF. Knapp überjährige Laufzeit.» Ich weiss nicht, ob die Bank Julius Bär den Penaltypunkt absichtlich nach vorne versetzt hat, um die Attraktivität ihres Angebots zu verdeutlichen. Oder ob sie einfach so wenig Ahnung hat wie ich von ihrer dreifachen Eiseinheit. Auf jeden Fall sind solche Fussballbezüge in völlig fussballfremden Bereichen auf eine so asoziale Art anbiedernd, dass sie verboten gehören. Noch vor dem Rauchen. Hoher Coupon, tief in den Müllsack.

Dann das Fifa-Magazin vom April mit Miroslav Klose vorne drauf. «Kunstrasen macht Afrika glücklich», heisst der Titel einer der Geschichten. Ja, wie konnte ich das nur so lange stapeln? Warum habe ich das nicht schon längst der Caritas, der Weltbank, Jean Ziegler geschickt? Was haben wir uns nicht alles ausgedacht, um diesem Elend auf dem schwarzen Kontinent beizukommen. Alles umsonst. Dabei hätten wir nur IHN fragen müssen, Sepp the Ball. Kunstrasen! Gebt ihnen Kunstrasen! Lasst sie drauf spielen, daran nagen, davon trinken! Gebt ihnen Saatgut dazu, lasst sie ernten! Sepp the Ball, im neuen Fifa-Hauptsitz dank Kapelle jetzt auch mit direktem Draht zu seinem Alter Ego, hat es wieder einmal schon immer gewusst. Als ich «Kunstrasen macht Afrika glücklich» gelesen hatte, dachte ich: Schön wären vor den Fifa-Präsidentschaftswahlen 2011 zwei Folien. Eine mit allen afrikanischen Ländern, die einen Fifa-Kunstrasen bekommen haben. Und eine mit allen afrikanischen Ländern, deren Verbandspräsidenten ihre Stimme Sepp the Ball geben werden. Die beiden Folien würde ich dann gerne übereinander legen. Mehr möchte ich dazu nicht sagen, denn wenn Sepp the Ball seine Advocados losschickt, hilft mir nur noch beten, doch in die Fifa-Kapelle lassen sie mich sowieso nicht rein. Für Miro, das glückliche Afrika und die ganzen weiteren Hochglanzseiten heisst es: Recycling einfach. Es bleibt mir ein kaum dünnerer Stapel. Und noch ein guter Monat gefühlte Zeit.