Aus WOZ Nr. 31/91 (2. August 1991):: Kollektive Rede aus sechs Jubelmonaten

Nr. 31 –


Mitbürgerinnen und Mitbürger!

«Die Schweiz ist im Umbruch. Zu Recht zweifeln immer mehr Bürgerinnen und Bürger, ob wir mit den vielen lieb gewordenen Erfolgsrezepten der Vergangenheit die Zukunft meistern können. Das Vertrauen in die staatlichen Institutionen zerfällt, weil man auch dem Staat nicht mehr zutraut, mit den drängenden Fragen unserer Zeit fertig zu werden. Die auseinander strebenden Züge unseres nationalen Lebens zeigen sich in allen Bereichen:

- Früher waren wir mit unserer Armee im Ausland akzeptiert. Heute lacht man über uns.

- Wir Schweizer streben stets nach Unabhängigkeit, Ordnung und grösstmöglicher Selbständigkeit; daraus resultiert zwangsläufig ein chronisches Hickhack im Kleinbürgertum und der Zustand andauernder Unzufriedenheit.

- Die erste Empörung über die «Fichiererei» ist gewichen, doch ist auch das Vertrauen wiederhergestellt? Der Stellenwert des politischen Engagements nimmt laufend ab; Bürgersinn und Gemeinwohl werden zwar wie noch nie in Reden bemüht, gleichsam beschworen - aber wie viele machen noch effektiv mit?

- Im Mief selbstquälerischer Wohlstandsverdrossenheit und existentieller Tempolimiten leidet unser Selbstwertgefühl: Wer sind wir?

Gewiss, die Schweiz steht wie ganz Europa in einem tiefgreifenden Umbruch; aber tatsächlich eignet sich die «Klageweiber-Mentalität», die manche der Kultur(boykott)-Schaffenden kultivieren, schlecht für die Bewältigung der enormen Aufgaben der Gegenwart und der Zukunft. Wir sehen für die Schweiz und in der Schweiz eine Zukunft, nicht obwohl, sondern weil sie in einer Krise steckt. Die Schweiz, ob sie will oder nicht, muss sich anpassen. Ohne dass wir uns im Fluidum der europäischen Geschichte mitbewegten, wären weder die Zivilisierung des Landes durch Rom, später durch die Klöster des abendländischen Mönchtums denkbar noch Reformation und Gegenreformation, weder die moderne Demokratie der Schweiz noch unser Liberalismus, weder die enge Verbindung unserer Landesteile mit dem französischen, deutschen, italienischen Geistesleben noch schliesslich die Prosperität des Landes, die wesentlich auf dem wirtschaftlichen und finanziellen Austausch mit der engeren und weiteren Umwelt beruht. Die Schweiz kann nicht als Sonderfall in ihrer Abkapselung verbleiben und im Abseits, sie muss sich erneut der Weltfamilie anschliessen. Wir sind stolz auf unsere Mehrsprachigkeit und auf unsere Fähigkeit, damit fruchtbar umzugehen; die Schweiz als Modell und Vorbild Europas - doch ist unsere Viersprachigkeit Realität? Welcher Deutschschweizer lernt noch Italienisch oder gar Rätoromanisch, und welcher Romane bemüht sich ums Deutsche? Höchste Zeit, dass alle Studierenden mindestens zwei, besser noch vier Semester in der Welschschweiz absolvieren (die Welschen umgekehrt bei uns).

Was macht den Nationalstaat Schweiz als eigenständiges Gebilde erhaltenswert? Ja, in unserem Land geht die Lethargie so weit, dass nur noch ziemlich radikale Fragen die Bürgerinnen und Bürger aufwecken. Fürs Erste mögen dabei die, die infrage stellen, die «Destrukteure», die Oberhand haben, die Verteidiger indessen auf morsch oder durch die Zeitumstände obsolet gewordenen Bastionen in Schwierigkeiten geraten; aber genauerer Beobachtung kann nicht entgehen, wie da und dort gar Leute, von denen man es nicht erwarten würde, mit etwas verwirrtem Staunen den Wert auch der alten Fundamente als neue Herausforderung wieder entdecken. Gewiss, dieser Staat hat schwierige Momente gehabt, aber verludert ist er nicht. Das Schweizer Haus wird stets im Umbau sein; dennoch müsste es gelingen, den Verfassungsstaat Schweiz noch in diesem Jahrzehnt in seinen Grundfesten so weit zu erneuern, dass wir auf sicherem Boden und mit gestärktem Selbstvertrauen den Schritt ins nächste Jahrhundert wagen können. Tragen wir unserer schönen und sozialen Schweiz Sorge! Trotz allen Widersprüchen, die sie in sich birgt: Ich habe sie gern, weil sie so unvollkommen ist - wie Sie und ich.

Die Schweiz, dieses Mensch!


Die einzelnen Sätze stammen in dieser Reihenfolge von: Thomas Onken (Ständerat SP), Thomas W. Bechtler (Unternehmer), Arnold Koller (Bundesrat), Heinrich Oswald (Ex-Ringier-, Ex-Knorr-Chef), Jörg Zumstein (Korpskommandant), Ernst Schläpfer (Ex-Schwingerkönig), Claudia Schoch (Redaktorin NZZ), René Rhinow (Ständerat FDP), Hans-Ulrich Ernst (Generaldirektor EMD), Kurt Müller (Nationalrat FDP), Jo Lang (Sozialistische Grüne Alternative), Heinrich Hächler (Delegierter des Verwaltungsrates «Tages-Anzeiger»), Fred Luchsinger (Ex-Chefredaktor NZZ), Paul Nizon (Schriftsteller), Peter Saladin (Professor für Staats?, Verwaltungs- und Kirchenrecht), Toni Lienhart (Redaktor «Tages-Anzeiger»), Niklaus Meienberg (Schriftsteller), Thomas Straubhaar (Mitautor des Buches «Schweiz AG»), Hans Saner (Philosoph), Roger Friedrich (Inlandchef NZZ), Marco Solari (Delegierter für die 700-Jahr-Feier), Arnold Koller, Sandra Aegerter (Miss Schweiz), Verena Diener (Nationalrätin GPS), Andreas Simmen (der auch für die Zitatauswahl verantwortlich ist).